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(c) Pester Lloyd / 35 - 2011  WIRTSCHAFT 29.08.2011

 

Armutszeugnis

Regierung in Ungarn plant "Reichensteuer" und setzt Mindestlohn außer Kraft

Um neue Budgetlöcher zu stopfen, nicht um soziale Ungerechtigkeiten auszugleichen, will Ungarn Besserverdiende mit einer "Solidaritätssteuer" belegen. Gleichzeitig wurde per Dekret der Mindestlohn für die zwangsverpflichteten Teilnehmer an öffentlichen Beschäftigungsprogrammen außer Kraft gesetzt. Damit schafft das Land amtlich ein Prekariat und forciert soziale Spannungen. Das Grundproblem ungerechter Lastenverteilung durch zu wenig echte Arbeit bekommt sie so nicht in den Griff.

Hält sich für unfehlbar und Schuld sind immer die anderen. Hier mehr dazu.
Die ungarische Staatsspitze: Parlamentspräsiden László Kövér, Premier Viktor Orbán und Staatspräsident Pál Schmitt am Nationalfeiertag des 20. August vor dem Parlament, v.l.n.r.

Als Reaktion auf die verschlecherten Prognosen für den Staatshaushalt, den Unmut über die soziale Unausgewogenheit der Einkommenssteuerreform und aus politischen Kalkül, formulierten Abgeordente der Regierungsparteien, vor allem der KDNP, die Idee einer "Solidaritätssteuer" für den wohlhabenderen Teil der Bevölkerung. Noch sind die Details einer solchen "Reichensteuer" nicht ausgearbeitet, doch geht man davon aus, dass sich all jene, die jährlich mehr als 6 Millionen Forint (ca. 22.000 EUR) Einkommen haben (der statistische Schnitt liegt bei 2,4 Mio. HUF) auf "zeitlich befristete Sonderabzüge" einstellen müssen.

Flat tax ist gescheitert

Die rund 40-50 Mrd. Forint (rund 180 Mio. EUR), die das theoretisch jährlich einbringen könnte, werden aber nicht den 70% der arbeitenden Bevölkerung zu Gute gebracht, die durch die "Superbrutto"-Regelung und die unsoziale Bemessungsgrenze der Flat tax heute weniger Einkommen haben als früher, sondern sollen direkt in den Staatshaushalt wandern und dort eine 100 Mrd-Forint-Lücke schließen, die entstanden ist, weil die übertrieben optimistischen Projektionen der Regierung für Wachstum, Arbeitsmarkt und Steuereinnahmen - wie von Experten erwartet - nicht eintraten. Hier mehr dazu.

Verkauft wird die Sache freilich anders, wie stets, mit einem patriotischen Anstrich, von nationaler Verantwortungspflicht, Bereitschaft für die Gemeinschaft einzustehen, Heimatliebe und Solidarität ist im Entschließungsantrag der "christsozialen" Anhängselpartei des Fidesz die Rede. Dabei handelt es sich jedoch um das Eingeständnis, dass die "proportionale Besteuerung" der "radikalen Steuererleichterung", wie die Flat tax von der Regierung bezeichnet wird, weitgehend gescheitert ist. Sie kam viel zu früh, wirkt weder sozial ausgleichend noch ist sie ungerecht und bescherte dem Staat in den ersten sieben Monaten des Jahres bereits Steuermindereinnahmen von 800 Milliarden Forint, Ausfälle, die er sich nicht leisten kann und anderer Stelle schmerzhaft wieder wettmachen muss. Ironischerweise werden nun viele derjenigen, die zuerst und proportional am meisten von der neuen Flat tax bevorzugt wurden - der kleine, aber besonders umworbene Mittelstand - ihre Einkommenszugewinne über die Solidaritätssteuer wieder verlieren.

Symbolistische Aktionen haben in Ungarn Hochkonjunktur. Hier das “Brot der Nation”, der neueste Schlager aus dem Patriotenkabinett, gebacken aus dem Korn des “ganzen Ungarn”, Vollkorn sozusagen. Mit der sonstigen Konjunktur sieht es nicht so rosig aus, daher geht die wilde Um- und Hin- und Herverteilung immer weiter.

Hinzu kommt, dass die vollständige Umsetzung der Flat tax von 16% auf alle Einkommen in weitere Ferne rückt. Trotz Solidaritätssteuer und den Beteuerungen aus dem Regierungslager, dürfte die Abschaffung des sogenannten Superbruttos ab 2012 auf der Kippe stehen. Superbrutto bedeutet, dass zum Bruttoeinkommen des Arbeitnehmers der Arbeitgeberanteil an den Sozialabgaben mit auf die Steuerbasis angerechnet wird. Damit wird das zu versteuernde Einkommen um heuer (durchschnittlich) 27% erhöht, was den Steuersatz von 16% zu einer Chimäre macht. Es war geplant, diesen Aufschlag ab 2012 zu halbieren und dann ganz abzuschaffen, doch die Haushaltslage wird das unmöglich machen, wenn man nicht noch weitere Sondersteuern (es existieren solche bereits für Energie-, Telekom- und Handelskonzerne, die Finanzwirtschaft, auf "ungesunde" Lebensmittel) einführen will.

Konkrete Entwürfe und eine Debatte dazu soll es ab Mitte September geben, wenn die Parlamentssitzungen wieder in Gang gekommen sind.

Mindestlohn ist de facto abgeschafft

Weniger Einnahmen für den Staat können durch geringere Ausgaben kompensiert werden. Geld eingespart werden soll nun vor allem dadurch, dass man die "Menschen in Arbeit bringt", wir berichteten bereits über das umfassende und umstrittene öffentliche Arbeitsbeschaffungsprogramm der Orbán-Regierung. Hierbei wurde nun - ohne Konsultation und vorsichtiges Herantasten an die Betroffenen wie bei der "Reichensteuer" - am letzten Mittwoch per Dekret festgelegt, dass zur Arbeit verpflichtete Sozialhilfeempfänger, vom gesetzlichen Mindestlohn ausgenommen werden. Im wahrsten Sinne also ein Armutszeugnis, denn damit hat die Regierung nicht weniger getan als die amtliche Schaffung eines Prekariats, ähnlich den 1-Euro-Jobbern in Deutschland, allerdings mit weiterreichenden und deutlich rigideren Verpflichtungsmöglichkeiten und der Androhung der Komplettstreichung der Sozialhilfe. Diese Drohung gilt nicht nur für die vielen verwahrlosten Roma in den ärmsten Gegenden des Landes, die sich zum Teil bereits des "Dienstes an der Gemeinschaft" befleißigen müssen, sondern auch für Zigtausende Frührentner, die per Gesetz zu Sozialhilfeempfängern umdeklariert werden sollen.

Die Verdienstgrenzen für "öffentliche Arbeit" unter dem neuen Gesetz wurden auf 57.000 bis 78.000 Forint pro Monat festgelegt (rund 210 bis 290 EUR). Die Abstufungen gelten dabei nicht einmal für die Art der Arbeit, sondern lediglich für die Qualifikation des Beschäftigten. Der "gesetzliche" Mindestlohn in Ungarn beträgt 78.000 Forint monatlich für Hilfsarbeit, 94.000 Forint für Arbeit, die eine fachliche Qualifikation voraussetzt. Dieser wurde damit aufgehoben, denn über staatliche Vermittlungsagenturen erhält, gegen eine Leihgebühr, auch die Privatwirtschaft Zugriff auf diese "human resources". Absurderweise verlangt die Regierung jedoch von dieser, die Löhne für diejenigen anzuheben, die nicht von der Flat tax profitieren (die meisten) und droht Weigerern mit dem Entzug von öffentlichen Aufträgen. Auf der anderen Seite bietet sie jedoch der Wirtschaft Billigstlöhner feil - Planlosigkeit ist dafür noch ein freundliches Wort.

Roma in dem berühmt gewordenen Ort Gyöngyöspata bei “kommunaler, gemeinnütziger Tätigkeit”, in orangefarbener “Dienstkleidung”. Wer nicht mitmacht, erhält keinerlei staatliche Stütze mehr, egal wie sinnlos die Arbeit, wie maßlos die Arbeitsbedingungen auch sein mögen. In selbem Ort ließ sich übrigens kürzlich eine bayerische Reisegruppe vom neugewählten Bürgermeister “herzlich” empfangen, mit Pálinka und Folkloredarbietung. Der Bürgermeister, Oszkár Júhász, ist Mitglied der neofaschistischen Jobbik, jener Partei, die für die monatelangen, militaristischen Aufmärsche hier mitverantwortlich war. Mehr dazu hier: http://pusztaranger.wordpress.com/2011/08/26/kahler-zensor-besatzungsmacht-ein-pfau-in-pecs-win dberger-delegation-in-gyongyospata-presseschau-19-26-8-2011/

Gewerkschaften und Bürgerrechtsgruppen in Ungarn sammeln sich derzeit, um gegen diese Entrechtung vorzugehen, bei ihnen steht jedoch vor allem die Schaffung eines neuen Arbeitsrechtes im Zentrum der Kritik, Arbeitslose und Sozialhilfeempfänger haben, wie anderswo auch, kaum eine wirkliche Lobby. Péter Pataky, Chef der "linken" Konföderation MSZOSZ, kritisierte die Doppelstandards als menschenverachtend, der einflussreiche Chef der "unabhängigen" Konföderation LIGA, István Gaskó, warnt vor "Verfassungskonflikten", da der Grundsatz "gleicher Lohn für gleiche Arbeit" ausgerechnet vom Staat verletzt wird. Beide kritisierten, dass die Regierung - einmal mehr - jeden Dialog mit den Gewerkschaften über die Sache vermieden hat.

Die Regierung ließ über ihre Sprecherin ausrichten, dass man die "Arbeitslosen lediglich zur Aufnahme von Arbeit ermutigen wolle, man wolle sie qualifizieren und zur Rückkehr in den ordentlichen Arbeitsmarkt bringen." Dabei enthalten die "öffentlichen Arbeitsangebote" so gut wie keine Qualifizierungsmaßnahmen oder Rücksichten auf den Ausbildungsgrad oder gar die Wünsche der Betroffenen. Die Regierungssprecherin wies auch darauf hin, dass es bei der Entlohnung um einen Betrag handelt, der oft deutlich über der bisherigen Sozialhilfe liegt.

Interessant dürfte in diesem Zusammenhang die derzeit in Deutschland für Aufsehen sorgende Klage einer Betroffenen gegen die Arbeitsagentur sein, die für einen 1-Euro-Job als Putzkraft den gleichen Lohn wie ihre Kolleginnen einfordert und dafür erste positive Bescheide seitens der Rechsprechung bekam. Es scheint notwendig, dass in der Frage der diskriminierenden Unterbezahlung von vom Staat Abhängigen ein Grundsatzurteil auf EU-Ebene hermuss, um die Regierungen wieder zur Besinnung zu bringen.

Denn die Absicherung des Existenzminimums der Bevölkerung ist zwar eine teure, aber - eingedenk beträchtlicher Verbesserungsmöglichkeiten - eine grundlegende Pflicht des demokratischen Staates gegenüber seinen Bürgern, die diesen "Service" letztlich auch finanzieren. Seine Aufgabe ist es nicht, die Menschen das Fürchten zu lehren und in perspektivlose Zwangsbeschäftigung zu stecken, sondern Ansporn, Räume und Mittel (Bildung!) für Entwicklungen zu geben, die ein würdige und frei bestimmte Existenz im Einklang mit den Erfordernissen der Gemeinschaft ermöglichen. Ein Grundsatz, den diese Regierung durch ihre aktuellen Maßnahmen weiter außer Acht lässt und mit ihrem allumfassenden Mandat, frei von jeder Art von Selbstreflexion, gar -kritik, rechtfertigt.

red.

 

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