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Lajos Kassák und die Zeitschrift ‚MA‘ - Literatur und Ästhetik

Eine alternative Moderne in Mitteleuropa

Im Jahr 1925, also vor genau hundert Jahren, trat Lajos Kassáks Zeitschrift MA („Heute“) in ihre letzte – und wohl bedeutendste – Schaffensphase in Wien ein. Dieses Jubiläum bietet Anlass, den Platz der MA in der Geschichte der europäischen Avantgarde neu zu bewerten und sie mit dem häufig herangezogenen Vergleichsobjekt, dem Bauhaus, zu konfrontieren. Trotz visueller Ähnlichkeiten war Kassáks Projekt nicht nur ein „ungarisches Bauhaus“, sondern ein eigenständiger, mitteleuropäischer Gegenentwurf zur etablierten Moderne.

Lajos Kassák (1887–1967) war eine der vielseitigsten Figuren der ungarischen Moderne: Dichter, bildender Künstler, Typograf, Herausgeber, sozialkritischer Intellektueller. Während des Ersten Weltkriegs veröffentlichte er die Zeitschrift A Tett („Die Tat“), nach dem Zusammenbruch der Räterepublik floh er ins Exil nach Wien und wurde Herausgeber der MA. Sein Einfluss reichte weit über Ungarn hinaus – er war in Wien, Berlin und Paris bekannt und vernetzt.

Die MA, die ab 1920 in Wien erschien, war weit mehr als eine Emigrantenpublikation: Kassák entwickelte sie zu einem visuell innovativen, politisch engagierten Medium, das Montagen, konstruktivistische Typografie und sozialreformerische Inhalte miteinander verband. Er veröffentlichte internationale Autoren wie El Lissitzky, Hans Arp und Theo van Doesburg – und machte die Zeitschrift damit zu einem kulturellen Knotenpunkt der mitteleuropäischen Avantgarde.

Visuell zeigte die MA eine deutliche Nähe zur Frühphase des Bauhauses: geometrische Kompositionen, eine klare Farbpalette (Schwarz–Weiß–Rot), typografische Experimente und die Verwendung von Montage-Elementen kennzeichneten viele Ausgaben. Kassák und László Moholy-Nagy arbeiteten nie direkt zusammen, nutzten aber ähnliche Medien (Fotogramme, Linolschnitte, Collagen) und teilten die Überzeugung, dass Kunst eine gesellschaftliche Funktion erfüllen müsse.

Coverblätter der MA Zeitschrift. Photos: Wikipedia

Doch die Unterschiede sind entscheidend. Während das Bauhaus eine staatlich geförderte Institution mit pädagogischer Struktur in Weimar und Dessau war, blieb die MA ein unabhängiges, redaktionelles Projekt im Exil, das häufig unter prekären Bedingungen operierte. Das Bauhaus verfolgte das Ziel, Kunst und Technologie zu versöhnen, mit Fokus auf industrielles Design, Funktionalität und universelle Formensprache.

Kassák hingegen verstand Kunst als Werkzeug gesellschaftlicher Aufklärung. Für ihn war die ästhetische Form kein Selbstzweck, sondern Mittel zum politischen Bewusstseinswandel. Während das Bauhaus auf die Maschine und das Material setzte, glaubte Kassák an die kollektive Autonomie und die gestalterische Kraft einer politisierten Arbeiterschaft. Nicht Design für den Markt, sondern Gestaltung für die Gemeinschaft war sein Credo.

Die Rezeption der MA und Kassáks internationale Sichtbarkeit blieben fragmentiert. In Ungarn wurde er in der Zwischenkriegszeit wegen seiner linken Haltung marginalisiert, im Sozialismus galt er als zu westlich. Im westlichen Kunstkanon blieb er ein Randphänomen – nicht wegen mangelnder Qualität, sondern weil seine Praxis nicht in das Narrativ der „großen Institutionen“ passte.

Heute – hundert Jahre später – ist deutlich: Kassák war kein ungarischer Bauhäusler, sondern Schöpfer einer alternativen Moderne. Er baute keine Schule, sondern schuf ein visuelles Vokabular. Er lehrte nicht, sondern redigierte, agitierte und komponierte mit Schrift und Bild. Die MA war kein Lehrplan – sie war eine Redaktion, eine kulturelle Intervention, ein visueller Aufruf.

Kassáks Werk dokumentiert eine Form der Moderne, die unabhängig vom westeuropäischen Kanon entstand. Gesellschaftlich engagiert, visuell radikal und international vernetzt: Die MA war eines der konsequentesten und zugleich meistübersehenen Beispiele einer mitteleuropäischen Avantgarde.

Wenn Europa 2025 das Erbe des Bauhauses feiert, sollte es auch an jene erinnern, die außerhalb offizieller Institutionen, auf Redaktionspapier und in Exilwohnungen an einer eigenen Moderne arbeiteten. Die MA und Kassák Lajos gehören zu diesen Stimmen – unbequem, eigenständig, und immer noch aktuell.

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