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(c) Pester Lloyd / 07 - 2012      POLITIK 13.02.2012

 

Kindergartendiplomatie

Ringen zwischen Ungarn und EU geht weiter - LEITARTIKEL

Nach Barroso ist nun auch, der ebenfalls aus dem konservativen bzw. rechtsliberalen Lager stammenden EU-Kommissarin Neelie Kroes der Kragen beim Thema Ungarn geplatzt. Bei einer Anhörung am Donnerstag machte sie Vizepremier Navracsics ziemlich rabiat klar, dass man die Regierung in Budapest nicht mehr mit Taktiererei und Kosmetik durchkommen lassen wird. Die versucht es trotzdem und bleibt bei ihrem doppelten Spiel. Am Ende könnte womöglich ausgerechnet der IWF zum "Retter" der Demokratie in Ungarn werden, worin sehr finstere Ironie steckt.

Die EU versucht weiter, den Mangel an wirksamen Instrumente gegen Rechtsstaats- und Demokratieabbau, im Mitgliedsland Ungarn, durch eine Kombination der vorhandenen Werkzeuge auszugleichen. Dabei geht es manchmal etwas sprunghaft zu, wie eine Anhörung am Donnerstag in Brüssel zeigte. Doch zunächst der Stand der Dinge:

Ungarns Vizepremier Tibor Navracsics bei Eu-Kommissarin Neelie Kroes in Brüssel

- Hinsichtlich der drei Vertragsverletzungsverfahren ist eine "angemessene" Antwort aus Budapest bereits und "vorfristig" auf dem Weg, heißt es aus Budapest, Stichtag ist der 17. Februar. Diese enthält einige Kompromissvorschläge, wie weiter unten auszuführen sein wird. Danach prüft wieder die Kommission, ist sie unzufrieden, geht die Sache vor Gericht.

- Das Defizitverfahren ist in die zweite von drei Stufen eingetreten, erfüllt Budapest die Forderungen hinsichtlich der strukturellen Defizite nicht sehr bald, könnten die EU-Milliarden aus dem Kohäsionsfonds ab 2013 eingefroren werden. Das dramatische hier: der IWF und dessen Milliarden koppelten sich an einen Persilschein aus Brüssel, was die Sache zum zentralen Knackpunkt macht.

- Zudem hatte die EU-Kommission nach den letzten Erfahrungen mit der Orbán-Regierung angekündigt, die gesamte neue Gesetzgebung des Landes auf EU- und Grundrechtsskonfomität zu checken, einschließlich der Verfassung und ihrer 32 Kardinalsgesetze. Budapest sollte also darauf gefasst sein, bald weitere unangenehme Post aus Brüssel zu bekommen.

- Gelassener kann die ungarische Regierung der latenten Drohung mit einem Verfahren nach Artikel 7 entgegensehen, das, selbst wenn es kommt, zu langwierig und umständlich ist, als dass es zu Lebzeiten Orbáns noch Wirkung entfalten würde. Es wird zwar von verschiedenen Seiten gefordert und angedroht, die EU wird sich diese Blamage aber hoffentlich ersparen.

- Und auch die Resloution, die am Mittwoch im EU-Parlament zur Abstimmung kommt, ist nicht mehr als Medienfutter, die "Väter Europas", vor allem aber ihre Nachkommen, achteten stets beflissen darauf, dass das Europäische Parlament nicht zu viel Macht bekommt.

Und täglich grüßt das Mediengesetz

Der Druck bleibt also hoch, Brüssel ist sichtlich genervt von Ungarn, das gerade jetzt, da man tatsächlich mit existentiellen Problemen in der Union zu kämpfen hat, wichtige Kapazitäten bindet. EU-Kommissarin Kroes ließ Tibor Navracsics bei einer kommissionellen Anhörung am Donnerstag spüren, was man von seiner Regierung erwartet. Dabei nahm sie einmal mehr das in Budapest längst als ausgestanden abgehakte Mediengesetz zur Hand. Mitsamt der Evaluierung seiner Auswirkungen in der Praxis soll es nochmals auf seine Konvergenz mit der Grundrechtekonvetion geprüft werden.

Dabei soll Ungarn selbst aktiv werden und den Europäischen Rat um seine Einschätzung bitten und sodann "sämtliche Empfehlungen" umsetzen. Das klingt schon etwas anders, als die paar Nebensatzänderungen, mit denen sich die Kommission noch vor einem Jahr zufrieden gab. Immerhin hatte am 19. Dezember das ungarische Verfassungsgericht das Mediengesetz in drei nicht unwichtigen Punkten - die man in Brüssel als “keine EU-Angelgenheit” ignorierte, - zu Unrecht erklärt, Brüssel schaut diesmal sehr genau hin, wie die Regierungsmehrheit den Richterspruch umsetzt.

Kroes sagte, dass man weiter "schwerwiegende Bedenken zur aktuellen Situation in Ungarn hat". Und sie fügte, um die abgegriffene Rhetorik der Gegenseite wissend, hinzu, "Bedenken, die auf Fakten, nicht auf Mythen beruhen." Kroes nannte, neben Spezialinteressen von Medienkonzernen, denen die EU offenbar stets besonders verpflichtet ist, die "Konzentration von Macht" der Medienbehörde als das entscheidende Problem. Die Kombination aus großen Interpretationsspielräumen, weitestgehender Zuständigkeit und weitreichenden Sanktionsmöglichkeiten "falle weit hinter europäische Standards" zurück. Kroes erkannte das schleichende Gift des Mediengesetzes, wie wir es von Anfang an beschrieben haben: "Die Gefahr von hohen Strafen für das Brechen von unverständlichen Regeln kann zu Selbstzensur führen - sogar, wenn nie eine Strafe verhängt wird." Auch die wirtschaftlichen Auswirkungen der derzeit herrschenden Athmosphäre in Ungarn auf unabhängige Medien sei ein Aspekt der Prüfung.

Mit den üblichen Floskeln kommt Ungarn nicht mehr durch

Kroes zählte Navracsics nochmals vor, was - ressortübergreifend - anhängig ist: die Unabhängigkeit der Zentralbank, die Altersbeschränkung für Richter, die Unabhängigkeit der Datenschutzbehörde. Dies alles seien jedoch nur einige Punkte, die Hauptsorge beträfen "Ungarns ökonomisches Standing und die Qualität seiner Demokratie sowie den Zustand seiner politischen Kultur". Das Nachhaken beim Mediengesetz sei daher nur ein Teil, eines "beunruhigenden Bildes".

Sie habe sich mit jungen Ungarn unterhalten und Dinge erfahren müssen, die sie tief verstören. Minderheiten werden bei der Jobsuche diskriminiert, die Polizei ist angehalten ein "Minderheitenmonitoring" durchzuführen, der "rassistische Diskurs" im Lande wird immer offener und akzpetierter. Vor allem unter Roma wird der Drang immer größer, das Land zu verlassen. Sie wolle aufgrund dieser Schilderungen auch kein Urteil sprechen, aber sie zeigten doch, wie wichtig eine freie Medienszene und ein pluralistischer öffentlich-rechtlicher Rundfunk sind, um solche Fehlentwicklungen aufzeigen zu können.

Dann platzte Kroes der Kragen...

Vizepremier und Justizminister Navracsics antwortete, dass man die "Empfehlungen" des Rates und der Kommission "in Betracht ziehen werde", worauf Kroes endgültig der Kragen platze und die sichtlich erboste EU-Kommissarin schimpfte, "...das ist nicht, was Sie mir noch vor ein paar Minuten in meinem Büro zugesagt haben." Nämlich, dass Ungarn in allen Punkten kooperieren wird und alle Bedenken nach den Empfehlungen der EU-Institutionen ausräumen wird, auch wenn der Europäische Rat Ungarn dazu nicht zwingen kann. Was als Verstoß gegen diplomatische Gepflogenheiten gesehen werden könnte, war jedoch die lange überfällige Aufdeckung eines verlogenen Spiels, mit dem die ungarischen Delegationen bis hoch zum Premier die EU seit eineinhalb Jahren an der Nase herumgeführt hatten.

Reisen nach Brüssel werden zu Abwehrschlachten fürs Vaterland stilisiert

Und die ungarische Regierung zäumt weiterhin das Pferd von hinten auf, schon etwas erschreckt, ob der Bissigkeit von Frau Kroes und gleichzeitig sichtlich bemüht, den einmal aufgebauten EU-Hass bei der Anhängerschaft nicht durch zu viel Nachgeben zu zerstören. Es scheint heute eine geradezu patriotische Pflicht zu sein, jede Reise nach Brüssel oder Straßburg zu Hause als Kreuzzug darzustellen, bei dem der Magyare möglichst immer als Sieger wiederzukehren hat. Diese Europapolitik auf Kindergartenniveau, die am Mittwoch im EU-Parlament beidseitig ihre traurige Fortsetzung finden wird, ist im offiziellen Statement aus dem Ministerium Navracsics nach dem Treffen mit Kroes dokumentiert.

Dort (Navracsics-Statement) heißt es, dass man "weiter mit der EU im Dialog" sei, so als verhandelten zwei alte Feinde miteinander und nicht zwei "Familienmitglieder". Und in der üblichen "Hilfe, alle sind gegen uns"-Leier, deren bisheriger Höhepunkt die Putschgeschichte (die natürlich nie stattgefunden hat) aus der Vorwoche war, heißt es bei Navracsics weiter, man solle in Brüssel doch bitte nicht auf "Basis von Vorurteilen, politischen Interessen und oberflächlichem Wissen" urteilen, sondern anhand von "akkuraten Informationen, zu denen die Regierung (!, Anm.) jede Möglichkeit" des Zugangs gewährt, womit das Grundübel eigentlich genau beschrieben ist, man muß nur lesen können. Viel ist jedenfalls von der Charmeoffensive gen Westen nicht übriggeblieben.

 

Am Rande - auch das Teil des Spiels -  gab man zu, dass die "Unabhängigkeit der Datenschutzbehörede und ihres Chefs erhöht werden müsse". Hier liege bereits ein Vorschlag auf dem Tisch. Allmählich erhärtet sich der Eindruck, die Fidesz-Gesetzesschreiber bauen immer gleich ein paar Puffer-Paragraphen mit Sternchen in die Gesetzesvorlagen ein, auf die man dann "schweren Herzens" verzichten kann.

Hinsichtlich der Regelungen zum Pensionsalter der Richter, die, nach einhelliger Einschätzung, zur politisch gefärbten personellen Umjustierung der Judikative zumindest genutzt werden könnten, kam der gleiche Satz wie zuvor: die Sache ist Teil einer Rentenreform, leise deutete Budapest aber an, dass man Übergangs- und Individualisierungsregelungen für möglich halte. Kein Wort kam zur Weisungs- und Platzierungsmacht der Richterkammer. Offenbar sind noch einige Termine in Brüssel notwendig. Wie man allerdings Kommissar Rehn bezüglich der "strukturellen Defizite" gnädig stimmen will, ist völlig offen, zumal man die schwer hinkende heilige Kuh flat tax unter keinen Umständen opfern will.

Armada der Weltverschwörung im Kielwasser der EU?

Wahrscheinlich wird aber eine weiter verschäfte Gangart gar nicht nötig sein, denn die EU hat mit dem IWF und dessen Milliarden die wohl wirksamste Waffe, geradezu ein Damoklesschwert auf ihrer Seite, in dessen Kielwasser Märkte, Kurse, Spekulanten, Analysten und Zinsraten, die ganze Armada der Weltverschwörung mitschwimmt. Der Währungsfonds machte klar, dass man auf ein deutliches O.K. aus Brüssel warte, bevor überhaupt wieder offizielle Gespräche über Hilfskredite aufgenommen werden. Hinter der Vorstellung, ausgerechnet der IWF, diese institutionalisierte Zins- und Armutsspirale, könnte zum "Retter" der Demokratie in Ungarn oder sonstwo auf der Welt werden, steckt eine eigene und sehr finstere Ironie...

red. / ms.

Wer es noch etwas deftiger mag, dem sei die neueste EU-Ballade von Zsolt Bayer, dem Francois Villon Ungarns, empfohlen. Der "Journalist" ist Mitgründer der Regierungspartei Fidesz, Freund von Premier Orbán und wurde voriges Jahr mit einer Literaturauszeichnung geehrt. In einem Fernsehsender kommentierte er die EU-Ungarn-Bataille auf seine unverwechselbare Art und Weise: Bei Pusztaranger

Mehr zum Themenbereich UNGARN-EU-IWF in den Ressorts Europapolitik und Wirtschaft

 

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