(c) Pester Lloyd / 02 - 2012
POLITIK 11.01.2012
Rückgrat der Demokratie
Verfassung und Kardinalsgesetze: ein Essay vom Vizepremier von Ungarn
Die Ungarn werden freier sein als die Amerikaner und im Gegensatz zu ihren Kritikern sind die neue ungarische Verfassung und die Politik der Regierung frei von
Ideologie. Vizepremier und Justizminister Navracsics schreibt in seinem "Essay" von der neuen Verfassung als dem "Rückgrat der Demokratie" und würdigt die Installation
der Kardinalsgesetze als "Vollendung der Erneuerung Ungarns."
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Ungarns Verfassung und die Kardinalgesetze als Vollendung der politischen, institutionellen und geistigen Erneuerung Ungarns: Ein Essay von Tibor Navracsics,
Stellvertretender Ministerpräsident Ungarns und Minister für Öffentliche Verwaltung und Justiz:
Ich schrieb bereits im November auf Conservative Home über die demokratische
Entwicklung in Ungarn, als Antwort auf die Vorwürfe, Ungarn würde von seinem Bekenntnis zu europäischen Werten abrücken. Es ist wichtig, dass die große konservative
Familie die Veränderungen, die wir in der ungarischen Gesellschaft vornehmen und ihre Gründe kennt.
Ich bin der Ansicht, dass es nicht das Standard-Demokratie-Modell gibt, sondern viele
Formen und Varianten existieren, die sich ständig verändern und anpassen, um die Herausforderungen der Zeit zu meistern. Wären Demokratien nicht in der Lage sich an
die wechselnden Realitäten anzupassen, hätte sich die Regierungsform nicht zu erfolgreichsten der letzten Jahrhunderte entwickelt.
Der 1966 geborene Tivor Navracsics hat einen Abschluss als Jurist und einen Doktor in
Politikwissenschaften und war zunächst als Dozent und Assistenz-Professor tätig, in der ersten
Regierung Orbán (1998-2002) war er als Chef der Kommunikationsabteilung in unmittelbarer Nähe des
Premiers tätig, danach war er Chefideologe des Fidesz und leitete den Stab um Oppositionsführer und
Parteichef Orbán. Seit 2006 ist er über die Komitatsliste Veszprém mit einem Fidesz-Mandat im Parlament vertreten und war jahrelang Fraktionschef, seit 2010 ist er Minister für Justiz und
öffentliche Verwaltung und Vizepremier.
(...) Hinischtlich der Verfassung und der "Kardinalsgesetze" ist der historische Kontext
wichtig: Unsere neue Verfassung oder Grundgesetz, ist in Kraft getreten am 1. Januar 2012 und ersetzt die "provisorische Verfassung", die von den Kommunisten 1949
eingeführt wurde. Diese beraubte die ungarischen Bürger ihrer Freiheit, installierte eine Einparteiendiktatur und machte Ungarn zu einem Lehen des Sowjetreichs.
1989 erlangten wir unsere Unabhängigkeit, aber wir schufen uns keine Verfassung. In den
Wirren nach dem Zusammenbruch des Kommunismus behielt das ungarische Parlament die kommunistische Verfassung bei. Veränderungen wurden hinter verschlossenen Türen wie
auf dem Viehmarkt abgemacht, jedoch ohne eine öffentliche Debatte oder eine Konsultation mit dem Volke.
Wir empfehlen zu Einordnung dieses Statements, das die
wesentlichen Argumentationsketten der Regierung, für das Ausland lediglich um die sonst üblichen national-religösen Ausschmückungen bereinigt, darstellt, auch die Stimme des Ex-Präsidenten
László Sólyom, Konservativer und ehemaliger Präsident des
Verfassungsgerichtes und einer der Hauptautoren der "provisorischen" Nachwendeverfassung sowie die Kritik von Ex-Premier Gordon Bajnai, der als parteiloser Chef einer sozialistischen Minderheitsregierung 2009/2010 die
Krisenlösung versuchte und sich derzeit mit seinem neuen Politikinstitut "Heimat und Fortschritt", dem auch Minister seines damaligen Kabinetts
angehören, wieder in die politische Debatte einbringt, noch mit unerklärtem Ziel.
Noch radikaler in seiner Kritik ist der offene Brief ehemaliger
Dissidenten der Vorwendezeit, unter denen auch
Verantwortungsträger der sozial-liberalen Regierungen und bekannte Intellektuelle zu finden sind, sowie die sendungsbewussten Einlassungen
des heutigen, von Orbán installierten Präsidenten Pál Schmitt.
Unsere
Bewertung der neuen Verfassung haben wir u.a. hier zusammengefasst, eine
Themenseite begleitete den Entstehungsprozess der neuen Konstitution, aktuell ergänzt durch ein
"Sündenregister" der Orbán-Regierung, das die meisten Politikfelder abdeckt und sich in einem Schnelldurchlauf vor allem mit den konkreten Wirkungen neuer Gesetze und Maßnahmen beschäftigt.
Der Text der neuen Verfassung
in deutscher Sprache steht hier zum Download bereit.
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Es war der Wählerschaft 2010 daher ein absolutes Anliegen, dass ein neues Grundgesetz gebraucht wird,
dass die Grundregeln der Beziehung zwischen der Bürgergesellschaft und dem Staat klar aufstellt. Genau das haben wir geliefert. Wir hofften auf die
Kooperation unserer Gegner im Parlament, weil wir uns bewußt darüber sind, dass eine Verfassung einen nationalen Konsens repräsentieren sollte und nicht
eine parteipolitische Ideologie. Unglücklicherweise boykottierten die Sozialisten im Parlament die Verfassungsdebatte und machten in jedem Punkt deutlich, dass sie keinen Konsens wünschen.
Die Leser dieses Blogs werden wissen, dass
Konservative Gegenstand systematischer Dämonisierung durch ihre Gegner sind und die Reaktionen der liberalen Journalisten gegen jede Politik oder Denkweise, die als rechts eingeordnet
werden kann, reflexartig ausfällt. Wir vom Fidesz mussten dies erdulden, nicht trotz unserer Beliebtheit, sondern wegen ihr. Das intellektuelle Establishment in meinem Land hat starke
internationale Netzwerke, die in der Lage sind, uns zu diskreditieren. Und so wurde unsere neue Verfassung bei jeder Gelegenheit als "Machtaneignung" dargestellt und verdammt. Das
sollten jene bedenken, die sich die Mühe machen, das Dokument zu lesen.
Wir waren und der Gefahren bewusst, die beim
Versuch entstehen können, alle aus den Jahren der kommunistischen Diktatur geerbten strukturellen Probleme in einem Dokument und in einer Diskussionsrunde zu lösen. Aus diesem Grunde
schufen wir das Mittel der "Kardinalgesetze", die einer zwei Drittel-Mehrheit des Parlaments für ihre Entfernung bedürfen. Diese Gesetze werden erst
nach weiterer Debatte eingeführt. Entgegen den Vorwürfen unserer Gegner, sind sie nicht dafür geschaffen, eine bestimmte Ideologie oder politische
Doktrin festzuschreiben, sondern Angelegenheiten von andauerndem öffentlichen Belang zu regeln, die von allen Ungarn als solche anerkannt werden.
Man muss bedenken, dass viele Sachverhalte, die in
Großbritannien durch langjährige Vereinbarungen oder tief verwurzelte Gesetze geregelt sind, in Ungarn nie wirklich diskutiert oder
entschieden wurden, unabhängig ihrer Wichtigkeit für die Zukunft des Landes. Darunter fallen zum Beispiel die Gesetze für die Parteienfinanzierung, den Schutz der nationalen
Minderheiten, die Schaffung von Kontrollbehörden, die Regulierung über die Gerichte, die Aufteilung der Zuständigkeiten zwischen Zentralregierung und Kommunalverwaltung oder
auch der steuerrechtliche Status der Kirchen. Wir betrachteten solche Angelgenheiten immer als heikel und als voneinander unabhängige Fragen, doch sind sie doch abhängig
von einem einheitlichen konstitutionellen Rahmen, der die Wechsel von Regierungen überdauert.
Daher haben wir beschlossen sie durch Kardinalsgesetze zu steuern, die durch das
Parlament nach Besprechung jeder einzelnen Angelegenheit, beschlossen werden. Wir glauben, dass ein unvoreingenommener Beobachter beim Blick auf unsere Verfassung mit
uns übereinstimmen wird, bei welchen Angelegenheiten ein zusätzlicher Schutz (durch die Verfassung, Anm.) angebracht ist und welche Bereiche der meandernden Strömung der
Politik überlassen werden kann.
Natürlich, ist die Anzahahl solcher Gesetze zu hoch, kann das als Gefährdung der
Demokratie gesehen werden, weil die Kardinalsgesetze so eine hohe Hürde zur Abänderung haben. Doch bedenken wir, dass alle Verfassungen als Bremse der
Gesetzgebung wirken, das ist ihre Aufgabe. Die amerikanische Verfassung mit ihren weitreichenden Zusätzen und ihren Präzedenzfällen aus 200 Jahren durch ein Gericht aus
ungewählten Richtern, hat die Freiheiten der amerikanischen Bürger weit mehr eingeschränkt, als wir das für die langfristigen Zukunft Ungarns vorgesehen haben.
Die entscheidende Frage ist die nach der Balance: Bis zu welcher Grenze sind die
Bestimmungen der Verfassung durch die Macht der Gesetzgebung ausgeglichen? Wir versuchen hier das optimale Maß zu finden, obwohl wir feststellen mussten, dass die
Situation, die wir vorfanden radikale Maßnahmen erfordert, wenn Ungarn seinen ihm zustehenden Platz in den Demokratien Europas einnehmen will.
In diesem Sinne wird das neue ungarische Grundgesetz als Rückgrat der ungarischen
Demokratie dienen; und die Kardinalsgesetze werden die politische, institutionelle und geistige Erneuerung des Landes vollenden. Die Regierung zieht einen klaren Strich unter
die postkommunistische Periode der letzten 20 Jahre.
Ungarn und Mitteleuropa erleben dramatische Veränderungen. Auf dem Spiel steht der Glauben der
Bürger, dass der Staat und die demokratischen Institutionen seinen Interessen dienen und öffentliche Gelder verwendet werden, um das Leben der Bürger zu verbessern, durch
einen qualitätvollen öffentlichen Dienst, unabhängige Richter, verantwortliche Beamte und stabile Institutionen. Um das zu erreichen, bedarf es innovativer Politik, die der neuen
ökonomischen Realität gerecht wird. Weil die politischen Kompromisse und der Verfassungsrahmen von 1989 es nicht geschafft haben ein effizientes Regieren zu
ermöglichen, sind die alten Politikmuster nicht in der Lage ein nachhaltiges Wachstum in der Wirtschaft zu erreichen.
Nicht eine einzige Entscheidung dieser Regierung oder ihrer parlamentarischen Mehrheit
ist gegen unsere Werte gerichtet, die in der menschlichen Freiheit wurzeln. Versuche, die Regierungsmaßnahmen als Schritte zur Minderung der Demokratie darzustellen,
reflektieren eine ideologisch gesteuerte Denkweise. Als mitteleuropäisches Land hat Ungarn gelernt, welche tragischen Konsequenzen ideologische Denkweisen haben können."
Erstveröffentlicht auf dem Blog conservativehome.blogs.com und publiziert auf der
offiziellen Webseite der Regierung. Übersetzung ins Deutsche: Pester Lloyd.
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