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(c) Pester Lloyd / 04 - 2015 GESELLSCHAFT 21.01.2015
"Willkürliche Inhaftierung": Deutsches Gericht verhindert wieder Auslieferung nach Ungarn
Bereits mehrfach stellten deutsche Gerichte fest, dass Ungarn nicht mehr als "sicheres Drittland" gemäß den EU-Dublin-Verträgen einzustufen ist. Jetzt hat das Verwaltungsgericht Berlin in einem Eilverfahren die "Überstellung" eines syrischen Flüchtlings erneut untersagt. Ungarn missachtet gezielt die Menschenrechte, um Flüchtlinge samt der Verfahren los zu werden.
Im Beschluss (23. Kammer vom 15. Januar 2015 - VG 23 L 899.14) des Berliner Verwaltungsgerichtes heißt es, dass in Ungarn "tatsächliche Anhaltspunkte für eine willkürliche und unverhältnismäßige Anwendungspraxis bzgl. der Inhaftierung von Asylsuchenden" bestehen. Nach Ansicht des Gerichts lässt sich die ausnahmslose Inhaftierung aller Dublin-Rückkehrer sowie die fehlenden effektiven Rechtsmittel gegen eine solche Inhaftierung kaum rechtfertigen. Dem Antragsteller drohte somit eine "systematische Verletzung seines Rechts auf Freiheit aus Art. 6 EU-GR-Charta".
Das Gericht stellt also - neben der willkürlichen Inhaftierungspraxis - auch fest, dass den Asylsuchenden der rechtliche Beistand verwehrt werden könnte, der ihnen bei der Durchsetzung ihres Grundrechts auf Freiheit helfen könnte. Man kann das auch "Internierung" nennen.
Einwanderung "bringt nur Schlechtes", sei "eine Wurzel des Terrorismus" und gehöre "gänzlich gestoppt", so lauten die offiziellen Statements Orbáns und seiner Entourage seit den Anschlägen in Paris, die damit auf dem Rücken der Mordopfer, darunter übrigens nicht wenige einstige Einwanderer, Stimmung und Politik machen. Am Sonntag legte Orbán nochmals nach und beschrieb Flüchtlinge pauschal als "gut geschulte", organisierte Kriminelle. Rund 200 Menschen protestierten in Budapest dagegen, gegen die Internetsteuer gingen 100.000 auf die Straße...
Auch in der Praxis gehen die ungarischen Behörden skrupellos vor. Die systematische, unwürdige Behandlung, die bereits 2012 von der UN und später auch dem eigenen Höchstgericht als menschenrechtswidrig und änderungswürdig anerkannt wurde (siehe Links unten), führt dazu, dass fast alle der Asylantragsteller Ungarn lieber heute als morgen verlassen und ihr Heil im rechtsstaatlich zivilisierteren (wenn auch längst nicht vorbildhaften) Westen suchen. Ungarns Taktik geht auf. Die Gerichte machen ihren Job, die Politik, hier die EU schaut seit Jahren tatenlos zu.
Nach den Einsprüchen der UNO hob man die generelle Inhaftierung aller Flüchtlinge (übrigens auch der Kinder) in Lagern zwar formal auf, schuf aber das Verwaltungsmittel der "Anwesenheitspflicht" (nach glorreichem österreichischen Vorbild). Um zu verhindern, dass freilaufende Asylwerber Einheimische "belästigen", sammeln Rollkommandos regelmäßig die nach einigen Wochen Haft (aber obdach- und mittellos sowie ohne Arbeitsgenehmigung) Entlassenen ein, um ihnen "Landfriedensbruch" u.ä. anzulasten, was sich auch auf die Asylanträge selbst auswirkt.
Dabei kommt es immer wieder auch zu gewalttätigen Übergriffen und folterähnlichen Vorkommnissen (wie sie auch in Deutschland und anderswo bekannt wurden) bis hin zur längeren Fixierung und Behandlung mit Psychopharmaka und eben immer wieder - zu Inhaftierungen ohne richterliche Grundlage, also amtlicher Freiheitsberaubung. Von all den entwürdigen Zwischenstufen, die auf Menschen ohne Existenzgrundlage und Rechtsbeistand niedergehen, spricht schon kaum noch jemand.
Dass - abseits der grundsätzlich politisch-ideologischen Vorgaben der Budapester Herrenmenschen - die Behörden auch ganz praktisch überfordert sind, ja bewusst überfordert werden, weil sie chronisch unterbesetzt bleiben, liegt auf der Hand. In Ungarn gab es 2014 43.000 Asylanträge, zehn Mal mehr als noch 2012, nur 500 erhielten jedoch einen Aufenthaltsstatus, der größte Teil verlässt Ungarn noch vor Abschluss des Asylverfahrens.
Der Bau bzw. die Erweiterung von Asylantenheimen bzw., um es beim Namen zu nennen, Flüchtlingsgefängnissen, ist ein politisch heiß umkämpftes Pflaster. Die neonazistische Jobbik, die dem Fidesz binnen Monaten 300.000 potentielle Wähler abspenstig machen konnte und bei Projektionen um die 25%-Marke steht, treibt Orbán politisch vor sich her, bringt “besorgte Bürger” auf “aufgebrachte Menschen” auf die Straßen, um gegen Einrichtungen in Ortschaften zu protestieren und verlangt die Errichtung von “Lagern” außerhalb jeder Zivilisation, die dauerhafte Internierung bis zur Abschiebung, Zwangsarbeit sowie die Trennung der Kinder aus “pädagoischen Gründen”. Bis auf die letzten beiden Punkte hat die Regierung der Jobbik zuverlässig geliefert.
Bei dem jüngsten Berliner Urteil geht es, um einigen Reflexen gleich vorzugreifen, also gar nicht nicht um das politisch, ökonomisch und praktisch ungelöste "Flüchtlingsproblem" in der EU an sich, sondern schlicht um die Grund- und Menschenrechte, die Jedem zustehen und die nicht verhandelbar sind, wenn Europa seinen Status als Zivilisation, Demokratie und Rechtsordnung nicht abgeben will. Doch die ungarische Regierung schreckt nicht einmal mehr vor der Einschränkung dieser Grundrechte gegenüber den Einheimischen, also den eigenen Bürgern zurück. Fidesz-Fraktionschef Rogán kündigte bereits im Rahmen von Sondergesetzen, einem “Nationalen Aktionsplan zum Schutze Ungarns” die denkbare "Einschränkung traditioneller Freiheitsrechte" in ganz Ungarn an - und begründet das mit der aus der Flüchtlingswelle begründeten Terrorgefahr...
red.
Hintergrund:
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