(c) Pester Lloyd / 11 - 2011 GESELLSCHAFT
17.03.2011
KOMMENTARE
Machtergreifung
Neonazis übernehmen Polizeigewalt in Ungarn
Zugegeben, es ist "nur" ein Ort, ein kleiner dazu und die Überschrift sollte auch absichtlich erschrecken. Doch in Gyöngyöspata haben tatsächlich Neofaschisten die
Macht in Form der Polizeigewalt an sich gerissen und terrorisieren seit mehreren Wochen die dort lebenden Roma, weil diese "die Ungarn terrorisieren". Der
Bürgermeister hat die "Bürgerwehr" gerufen, Einwohner spenden Kost und Logis, der Staat lässt sie gewähren. Ist das die neue Roma-Strategie? Gleichzeitig werden in der
Budaer Burg feierlich die ersten ungarischen Pässe an Rumänienungarn übergeben, die heim ins Mutterland kommen. Schließlich hat Ungarn eine vorbildliche Minderheitenpolitik.
Bilder aus Gyöngyöspata. “Bürgerwehr Schönere Zukunft” und “Gendarmerie” umstellen ein Haus mit
Roma, die Polizei beobachtet aus der Nebenstraße.
Weil die "Verbrechen gegen das Eigentum" durch die lokalen Behörden "nicht mehr
kontrollierbar waren", hat der Bürgermeister von Gyöngyöspata die "Bürgerwehr für eine schönere Zukunft" um Hilfe und Schutz gebeten. Am 10. März marschierten über tausend
Jobbik-Anhänger in dem Ort mit 2.500 Einwohnern auf oder wie es die Rechten ausdrücken
"mit 2000 Ungarn und 500 Zigeunern", um zu verhindern, dass der "Zigeunerterror eine Bürgerkriegssituation" erzeugt.
Seit Wochen patroullieren schwarzuniformierte "Bürgerwehren" und Leute, die sich selbst
tatsächlich “Gendarmerie” nennen, meist kahlrasierte, stiernackige Männer, aber auch verhärmte kleine Wichtigtuer durch die Stadt und errichten "Kontrollpunkte". "Wer sich
nicht an die Regeln hält, sollte die Gegend lieber verlassen", warnt einer, denn "hier herrscht nun wieder Ordnung". Warum das nicht die Polizei macht und wo war sie vorher,
als die Klauerei begann? Die schafft das nicht, aber natürlich übergeben wir Verdächtige den Ordnungsorganen, sagt sein Kollege, bemüht einen "anständigen" Eindruck zu machen.
Jobbik-Aufmarsch am 10.3., Parteiführer Vona spricht...
Am Tag der Jobbik-Demonstration war die Polizei auch hier, schritt aber nicht ein, obwohl
die örtliche Romagemeinde einen Brief an den Innenminister geschrieben hatte, in dem sie klar von einer "Bedrohung" sprach. Halbherzig verhaftete man am Dienstag für kurze Zeit
vier Personen, die der Polizei ihre Ausweise nicht zeigen wollten. Es waren Angehörige der "Bürgerwehr", die offenbar über dem Gesetz stehen. Doch an diesem Tag war die
öffentliche Aufmerksamkeit schon so hoch, dass die Polizei meinte, irgendetwas unternehmen zu müssen.
Geändert hat sich an der Lage aber nichts, der Staat hat weder zuvor noch jetzt die
öffentliche Ordnung herstellen und bewahren können, das Vakuum wurde gefüllt. Der Terror hält bis heute an. In Reihen riegeln die "Garden" und "Wehren" das Romaviertel ab,
die Roma trauen sich nicht mehr aus ihren Häusern, schicken ihre Kinder nicht mehr zur Schule. Sie haben Angst.
Die sollen sie auch haben, - immerhin, so berichtet der Bürgermeister László Tabi, ein
"parteiloser Unabhängiger", zufrieden gegenüber Medien, ist der Holzdiebstahl fast gegen Null zurückgegangen. Im übrigen hat das alles nur mit der Sorge der Bürger zu tun, nichts
mit Jobbik, sprach er, während an seinem Haus überdimensionale Jobbik- und Árpádfahnen prangen. Die "Garden" wollen bleiben, riegeln weiter die Romasiedlung ab - nun ist es auch
sichtbar ein Ghetto, die Szenen sind gespenstisch.
Die Polizei hat ihre Präsenz in dem Ort mittlerweile erhöht, doch die Bürgerwehren machen
ihre Arbeit, obwohl mittlerweile eine ganze Reihe von Anzeigen gegen sie vorliegen: Nötigung, Körperverletzung, Freiheitsberaubung etc. Nun haben die Jungs "für eine
bessere Zukunft" die Forderung aufgemacht, dass sie so lange bleiben werden, bis die lokale Romaselbstverwaltung ihnen gegenüber eine Erklärung unterschreibt, dass die
"Zigeuner die Gesetze achten werden." Man hört, dass es mitterweile selbst dem Bürgermeister unangnehm wird, wegen der öffentlichen Aufmerksamkeit, versteht sich.
Doch seinen Abzugswunsch hat er bald wieder zurückgenommen, erklärt einer der Stiernacken in eine Kamera von "Jobbik TV".
Und er tat recht daran, denn Attila László, der "Einsatzleiter" erzählt, dass man gerade
letzte Nacht wieder zwei Holzdiebe dingfest machen konnte, - man hat sie der Polizei
"übergeben". László dankt der "lokalen Bevölkerung" für die Bereitstellung von Nahrung und
Schlafstellen und auch für die Unterschriftensammlung, damit die "Bürgerwehr" bleibt. Bürgermeister László Tabi spricht von "Gästen".
Für die politische Einordnung, zu der die Frontkämpfer intellektuell sichtbar nicht in der
Lage sind, sorgt der Jobbik-Politiker András Kisgergely, da merkt man gleich ein ganz anderes Niveau: “Jeden Tag attackieren die Zigeuner Ungarn. Üblicherweise ziehen sie ein
Messer und wenn er bei seinem Überfall auf Widerstand trifft, beginnt die Mordorgie. Es reicht ihm nicht, seinen Gegner zu verletzen, er will ihn töten." Und weiter: "Man lässt die
Zigeuner in den Dörfern marodieren und die Ungarn terrorisieren und umbringen", als "Minderheit" sind sie ja rundum geschützt, so die Erklärung von Kisgergely.
Jobbik-Chef kündigt flächendeckenden “Schutz” an
Jobbik-Chef Gábor Vona, immerhin Abgeordneter zum ungarischen Parlamant, will gehört
haben, dass die örtlichen Roma Rache geschworen haben, für den Tag, an dem die "Garden" wieder abziehen. "Wenn nötig, werden wir doppelt oder dreifach so stark
zurückkehren und eine Bürgerwehr für das ganze Land, in jedem Dorf organisieren"
"beruhigte" er die "verängstigten Bürger". Gleichzeitig rief er dazu auf, dass man das
"ethnische Verhältnis" in den von Roma stark besiedelten Gebieten "regulieren" sollte, wie,
sagte er nicht, aber er macht sich schon öfters Gedanken über die "extrem hohe Geburtenrate von Zigeunerfrauen". Gestern nutzte er die Ereignisse für einen pathetischen
Auftritt im Parlament, in der er sich und seine "Garden" als Retter der Nation darstellte, weil die anderen Kräfte versagten. Phrasen, Hassparolen, Bibelzitate - wir ersparen ihnen
die Details.
“Geschockte” Bürgerrechtler versuchen einen Kontrapunkt
Am 16. März dann der Kontrapunkt, nicht vom Staat, sondern von Bürgern, einem anderen
Ungarn, das es auch gibt, wenn auch klein und scheinbar machtlos. Die Ungarische Demokratische Charta und die Bürgerrechtsbewegung TASZ zeigen Präsenz im Ort, man
will den Zustand, dass der Staat - ob aus Kalkül oder Desinteresse - sein Gewaltmonopol aufgibt, nicht zur Normalität verkommen lassen. "Wir sind geschockt von der Untätigkeit
der Polizei, die andere dazu ermutigen könnte gleiches zu tun und die zu einem weiteren Vertrauensverlust der Roma gegenüber den staatlichen Autoritäten führt."
Der Applaus der Mehrheit ist Jobbik sicher
Jobbik bat die Bürgerwehrvereinigung "Für eine bessere Zukunft" nun auch um die
"Wiederherstellung der öffentlichen Sicherheit in einem anderen Ort im Komitat Heves. Auch die Gemeinde von Hajdúhadház überlegt, "Hilfe anzufordern" Die ungarischen
Neofaschisten haben wieder ein Thema gefunden, bei dem sie sich deutlicher von der Regierungspartei Fidesz abheben als ihnen das seit der Wahl gelungen ist. Sie provozieren
den Staat an seiner sensibelsten Stelle und wissen ganz genau, dass ihnen der Applaus vieler Bürger dabei sicher ist, denn der pauschale Hass auf die "Zigeuner" ist mehrheitlicher
Konsens in Ungarn.
Der Staat lügt die EU an und droht mit einer Auswanderungswelle
Die Aktion trifft die Fidesz-Regierung gerade jetzt besonders hart, da sie sich gegenüber der EU mit einer "gemeinsamen Romastrategie" elegant aus der Affäre ziehen will. Darin behaupten die Offiziellen guten Willen, manche Regierungsvertreter verbreiten über den Zustand der Roma bei Bildungs- und Justizfragen auch ohne rot zu werden faustdicke
Lügen, das Fidesz lässt in Brüssel seine "Quotenzigeuner" Papiere verbreiten und nett in die
Kameras lächeln. Von denen haben wir übrigens zum Thema Gyöngöyspata nichts gehört.
Ungarn will die ganze lästige und überdimensionale "Romafrage" wegdelegieren, das ist der
einzige Grund, warum man die "Strategie" auf die Agenda der Ratspräsidentschaft setzte. Die konkreten Programme, Planungen und Finanzen soll die EU übernehmen, ansonsten
steht die offene Drohung von Premier Orbán im Raum, die Roma wieder auf Reisen zu schicken, wie es ja ohnehin ihre Natur sei, in den Westen, wo mehr Sozialhilfe gezahlt
werde, wie sich der Regierungschef und temporäre EU-Ratspräsident ausdrückte.
Was ist das für ein Zustand, wo der Staat seine Macht zurückerobern muss?
Freilich hatte am 16.3. (!) Regierungsprecher Péter Szíjjártó erklären lassen, dass "nur die
Polizei das verfassungsmäßige Recht hat, die öffentliche Ordnung durchzusetzen" und versprach weitere Polizeikräfte. Aber da ist keine Strategie mehr zu erkennen, was ist das
für ein Zustand geworden, dass ein Staat seine Macht nun Ort für Ort zurückerobern muss? Mit der Einstellung gegenüber den Roma verhöhnt die Regierung letztlich aber auch "ihre
Ungarn", denn die haben natürlich ein Recht darauf, in einem Dorf ohne "Hühnerdiebstahl" zu leben, doch sollten sie sich deswegen vielleicht weniger an ihre verwahrlosten
Mitmenschen wenden (womit wir hier nicht die Roma meinen), sondern ihre Rechte vom Staat einfordern. Doch wie, wenn der sich schon seit Jahren zurückgezogen hat.
Teufelskreis nennt man das und kaum irgendwo ist dieses Wort wahrer.
Die Gegenbewegung ist zu leise
Während in den Dörfern die neofaschsitischen Banden marschieren, überreicht der
Fidesz-Bürgermeister des I. Budapester Bezirks feierlich ungarische Pässe an Rumänienungarn, die dazu eigens in Szekler-Tracht feierlich in die Budaer Burg gezogen
sind. Hier sind mehr Kameras als in Gyöngyöspata. Für das heutige Ungarn spielt sich Minderheitenpolitik vor allem jenseits der Landesgrenzen ab, im Inland wird Rassismus
gelebt. Doch Hauptsache, Ungarn bekommt eine Verfassung in der Gott und dem “heiligen” István gehuldigt wird...
Es sollten sich die 30.000, die am Dienstag für bürgerliche Freiheit und Menschenrechte in Budapest demonstriert
haben, bald in die Provinz aufmachen und nicht mehr so vorbildlich leise demonstrieren wie bisher. Es ist Zeit, dass Demokraten einiges klarstellen in diesem Land. Warum soll nicht
auch in Ungarn funktionieren, was in Dresden funktioniert? Über Pressefreiheit ist dann zu reden, wenn das Recht auf Leib und Leben gesichert ist, für alle. Und natürlich haben “die
Ungarn” in vielen Orten in der Provinz ein faustdickes Problem mit “Zigeunerkriminalität”, dem mit politischer Korrektheit nicht beizukommen ist. Der Staat hat ja hier schon viel
früher versagt und zwar umfassend.
Ab 15. April haben Roma zu Dauerdemos vor dem Parlament in Budapest für “Arbeit und Brot” aufgerufen, Eskalationen sind da nicht ausgeschlossen.
M.S.
Weiteres auf der Themenseite Roma
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