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(c) Pester Lloyd / 28 - 2017      POLITIK      15.07.2017

Europa oder Orbán: EU-Verfahren gegen Ungarn als wirkungslose Propaganda-Vorlagen

Mit 57 eröffneten oder anhängigen Vertragsverletzungsverfahren allein im Jahre 2016, stellte Ungarn einen neuen 5-Jahres-Rekord auf. Doch nicht die schiere Zahl an Verfahren - Ungarn liegt dabei im EU-Mittelfeld - ist bedenklich, sondern die Schwere der Sachverhalte, die sie behandeln. Was die Kommission als Vertragstreue einfordert, stilisiert die Orbán-Regierung zu einem epischen Krieg um die Unabhängigkeit Ungarns. Die Verfahren bleiben wirkungslos, das könnte sich nun ändern.

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Bei Lex CEU, NGO-Gesetz und Asylpolitik (
Links zu den Details in diesem Beitrag) geht das Ringen zwischen Vertragsverletzern und -verteidigern in die nächste Phase. Die Verfahren handeln nicht von einer nicht beachteten Kommastelle bei einem Steuersatz oder einer zu spät umgesetzen Glühbrinenrichtlinie, sondern von der Freiheit der Bildung, der Versammlungsfreiheit und den Menschenrechten. Ungarn inszeniert sich dabei als Verfolgten, "unser Schicksal" hänge vom Ausgang der Verfahren ab und nennt alles eine "Hexenjagd von Sozialisten in Brüssel", die "Schauprozesse" veranstalten. Ja, die Kommission würde an Ungarn ein Exempel statuieren und dabei ihre Kompetenzen ausweiten, um die Mitgliedsländer - vertragswidrig - zu entmachten, wohinter natürlich ein höherer Plan stehe, "Soros" soll hier als Stichwort genügen.

Die EU-Kommission sieht die Sache nüchtern. Sie versucht mit den umständlichen, langwierigen und am Ende häufig wirkungslosen Verfahren nicht nur die EU-Verträge zu verteidigen, sondern auch den Rechtsstaat in Ungarn irgendwie zusammenzuhalten. Während Ungarn dabei alle erdenklichen Tricks anwendet, die Kommission belügt, hinhält, hintergeht, Diffamierung eingeschlossen, ist die Kommission an die Verfahrenswege und -fristen gebunden und ihr bleibt am Ende nur das Verschicken von Briefen, begründeten Stellungnahmen, Strafen, die am Ende wie auf dem Basar verhandelt werden oder der Gang zu den EU-Gerichten, die die Sache noch weiter in die Länge ziehen, bis die kritisierten Gesetze längst etabliertes Recht oder formal so angepasst wurden, dass sie materiell nicht mehr greifbar sind.

Ein Ungleichgewicht der Waffen, das Orbán in die Hände spielt, eine Schwäche der Union, die den Demokratie- und Europafeind in Budapest bisher vor größerem Ungemach oder gar dem Super-GAU eines Mittelentzugs bewahrten. Noch,
wir berichteten bereits hier,  dass sich der Wind in Brüssel allmählich zu drehen scheint und der politische Wille wächst, die Macht der EU gegen ihre Zerstörung durch Mitgliedsländer zu stärken. Vor allem die Europäische Staatsanwaltschaft und das Rechtsstaats-Monitoring mit einem am Ende denkbaren Artikel-7-Verfahren sowie die Forderung, die Vergabe von EU-Geldern direkt an die Einhaltung rechtsstaatlicher Grundsätze zu knüpfen, brächten, so sie denn wirksam realisiert werden, Orbán nicht nur in Bedrängnis, sondern sein Regime in existentielle Gefahr.

Bis dahin wird noch viel Wasser die Donau hinunter laufen. Derzeit schlägt sich die Kommission mit Dutzenden Verfahren gegen Ungarn herum, die sich um Verstößge gegen die EU-Richtlinien für öffentliche Ausschreibungen drehen. Seit 2014 nämlich  hat es sich eingebürgert, dass diese in Ungarn immer öfter nur noch einen Bieter aufweisen, im Vorjahr betraf das fast 40% aller Tender um EU-Projekte. Nicht nur ein Verstoß gegen EU-Recht, auch ein klarer Hinweis auf eine organisierte Kleptokratie. Die Sache läuft meist so, dass ein Günstlingsunternehmen eine Runde unverdächtiger, gerne auch ausländischer Unternehmen mit einem "Angebot, das man nicht ablehnen kann" zu einem Konsortium schmiedet und so den Auftrag an Land zieht. Wer als Unabhängiger antritt, hat keine Chance, weshalb es gar nicht erst versucht wird.

Die Infragestellung der Zuständigkeit der Kommission, einschließlich der Kompetenz der EU-Gerichte, mithin die Politisierung von Vertragsverletzungsverfahren, zieht sich wie ein roter Faden durch die Abwehstrategie der Regierung. Am Donnerstag behauptete Orbáns Kabinetsschef, Minister Lázár, dass die Verfahren - vor allem jenes um die Asylpolitik, "das Schicksal des Landes über Jahre bestimmen könnten". Ansonsten sei alles nicht so schlimm, "12 Länder haben mehr Verfahren laufen als Ungarn". Doch in der Asylpolitik gehe es nicht um die EU-Verträge, sondern darum, dass "die EU versucht, Einwanderung zu organisieren und die Tore zu öffnen, Ungarn aber wird dafür sorgen, dass sie zu bleiben und Einwanderung gestoppt wird."
 
Neben der
EU-Staatsanwaltschaft fürchtet Ungarn nun auch noch die geplante Einrichtung einer Europäischen Einwanderungsbehörde, natürlich "eine Idee von George Soros", so Lázár. Während die progressiven, gemeinschaftlich denkenden Mitgliedsregierungen in diesen einen Schritt vorwärts zu mehr Solidarität und Gerechtigkeit sowie mehr Effizienz bei der Lösung der drängensten Fragen der EU - Einwanderung, EU-Gelder - sehen, fürchtet Ungarn "den weiteren Entzug von Rechten", vor allem jenem, "selbst entscheiden zu können, wer auf unserem Territorium leben darf."

Die EU-Kommission, die durch die letzte "Nationale Konsultation" in Ungarn so schwer diffamiert wurde, dass selbst den sonst geduldigen Technokraten in Brüssel der Kragen platzte und sie Budapest eine Gegendarstellung übersandten, die sich gewaschen hat, geht ihren Weg indes unbeirrt weiter und zündete die zweite Stufe der Verfahren wegen der Lex CEU, dem Anti-NGO-Gesetz und dem Asyl- und Grenzregime. Ungarn muss auf die angemahnten Vertragsverstöße nun so reagieren, dass sich Hüter der Verträge damit einverstanden erklären, sonst geht es vor Gericht.

Fidesz wird es darauf ankommen lassen, denn bisher steht der Beweis aus, dass die Kommission oder die EU-Gerichte durch ihre Entscheidungen irgendetwas Substantielles an Demokratie- und Rechtsstaatsabbau in Ungarn verhindern konnten. Ja, es ist sogar so, dass die in ihren Konsequenzen harmlosen Verfahren der Kommission als Propaganda-Vorlagen und Stichwortgeber für die Opfermythen, Stellvertreterkriege und Sündenbockkapmagnen des Orbán-Regimes dienen, das im Schatten der Volksverarsche vom Unabhängigkeitskampf seinen systematischen Raubbau an Demokratie und Volksvermögen umso ungestörter fortführt.

Das wird so lange so bleiben, bis sich die EVP endlich von dem Europa- und Demkratiefeind Orbán abkoppelt, die EU Orbán den Geldhahn zudreht und das Land seine Stimmrechte suspendiert, bis es sich an die Normen der Gemeinschaft hält, der sie freiwillig, legitimiert durch eine Volksabstimmung beigetreten ist und aus der über zwei Drittel der Ungarn auch nicht austreten wollen. EU oder Orbán. Beides geht nicht.



 

Für "ethnische Selbstverteidigung", den Schutz der "weißen, europäischen Rasse" und ihrem “Lebensraum” sowie gegen "Einwanderer und Zigeuner" schlossen sich am Samstag in Budapest drei rechtsextreme Gruppierungen zu einer neuen Bewegung namens "Kraft und Entschlossenheit" zusammen. Rund 300 Teilnehmer fanden sich in Vecses, unweit von Budapest zusammen, um eine "neue rechte Partei" ins Leben zu rufen, die sich gegen "Liberalismus und politische Korrektheit" stellt, die "Europa zu einem lebensfeindlichen, schutzlosen Ort" gemacht hätten.

Die Gründung dieser neuen Bewegung, ein Dreiviertel Jahr vor den anstehenden Parlamentswahlen hat auch mit der von Rechtsextremen "Verweichlung" der Partei Jobbik zu tun, die sich - aus Kalkül auf "bürgerliche" Wählerschichten - in letzter Zeit deutlich zahmer gibt (wenn sie im Grunde auch weiterhin neonazistischen Agenden folgt) und vielfach von Orbáns Fidesz rechts überholt wurde, was den radikalen Flügeln in der Partei und assoziierten Organisationen gar nicht passte. Jobbik ringt mit der MSZP seit Jahren um den Rang der zweitstärksten politischen Kraft im Land und hat gute Aussichten, 2018 bis zu einem Viertel der Stimmen einzusammeln. Die Gründung der neuen Bewegung könnte Jobbik einige wichtige Prozente kosten.

red.

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