(c) Pester Lloyd / 45 - 2009
FEUILLETON 02.11.2009 _______________________________________________________
Mehr Feuilletons aus dem Pester Lloyd 1854-1945
Tänzer und Feuerspucker
Das "fabelhafte" Leben des Felix Salten - Zum 140. Geburtstag eines Kollegen
Es ist der Fluch der Nachwelt, dass spätestens nach Ablauf eines Lebens selbiges nach schlagwortartig Erinnerbarem durchsiebt wird. Salten, das ist
doch der mit dem urniedlichen Reh und dem Schweinkram. Und da muß man schon froh sein, dass die Leute nicht glauben, Bambi wäre von Walt Disney
erfunden worden. Die zwei Erfolgsstücke, Bambi und Mutzenbacher, sollten also das Schicksals jenes Mannes werden, der - vor 140 Jahren geboren -
eigentlich als großer Schriftsteller und Universaltalent im Gedächtnis bleiben sollte und dessen Werke nach wie vor lesenswert sind.
1869 wurde er als Siegmund Salzmann in
Pest in eine jüdische Ingenieursfamilie mit einer langen Ahnenreihe von Rabbinern geboren, wuchs in Wien auf und arbeitete zuerst bei der Phönix-Versicherung im Innendienst. Bald verfasste er nebenher
Kurzgeschichten unter dem Pseudonym Felix Salten und widmete sich ansonsten dem Literaten- und Lebenskünstlerkreis "Junges Wien" um Hugo v. Hoffmansthal, Gustav Klimt (den er in
seinen Artikeln später förderte) und Arthur Schnitzler, mit dem ihn eine lebenslange Freundschaft und zahlreiche gemeinsame Geliebte verbinden sollten. 1896 wechselte er auch hauptberuflich
ins Zeitungsgewerbe und übernahm die Stelle des Feuilletonchefs der "Allgemeinen Wiener Zeitung" (Vorgänger war übrigens Theodor Herzl).
"Kulturkritiker" zu sein, war für einen denkenden Menschen im von der
Germanistik so verschraubt bezeichneten "Fin de siécle", insofern er nicht vom System aufgekauft war, eigentlich eine unausweichliche Maßnahme der
Selbsthygiene, intellektuelle Überlebenstaktik und nicht unbedingt gleich ein Verdienst. Andererseits, und dies ist typisch für die Wiener Ambivalenz der
damaligen Zeit, gestaltete das Universaltalent Salten den Kulturbetrieb selbst entscheidend mit, den er dann so genial kommentierte und zuweilen hart verriss.
Ein Tanz auf dem Vulkan braucht auch Tänzer, nicht nur Feuerspucker. Salten war beides.
Ein echter Ritterschlag hingegen war die innige Feindschaft, die ihn mit Karl
Kraus verband. Die beiden scharmützelten sich nicht nur regelmäßig in ihren Blättern sondern tauschten auch mehrmals Ohrfeigen im Café Griensteidl aus.
Kraus, selbsternannte oberste Instanz der reinen Sprache und Fackelträger des liberalen Ethos, ließ die Ehre, jemanden durch feinste Sprachschärfe zu kleinen
bunten Putzlappen zu verarbeiten, nicht jedem angedeihen.
Salten werkelte neben seinem Feuilletonistendasein auch als Drehbuchautor für
Stumm- und den frühen Tonfilm, war mäßig erfolgreicher Kabarett-Unternehmer und sogar Operetten-Librettist (unter dem Pseudonym Ferdinand Stollberg schrieb
er für Johann Strauß Sohn und Oscar Strauß), Reiseschriftsteller, arbeitete dann in Berlin, wo er kurze Zeit Chefredakteur der B.Z. am Mittag und der Berliner
Morgenpost wurde. 1906 erschien im Privatdruck die "Josefine Mutzenbacher", als Erinnerungen einer Wienerischen Dirne "von ihr selbst erzählt". Während die
Bibliothekare noch stritten, ob das Buch Schnitzler oder Salten anzulasten sei, verbot es die Obrigkeit, was dem Werk zum allgemeinen Durchbruch verhalf. Die
satirische Erzählung "Herr Wenzel auf Rehberg und sein Knecht Kaspar Dinckel" erschien 1907. 1911 folgten gesammelte Kommentare als "Wurstlprater", in dem
nicht nur teils geniale Skizzen der damaligen Gesellschaft sondern in gewissem Sinne eine Abrechnung mit dem ganzen k+k-Siff erfolgte. Daß ausgerechnet ein
Text mit dem Titel "Wurstlprater" der Forschung als ein "Schlüsseltext" der Wiener Moderne gilt, sagt viel über Wien, über die Moderne, über die Forschung.
Englische Erstausgabe von Bambi von 1928. Mit einem Vorwort des späteren Literaturnobelpreisträgers John Galsworthy.
Ein Reh und 15 Hasen
Salten schrieb im allgemeinen Katzenjammer
nach dem Ersten Weltkrieg zunehmend häufiger politische Essays, nun als Redakteur der "Neuen Freien Presse", damals die führende und damals noch unabhängige Tageszeitung
Österreichs, ohne sich dabei aber vollends mit den Regierenden zu überwerfen. Die Theaterkritik, die oft auch Gesellschaftskritik war, wurde sein Hauptbetätigungsfeld. In den
Bänden "Das Burgtheater" und noch eindrucksvoller in "Schauen und Spielen" sind die schönsten seiner Feuilletons und Rezensionen gesammelt erschienen.
Seit etwa 1910 erschienen auch erste Beiträge
von Felix Salten im Pester Lloyd, bis zu seinem Gang ins Exil sollten über Hundert weitere folgen. Durch die freundschaftliche Bekanntschaft mit Feuilletonchef
Julian Weisz übersandte Salten längst nicht nur Zweitverwertungen, sondern verfasste bald auch exklusive Beiträge für die Zeitung seines Herkunftslandes.
Diese bedankte sich durch regelmäßige Rezensionen seiner Neuerscheinungen. 1923 besprach man ein eigentümlich fabelhaftes Büchlein, namens "Bambi".
Herzig, aber etwas infantil, durchaus schön geschrieben, war das Urteil des Redakteurs Julian Weisz. Ende der 30er Jahre verkaufte Salten die Rechte nach
Amerika an Walt Disney. Man würde heute sagen, für die lächerliche Summe von 5.000 USD. Damals ein Vermögen. Das nicht lange hielt. Bambi ist heute eine
Weltmarke geworden. Salten brachte es ein, daß die Verleger (er arbeitete exklusiv für Zsolnay) nun mehr und mehr nach immer weiteren Tiergeschichten
und möglichst nur noch Tiergeschichten verlangten. "Fünfzehn Hasen" (1929) ist als Kleinod noch das lohnenswerteste dieses Teils der Produktion.
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Felix Salten um das Jahr 1910/11. Mit auf dem Foto der siebenjährige Sohn Paul
und die Tochter Anna Katharina, damals fünf Jahre alt. Salten war mit Ottilie Metzel, einer Schauspielerin verheiratet.
1933: Deutschland verbrannte Bücher - Salten sich die Finger
1933 erschien "Florian, das Pferd des Kaisers", ein Gleichnis auf die
Hinterlassenschaft der Gottesgnadentümler und wieder eine kritische Rückschau.1925 übernahm Salten die Leitung des Wiener P.E.N.-Zentrums. Ein
Schritt, der ihn bald in große Probleme bringen sollte. Im Mai 1933, kurz nach den Bücherverbrennungen im nun faschistischen Deutschland, fand in Ragusa, bei
Dubrovnik, der internationale P.E.N.-Kongress statt, auf dem sich Salten die Finger verbrennen würde. Salten, an seiner Seite die sehr wandelbare, ja
anpasslerische Grete von Urbanitzky, pochte nicht nur auf den Grundsatz der "Nichteinmischung" in politische Fragen des Schriftstellerverbandes, sondern
verstieg sich auch noch zu der Äußerung, daß man Deutschland, mit dem "Österreich eine tausendjährige gemeinsame Geschichte" verband, nicht
angreifen solle. Es ging schlicht darum, ob man auf dem Kongress eine Debatte und Verurteilung der Verfolgung von Schriftstellern überhaupt zuließ.
Kurz, die ganze Sache endete in einem Eklat. Als Ernst Toller, Vertreter der
deutschen Exilschriftsteller, das Wort ergreifen wollte, verließ nicht nur die schon weitgehend gleichgeschaltete deutsche Delegation (die später aus dem Club
ausgeschlossen wurde) den Saal, sondern auch der "nationale" Teil der Schweizer und Österreicher - und: Salten. Er rechtfertigte sich später damit, nur die
Statuten der Organisation eingehalten zu haben. Ein naives Kalkül - in Deutschland dem Bann zu entgehen - mag eine Rolle gespielt haben, wäre aber
Unterstellung. Ein unter den Intellektuellen der damaligen Zeit häufig anzutreffendes tragisches Beispiel fahrlässiger politischer Naivität ist es allemal.
Salten erzählte später seinen Kollegen beim Pester Lloyd, daß er beim Verlassen des Saales gerufen habe: "... obgleich ich Jude bin und man sich wohl denken
kann, wie ich zu dem heutigen Deutschland stehe, bin ich dafür, daß die deutsche Delegation beim Kongress verbleibt..." Mehr als unglücklich war dann Saltens
Beitrag im PL, in dem er sich wand: "... Uns leitete die Erwägung: wenn es dazu kommt, daß der deutsche Zustand jetzt vor aller Welt am Pranger steht, dann
soll sich das deutsche Österreich der aktiven Teilnahme am Schimpf enthalten..." Salten empfing bei seiner Rückkehr dafür den Schimpf von Werfel, Polgar und
Zweig. Er trat von seinem Posten als P.E.N.-Präsident zurück.
Er verließ das Land, das ihn verließ
Bald auch veränderte sich das Klima in Österreich. Erst Sozialistenjagd, die
meisten Juden schwiegen dazu, dann, schon ab 1934, und nicht erst - wie immer wieder gepflegt - nach dem Anschluss, nahm im "Ständestaat" auch die
öffentliche, ja sogar offizielle Judenhetze zu. Salten bekam Probleme mit dem Verlegen seiner Bücher. Seine Beiträge im Pester Lloyd wurden wieder politischer,
wenn auch verblümt („Dank aus Amerika”, 18. März 1936, „Monarchen, Bahnhöfe, Zwischenfälle”, 29. März 1936). 1938 ging er ins Exil in die Schweiz.
Nacheinander verliert er seinen Sohn (bei einem Unfall) und seine Frau. 1945, einige unbedeutendere Bücher von ihm sind noch erschienen, stirbt Salten einsam
und verbittert in der Fremde. Vor seiner Emigration, aber nur Tage nach dem "Anschluss" 1938 , verabschiedete sich Felix Salten von den Lesern dieser Zeitung
mit dem nachfolgenden Text, der in einem melancholisch-wirren Gleichnis auf das Österreich von 1938 endet, dass Land, das aus Naivität zum Verbrecher wird. Das er verlassen musste, weil es ihn verließ.
Marco Schicker
Aus dem Pester Lloyd - 1938
Ein kleines Schicksal
Von Felix Salten
Die ganze Geschichte dauerte nur drei Tage, doch während der kurzen Frist erfüllt
sich scheinbar die Sehnsucht eines jungen Lebens, um im nächsten Tempo kläglich zu scheitern. Eben an ihrer Erfüllung. Draußen, am Saum des
Wienerwaldes betritt ein junger Mensch das kleine Sommerhäuschen, das über den Winter vermietet werden soll. Die Eheleute denken zum ersten Male daran,
jemanden hier hereinzusetzen, keineswegs, weil sie das Mietgeld brauchen; sie wollen das schöne kleine Haus das so hübsch möbliert ist, im Winter nur nicht
alleine lassen Nun steht der Herbst vor der Türe, das Ehepaar wird wieder in die Stadtwohnung ziehen und hat ein Inserat in die Zeitung gegeben. Da kommt auch
schon der junge Mann.Er mag sechsundzwanzig Jahre alt sein, ist sympathisch und sagt, das er Konrad heiße. In das Häuschen verliebt er sich in den ersten fünf
Minuten. Konrad erzählt sehr viel; er plaudert zutraulich und man hört, dass er der einzige Sohn der Kreistierarztes von Graz ist, der Liebling seiner Eltern, die ihm
jeden Wunsch von den Augen ablesen. Diesen Winter soll er in Wie noch dasjenige an Tierarzneikunde studieren, woran es ihm bis fehlt. Er muß sich vorbereiten der
Nachfolger seines Vaters zu werden. Nett und glaubhaft, nicht wahr?
Wärme und Heiterkeit verbreitet Konrad. Jedes zweite Wort lautet „mein Papa“
jedes erste „meine gute Mama“. Der liebevoll dankbare Sohn zärtlicher Eltern gewinnt natürlich die Herzen der Eheleute, die selbst Erwachsene Kinder haben.
„Mein Papa wird zu allem Ja sagen“ erklärt Konrad, „er wird sich freuen, dass ich so reizend wohne; na und meine Mama wird überglücklich sein, wenn sie mich
hier besucht!“ Er kann das kleine Haus nicht genug loben, und er spricht im Meer darüber wie Papa und Mama seine Wahl billigen werden.
Das Telephon unterbricht ihn. Jemand erkundigt sich nach dem Mietpreis. Da
gerät Konrad in Aufregung. „Verhandeln sie mit niemandem,“ bittet er, „ich nehme das Haus mit der Garage. Jawohl, mit der Garage! Wissen sie mein Papa hat
zwei Autos einen großen und einen kleinen Wagen. Den kleinen gibt er mir gern. Ich muß nur ein bisschen drum betteln. Mein Papa verweigert mir nie etwas“.
Ohne zu feilschen, erlegt Konrad sofort die Miete für drei Monate. Er drängt sie dem Hausherrn förmlich auf. Dann jubelt er: „Nun bin ich daheim! Bis der
Kleinwagen kommt fahre ich mit der Straßenbahn zur Universität Es ist ja nicht weit.“ Der Hausherr antwortet: „Universität? Dort haben sie nichts zu suchen.
Das Tierarzneiinstitut ist ihre Hochschule. Da haben Sie’s von hier viel weiter.“ Konrad lacht: “Das hätte mein Papa mir wohl sagen können. Egal! Er ist so zerstreut, der Gute! Halt überarbeitet!“
Als Konrad endlich fortgegangen ist, reden der Herr und die Dame noch eine
Weile von dem rasch abgeschlossenen, freilich nur mündlichen Vertrag, der aber doch nicht bezweifelt werden kann, weil ja das Geld für drei Monate vorausgezahlt
ist. Die beiden haben keine Erfahrung, was das vermieten betrifft; sie wundern sich. Es heißt immer, wie schwer das hält eine Wohnung anzubringen. Und jetzt
sind sie das einsam gelegene Sommerhäuschen so leicht los geworden. Nun, sie hatten eben Glück; derlei kommt zuweilen vor. Ganz flüchtig taucht, die Frage
zwischen ihnen auf, ob sie nicht vor dem Vermieten Erkundigungen über Konrad hätten einholen sollen. Sein Anzug war sauber, doch eher ärmlich. Einen
Augenblick fällt es ihnen auf, wir gut situiert der Vater Konrads sein müsse, um den Sohn solch ein Leben u bieten. Offenbar besitzt der Kreistierarzt
Privatvermögen. Damit wäre alles geklärt, auch der Standart von zwei Autos. Na am nächsten Tage will der junge Man seinen Koffer bringen, da wird er wohl seine
Papiere Zeigen. Im übrigen ist gar nichts riskiert; die dreimonatige Miete, einen stattlichen Betrag, hat er immerhin erlegt. Wozu also weiter Nachgrübeln?
Der junge Man findet sich richtig mit einem umfänglichen Koffer ein. Das Haus
muß in Ordnung gebracht werden, bevor er, etwa in zwei, drei Tagen darin Wohnen kann. Er wird von der Dame um etwaige Wünsche gefragt, doch Konrad
hat keinen einzigen Änderungswunsch. Die Dame sagt, sie wolle einige Spitzendeckchen von den Tischen entfernen, den für einen jungen Mann dürften
diese kaum passen. Aber Konrad wiederspricht lebhaft. Die Spitzendeckchen sollen unbedingt bleiben. „Meine gute Mama wird sehr viel Freude an ihnen
haben.“ Konrad ist heute vom Haus noch viel entzückter als gestern, spricht noch inniger von Papa und Mama, so das man sich eigentlich geniert, ihn aufzufordern,
seine Papiere zu zeigen. Man lässt ihn in dem Zimmer, wo er künftig schlafen wird, allein. Nach einer Stunde geht er fort, trägt einen neuen Anzug, erkundigt
sich welches Hotel man ihm für die kurzen zwei, drei tage empfiehlt, dankt sehr ergeben, und nimmt fröhlich, begeistert einstweilen Abschied. Ein angenehmer
harmloser Mensch. An den Herrn Kreistierarzt in Graz zu schreiben, hat man noch Zeit.
Aber drei Tage später folgte überraschende Aufklärung. Das Ehepaar befand sich
schon in der Stadtwohnung, als vier Herren angemeldet wurden. Zwei davon hatten ehrsame schwarze, bäuerliche Kleidung, die beiden anderen waren auch
ohne Legitimationsbescheinigung als Kriminalbeamte zu erkennen. Sie kamen wegen Konrad, der gar nicht Konrad hieß, sondern anders. Er stammte auch
keineswegs aus Graz, hatte keinen Papa und keine Mama. Von seiner Gemeinde im nördlichen Niederösterreich, war er durchgegangen und hatte das Bargeld der
dortigen Sparkasse mitgenommen. Dreißigtausend Schilling. Die beiden Gemeindevertreter, breitbehagliche Männer, zeigten kummervolle Mienen. Die
Kriminalbeamten belehrten den Hausherrn, er müsse zwar eine Durchsuchung des Sommerhauses dulden, doch er sei zu einer Rückerstattung des empfangenen
Mietbetrages nicht verpflichtet. Der Herr aber übergab freiwillig den ganzen Betrag zu Händen des Bürgermeisters. Draußen am Rand es Wienerwaldes, in dem
Zimmer, das Konrad eine Stunde nur gehört hatte, fand sich, gut versteckt, der größte Teil des defraudierten Kapitals. Achtundzwanzigtausend Schilling. Der
Bürgermeister meinte zu seinem Kollegen: „Alsdann is’ der Schad’n net gar so bedeutend.“ Und ihre Gesichter wurden einwenig heller.
Man erfuhr die trübselige Lebensgeschichte des vermeintlichen Konrad. Ein
Findelkind, das Eltern niemals gekannt hatte, wuchs er unter fremden Menschen auf, dort, in der Gemeinde, die nun durch ihn etwas über tausend Schilling
einbüßte, wurde er so erzogen, wie man arme Doppelweisen eben erzieht. Aus Mildtätigkeit, ohne jene Liebe, die nur eine Mutter, nur ein Vater zu geben
vermag. Trotzdem erwarb er gewisse Sympathien. Er war brav, war klug, lernte fleißig, und da man vertrauen zu ihm hatte, wurde er mit der Zeit als
Gemeindesekretär angestellt. In diesem Amt bewährte er sich jahrelang,, bis... „Ich versteh’ gar nicht, was ihm eig’fallen is,“ sagt der Bürgermeister, während er das
gefundene Geld einsteckte, das ihm die Kriminalbeamten überreichten. Konrad war nämlich nach Hause Gefahren, gleich am anderen Tage, an dem er „sein
Zimmer“ für eine Stunde genossen hatte. Er legte dem Bürgermeister ein Geständnis ab und saß nun, statt in der Gemeindekanzlei, im Gemeindekotter, wo
er darauf wartete, dem nächsten Landesgericht eingeliefert zu werden. Ja, was war ihm nur eingefallen?
Die Meinungen über Konrad sind geteilt. Manche sagen, er wollte ein paar
Wochen flott leben. Und fügen hinzu, ein Hochstapler ist er schon, ein Verbrecher, der das erstemal nicht viel Courage aufbrachte. Aber die Dame hat unterdessen
Konrads Gebetbuch gefunden und dieses Gebetbuch lässt die abschätzigen Meinungen doch zu hart erscheinen. Zerlesen und verbraucht ist das Gebetbuch.
Viele Stellen sind angestrichen, der Name Mutter der Name Vater, mit Rufzeichen versehen. Alle Gebete der Kinder für die Eltern, der Eltern für die Kinder mit
Blaustift umringelt. Und vorn, eingelegt, ein Gebet der Reue, das Konrad abgeschrieben hatte. Sehr beredsam sprach dieses Gebetbuch von der tiefen, nie
erfüllten, unerfüllbaren Sehnsucht des Konrad nach Mutterliebe, nach einem Vaterhaus; es war der Spiegel seiner Seele. Ein glückloser Einsamer, hatte der junge
Mensch geträumt, wurde von seinem Traum aus der Bahn gerissen, wollte den Traum verwirklichen, erwachte sehr bald und zeigte sich sogleich bereit, zu
sühnen. Eine Verbrechernatur scheint er nicht, sonst hätte er wohl anders gehandelt. Das Verbrechen bleibt gleichwohl. Doch der es beging, ist ein
kindliches Gemüt, naiv, und seine Phantasie ist dumm. Schweres hat Konrad gelitten, bevor er strauchelte. Er wurde dann noch weit unglücklicher. Längst ist
das gerichtliche Urteil über ihn gefällt. Man kennt es nicht. Doch man hofft, seine schnelle Reue, seine Umkehr zur Nüchternheit des Daseins und ein milder Richter
haben es dem Konrad ermöglicht, wieder auf den Weg des ehrlichen Lebens zu kommen.
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