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(c) Pester Lloyd / 28 - 2015     POLITIK    06.07.2015

 

"Ein neuer Zirkus kommt!": Kanzler Lázár zu aktuellen Fragen der Politik in Ungarn

Orbán fordert höchste Eile bei Eisernem Vorhang - Wohlwollen Serbiens wurde erkauft - EU-Prüfung von Wettbewerbsrecht: "Angriff auf ganz Ungarn" - Korruption als: "Patriotische Neuverteilung von Privilegien" - CBA umgeht Sonntagsschließung - Selbstfreispruch bei AKW Paks II - 50% mehr Gehalt ärmste Staatsdiener - Privatinsolvenzgesetz als Hilfe für "unfähige" Familien - Anschaffung neuer Staatskarossen abgesagt - Museumsquartier zusammengestrichen, "neuer Staatszirkus" kommt

28zirkusTitel (Andere)
Foto: MTI, Collage: PL

Am vergangenen Donnerstag machten Orbáns Quasi-Kanzler Lázár und Regierungssprecher Kovács in der turnusmäßigen Regierungspressekonferenz wieder eine Reihe von Anmerkungen zu aktuellen Maßnahmen der Regierung. Fast alle sind erklärungsbedürftig.

 

- Der Bau des Grenzzaunes zu Serbien soll "innerhalb der nächsten Wochen beginnen", Orbán habe "klar gemacht", dass "der Zaun in der kürzest möglichen Zeit" zu errichten sei. Die Regierung könne nicht "4-5 Monate" warten. Anm.: Es gab Gerüchte, wonach Orbán hoffte, dass allein die Ankündigung des Baus die Flüchtlingsroute auf ein Maß versiegen lässt, die eine Errichtung überflüssig mache. Doch das Gegenteil, eine Torschlusspanik im wörtlichen Sinne, trat ein.

- alle Baumaßnahmen werden durch "den öffentlichen Dienst", vor allem Polizei und Militär ausgeführt. Diese Formulierung schließt jedoch nicht aus, dass auch Billigstarbeiter der "Kommunalen Beschäftigungsprogramme" eingesetzt werden, wie dies im Innenministerium bereits - wenn auch geheim - konzipiert wird, denn diese zählen budgetär auch zum "öffentlichen Dienst".

- Die Kosten setzte Lázár auf 5-10 Milliarden Forint an, was aber um den Faktor 3 von den zuvor offiziell angegebenen Ausgaben abweicht. 6,5 Mrd. Forint davon stehen bereits bereit. Innenminsiter Pintér habe bereits "den Verlauf" des Zaunes "festgelegt". In den kommenden Tagen würden private Grundstückseigner darüber informiert, sier erhalten eine "angemessene Entschädigung" (es geht um rund 3.000 Hektar in privater Hand). Wer sich weigert, den Bau auf seinem Grund zuzulassen, muss mit Enteignung rechnen.

- die heftig kritisierte "
Nationale Konsultation über Einwanderung und Terrorismus" wurde zum zweiten Male, nun bis 15. Juli, verlängert, angeblich seien bereits 1 Mio. (von 8 Mio.) Fragebögen zurückgesendet worden, 800.000 davon sind ausgewertet, "die überwiegende Mehrheit der Bürger sagt strikt Nein zu illegaler Einwanderung".

- Regierung und Sicherheitsdienste gehen Anzeichen dafür nach, dass "Menschenschmuggler" neue Routen (lies: über Rumänien, Kroatien) etablieren wollen. Fragen zu Vorfällen, wonach rechtsextreme Gruppierungen Jagd auf Flüchtlinge in der Grenzregion machen "um für Ordnung zu sorgen", beantwortete man nicht.

Alles Weitere zur ungarischen Flüchtlingspolitik und -kampagne in
diesem Beitrag (mit Chronologie)

- Wie sich heraustellt, hat sich Ungarn die auffallende
Zurückhaltung der serbischen Regierung bei der zuvor harschen Kritik am Zaunprojekt erkauft. Man bot dem Land eine Einbeziehung in künftige Pipeline-Projekte durch Querverbindungen an (z.B. Türkei-Stream mit Russland), die staatliche Eximbank unterzeichnete zusätzliche Exportgarantien für über 100 Mio. EUR für ungarische Firmen, die nach Serbien liefern wollen und "Spenden" für Projekte in der Vojvodina (teilweise von ethnischen Ungarn bewohnte nordserbische Provinz) sollen künftig gänzlich und in jeder Höhe von der Steuer absetzbar sein. Auch sollen - wenn möglich - einige grenzüberschreitende Projekte (z.B. Interreg) der EU Richtung Serbien umgeleitet werden.

- Die selbstbewußte Ankündigung der EU-Binnenmarktkommissarin sich die ungarischen Regularien bezüglich Tabakgroß- und einzelhandel in Ungarn genauer ansehen zu wollen, betrachtet Lázár, der als persönlich involviert in die Branche gelten darf, als "Angriff auf die ungarische Regierung, Ungarns Gesetzgebung (natürlich, Anm.) auf ganz Ungarn", was es "so noch nicht gegeben habe."

Interessant ist hierbei Lázárs Umschreibung für das Großhandelsmonopol, bei dem die einzige Lizenz an ein politisch wie ökonomisch befreundetes Konsortium ohne Ausschreibung (
hier die Hintergründe dazu) ging: "eine gerechtere Neuverteilung von ökonomischen Privilegien, basierend auf den Grundpfeilern einer patriotischen Wirtschaftspolitik". Die betreffende EU-Kommissarin würde "offen für das Rauchen und zum Vorteil internationaler Tabakkonzern lobbyiieren". Auch die angekündigten Prüfungen der Benachteilungen im Lebensmittelhandel (Sondersteuern, Verbot von Bilanzverlusten, Sonntagsschließung) empfindet Lázár als "Attacken".

- Auch das ungleiche
Handling der Sonntagsschließung wird auf Bestreben der österreichsichen Spar-Kette Thema in Brüssel. Dazu gibt es neueste Entwicklungen: Wie sich herausstellte, hat die Fidesz-Kette CBA durch die Deklarierung zweier seiner Supermärkte am Balaton zum "Marktgebiet", also zum Wochenmarkt, eine Öffnung am Sonntag möglich gemacht. Dazu hat man kurzerhand die eigenen Parkplätze zum Markt umfunktioniert. Die zuständigen, lokalen Behörden schritten nicht dagegen ein, obwohl das Wirtschaftsministerium zuvor eine gemeinsame Anfrage etlicher Geschäftsinhaber am Balaton um eine Ausnahme während der Urlaubersaison mit den Worten abgeschmettert hatte: Die Sonntagsschließung gilt ausnahmslos, für alle, auch am Balaton. Die Opposition empfahl nun allen Supermärkten den Vorfall als Präzedenz zu nehmen und zu öffnen, "bis eine Volksabstimmung" das Schicksal der Sonntagsschließung besiegele.

- Der Bau des gigantischen Museumsquartiers ist nun auch offiziell in seiner jetzigen Form abgeblasen. Bereits vor einigen Wochen wurde klar, dass für das Mega-Projekt die Gelder fehlen, zumal sich die EU einer Kofinanzierung für das Prestigeprojekt im Stadtwäldchen und am Heldenplatz verschloss.
Hier mehr dazu.

In Regierungssprech übersetzt lautet die Stornierung der
"Kulturhauptstadt Hungária", dass man "zur Einsendung konzeptioneller Ideen" für die "Renovierung" bestehender Gebäude aufruft. Gebaut werden soll zumindest ein neuer Staatszirkus, das "Haus der Ungarischen Musik" und ein "Verkehrsmuseum". Der Bau einer neuen Nationalgalerie blieb offen, allerdings muss die Institution bald aus der Budaer Burgberg ausziehen, damit Orbán dort seinen repräsentativen Regierungssitz einrichten lassen kann. Auch die Umbau- und Renovierungsarbeiten an anderen Gebäuden müssen aus Geldmangel massiv redimensioniert werden: Museum der Schönen Künste (Szépmüvészeti), Kunsthalle, Zoo, Széchenyi Bad. Auf unbestimmte Zeit verschoben sind zunächst: Haus der Volkskunst, Architekturmuseum, Haus der Fotografie.
 
- der Staat werde in näherer Zukunft keine "Anschaffung von Autos" vornehmen, so Lázár. Damit sagte man eine geplante, zentrale Bestellung von neuen Limousinen und Nutzfahrzeugen für Ministerien und Regierungsstellen für 6 Milliarden Forint (ca. 16 Mio. EUR) ab, die im Internet auf heftige Kritik von Bürgern gestoßen war. Wie zu hören sollen die Fahrzeuge nun in kleinen Partien jeweils direkt von den Behörden geordert werden, damit das Aufsehen nicht so groß wird...

- Hinsichtlich der Angst, Brüssel könnte das gesamte AKW Paks II Projekt hinsichtlich Betrieb, Aufsicht und vor allem Finanzierung und Betrieb als "unerlaubte Staatsbeihilfe" klassifizeren und damit für illegal erklären, habe die "Regierung selbst ein wettbewerbsrechtliches Verfahren" eingeleitet, dass zu dem Ergebnis gekommen sei, dass "die Regierung" die Aufsicht über alles haben solle. Ungarn bitte nun die EU, diese Position zu übernehmen. Dieses Vorgehen ist auf so vielen Ebenen absurd, dass sich eine Kommentierung erübrigt. Aktuelle Hintergründe zum Thema finden Sie hier:
Auf Teufel komm raus: AKW-Ausbau in Ungarn basiert auf falschen Daten

- Der wachsende
Unmut im öffentlichen Dienst über seit Jahren ausbleibende Lohnerhöhungen, bei gleichzeitigem "Postenschacher" in nie dagewesenen Dimensionen, hat eine Art Notreaktion der Regierung zur Folge. Lázár will nun 26 Milliarden Forint (rund 82 Mio. EUR) aus dem Budget, die für sog. "Karrieremodelle" 2016 eingeplant waren (lies: mehr Geld für weniger Arbeitsrechte und mehr Systemtreue) umgruppieren und zunächst den "untersten Einkommensgruppen im öffentlichen Dienst" (nicht gemeint die Közmunkás mit 50% des gesetzlichen Mindestlohnes) mit einer Gehalsanhebung von 50% ausstatten.

 

Das betrifft vor allem Krankenpfleger, Sozialarbeiter, die zuletzt den Aufstand probten, aber auch Berufseinsteiger z.B. im Finanzamt etc., die teilweise monatlich nicht mehr als 80.000 bis 100.000 Forint netto bekommen (250-300 EUR). Was mit den eigentlich geplanten "Karrieremodellen" geschieht, blieb offen. Die Regierung Orbán verspricht quasi wöchentlich strukturelle Reformen in der Verwaltung, einen schlanken Staat, weniger Bürokratie. Doch die massiven Verstaatlichungen u.a. von Kommunalvermögen und -institutionen, aber auch im Banken- und Energiesektor sowie die Law-and-Order-Paranoia (Geheimdienste) blasen den Sektor jährlich weiter auf.

- Orbáns rechte Hand lobte das neue "Familieninsolvenzgesetz" als "eine nie dagewesene Hilfe", es würde rund 100.000 Familien einen Weg aus der Schuldenfalle weisen können. Dies seien Familien "die unfähig sind, sich mit Hilfe der zuvor gewährten Hilfspakete zu helfen" (hier klingt wieder das legendäte: wer arm ist, ist selbst Schuld.. durch) und nun "mit dem Verlust ihres Wohnraums bedroht" sind. Einige Details und fragwürdige Regelungen zum neuen Gesetz finden Sie
in diesem Beitrag. Lázár spezifizierte weiter, dass die Zeit des Zwangsausgleichs mit den Gläubigern auf 5 Jahre festgesetzt sei, er betonte dabei aber vor allem die "Aufsicht eines Treuhänders", der die "strengen Regeln" überwachen soll. Gerade der Punkt erntet die meiste Kritik von Fachleuten, weil aufgrund der kommunalen Verantwortlichkeit hier mit massiven Missbrauch zu Gunsten der wehrlosen Schuldner gerechnet wird.

red.
 


 



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