(c) Pester Lloyd / 16 - 2011 GESELLSCHAFT 23.04.2011
KOMMENTARE
Staat kapituliert vor Neonazis
Am Rande eines Bürgerkrieges: Roma in Ungarn werden "evakuiert" - UPDATE, 22.04., 22:00 Uhr
Weil die Staatsmacht in Ungarn nicht in der Lage oder Willens ist, die Einwohner vor Übergriffen rechtsextremistischer Paramilitärs zu schützen, hat das Rote Kreuz
Frauen und Kinder aus der Gefahrenzone evakuiert. Die Regierung spricht von “Osterurlaub”. Der Staat bleibt so untätig wie zuvor, versucht lediglich die
"Kontrahenten" zu trennen. Inzwischen organisieren sich auch die Roma.
Gyöngyöspata am Karfreitag 2011. Fotos: AP, wir danken für die freundliche Genehmigung...
Damit es in der seit Wochen von Neofaschisten besetzten 2800-Einwohner-Gemeinde
Gyöngyöspata, ca. 80 Kilometer von Budapest, über Ostern nicht zu Zusammenstößen zwischen der seit Anfang März dort marschierenden "Bürgerwehr" und den ca. 400 Roma
des Ortes kommt, hat man 276 Einwohner der Stadt, Frauen, Alte, Kinder, mit Hilfe des Roten Kreuzes in das Ferienlager Csillerberc in Budapest verfrachtet.
Am Osterwochenende will eine rechtsextremistische Gruppe "Vederö"
(“Verteidigungsmacht”) ein Trainingslager für "Selbstverteidigung" just in diesem Ort abhalten, in dem wochenlang gezielt gegen die größte ethnische Minderheit gehetzt wird. Eine Begründung, warum angesichts einer Bedrohungslage, die zur "Umsiedlung" von
Bewohnern führt, nicht das Trainingslager verboten wurde, gab es bisher aus dem Innenministerium nicht. Im Gegenteil, am Freitag fuhren in Gyöngyöspata 400 Polizisten
auf, nicht um die Abhaltung eines paramilitärischen Lagers zu unterbinden, sondern den ungestörten Ablauf zu ermöglichen und beide Gruppen zu trennen.
UPDATE: Am Freitagabend wurde bekanntgegeben, dass die “Aktivitäten” der paramilitärischen Vereinigung in Gyöngyöspata “beendet” wurden, der öffentliche Druck,
denn einen inneren gab es vorher nicht, war offenbar zu groß geworden. Die Organisatoren seien in polizeilichen Gewahrsam genommen wurden, andere Teilnehmer
erhielten die “Aufforderung” den Ort zu räumen. Nach Ostern werden wir dann sehen können, wie echte Ungarn darauf reagieren, wenn ihnen ihre Freizeitaktivitäten untersagt werden...
Am Abend kam es in Gyöngyöspata noch zu einem Medienauflauf, sogar der Innenminister
Sándor Pintér, bisher abgetaucht, ließ sich blicken. Roma hatten aus Protest gegen die Einverleibung des Ortes durch die Neonazis eine Mahnwache samt Gulaschkessel
eingerichtet und betonten, dass sie nicht daran dächten, ihre Häuser zu verlassen. Auf der anderen Seite der Straße standen ein paar grimmig dreinblickende Glatzlöpfe mit
Funkgeräten und einschlägiger Kleidung.
Am Nachmittag hieß es, die Einwohner gingen "auf eigenen Wunsch", bei einer
Pressekonferenz am Freitagnachmittag ging man sogar noch weiter, nicht klakulierend, dass die europäische Öffentlichkeit nicht mehr gar so leicht hinters Licht zu führen ist:
Die ungarische Regierung und das Rote Kreuz haben gemeinsam eine “Evakuierung” dementiert. Es handelt sich nämlich “um einen Osterurlaub”, nicht um eine “aus
plötzlicher Notwendigkeit vollzogene Aussiedlung”, sagte der Sprecher von Premier Orbán, Péter Szíjjártó. Auch der Direktor des ungarischen Roten Kreuzes erklärte, “das
Ferienlager” sei bereits zuvor geplant gewesen. Dem widersprechen jedoch die Betroffenen gegenüber der offiziösen Nachrichtenagentur MTI vehement. Sie hätten erst
am Abend zuvor erfahren, dass sie am nächsten Tag abreisen sollen. Neben dem Ferienlager in Buda ist auch eine Einrichtung bei Szolnok angefahren worden.
"Wir haben Angst und die ist begründet", erklärte János Farkas, Vorsitzender der örtlichen
Romaselbstverwaltung die plötzliche “Urlaubslust” der Roma von Gyöngyöspata. "Seit zwei Monaten ist das hier praktisch ein Schlachtfeld". Die Menschen trauten sich nicht mehr,
ihre Kinder in die Schule zu schicken (ja, es gibt - entgegen den gepflegten Vorurteilen - viele Romaeltern, die sehr darauf achten, dass ihre Kinder ordentlich lernen!) - “Der
Osterurlaub”, den die Regierung hier reklamiert, ist also nichts weiter als dreister Zynismus. Es ist sogar möglich, dass die Aktion schon früher geplant gewesen ist,
immerhin gibt es die Aufmärsche schon seit Anfang März, das ändert aber nichts daran, dass der Staat hier vor den Neonazis kapituliert hat.
Frauen, Kinder, Jugendliche und Alte werden aus ihrem Heimatort Gyöngyöspata “evakuiert”, damit
rechte Paramilitärs ihre Schießübrungen abhalten können.
Handlungsunfähiger Innenminister
Der Innenminister hatte seit Tagen und Wochen vergeblich an die Bürgerwehr "Schönere
Zukunft" und ähnliche Nachfolger der verbotenen "Ungarischen Garde" appeliert, die bedrohlichen Aufmärsche in Gyöngyöspata, Hejösalonta, Hajdúhadház und anderen Orten
zu unterlassen. Daraufhin beklagte er zwar allgemein einen Rechtsbruch, zu mehr als Personenkontrollen kam es aber nicht, zumal ein Richter das Fehlen einer Straftat
ausdrücklich erklärte, auch wenn es Hinweise auf eine ganze Reihe strafrechtlich relevanter Verhaltensweisen gab. Anstatt das staatliche Gewaltmonopol wieder
herzustellen, riegelten die neu eintreffenden Polizeikräfte jedoch lediglich die Roma-Viertel ab, um einen direkten Kontakt mit den "Bürgerwehren" zu unterbinden,
setzten also letztlich die Tätigkeit der Rechtsextremisten fort.
Mittlerweile organisieren sich einige Roma in den "umkämpften" Orten selbst und bilden
Selbstverteidigungstrupps, sichtbar an Verkehrswesten, aber unbewaffnet. Dies stellt eine weitere Eskalationsstufe dar, ist aber angesichts der Unfähigkeit der Polizeiführung und
des abgetauchten Innenministers nur logisch. Man fragt sich, warum die Polizei solche Gruppen nicht längst unterstützt hat, könnten sie nämlich ebenso gut gegen die so häufig
zitiere "Zigeunerkriminalität" selbst eingesetzt werden. Modellprojekte bei Miskolc bewiesen bereits, dass das funktionieren kann, wenn auch nur als ein Bausteinchen zur
Lösung der Gesamtproblematik.
Das Rote Kreuz rettet Zivilisten wie 1956
Bürgerrechtler und die Opposition beklagen die Handlungsunfähigkeit des Staates und
fragen, was eigentlich noch alles passieren muss, bis die Staatsmacht einschreitet. Auf einer von der MSZP einberufenen Pressekonferenz analysierte der Abgeordnete István
Nyakó, dass es eine vergleichbare Situation, bei der Frauen und Kinder vor militärischer Gewalt und Terror vom Roten Kreuz in Sicherheit gebracht werden mussten, in Ungarn
1956 gegeben habe und fragte, wo eigentlich der Innenminister und der Minsiterpräsident abgetaucht sind, ihr Platz wäre jetzt an der Seite der Roma in Gyöngyöspata...
Erstaunlich ist es allerdings, dass diese Regierung, die sonst eher rabiat und selbstbewusst
ihre Interessen durchsetzt, bei der Wiederherstellung der öffentlichen Ordnung in den von den Rechtsextremisten angegriffenen Orten derart zögerlich vorgeht. Dazu fehlt ihr nicht
die rechtliche Handhabe, wohl aber der politische Wille, fürchtet man doch, dass die bisher so erfolgreiche Taktik, Jobbik die eigenen Politikfelder streitig zu machen, dann
nicht mehr aufgehen könnte. Ein MSZP-Parteisprecher erklärte, dass die "Regierung unfähig ist zu regieren." und daher zurücktreten solle. Das hat allerdings die damalige
MSZP-Regierung auch nicht getan als sie 2007-2009 die Aufmärsche der “Garde” nicht verhinderte, in deren Fahrwasser es zu einer Mordserie mit acht Toten kam. Auch die
sonst eher regierungsfreundliche US-Botschaft in Budapest hat den Umgang mit den Minderheiten heute mit "unakzeptabel" beschrieben und "beobachtet die Lage sehr genau".
Denn die Antworten der Regierung auf die gezielten Provokationen sind so gleichförmig
wie unwirksam. Erst am heutigen Freitag verkündete der Sprecher des Ministerpräsidenten wieder, dass man an einem "Dekret" arbeite, dass diese Art von
Patrouillen unter Strafe stellt und der Staat seine Macht nicht mit anderen "Gruppen zu teilen gedenkt". Jene, die die öffentliche Ordnung in den letzten Wochen in Frage gestellt
haben, müssten "mit Sanktionen rechnen". So lauten allerdings die Statements aus dem Regierungslager schon seit Mitte März, geändert hat das noch nichts, die rechten Recken
zeigen sich nicht sonderlich beeindruckt davon, im Gegenteil, sie verklagten sogar einen Staatswanwalt, der es gewagt hatte, Klage gegen einige von ihnen zu erheben.
Bürgerrechtler hatten zu einem Solidaritäts-Osterspaziergang in Gyöngyöspata
aufgerufen, angesichts der Lage dürfte sich dieser Friedensmarsch wohl erledigt haben, eher schon wäre der Einsatz von UN-Blauhelmen angebracht. Auch sollte der
Staatspräsident nochmals prüfen, ob die in der neuen Verfassung genannten und von den Anhängern der Orbán-Regierung europaweit gepriesenen Toleranzparagraphen und
die auf christliche Werte getrimmte Präambel überhaupt erfüllbar sind oder ob man sie nicht wenigstens anstandshalber streicht, wenn man ohnehin nicht vor hatte, ihnen zu
folgen. Am Montag, Ostermontag, will Präsident Schmitt die Verfassung unterschreiben. Im Angesicht der Ereignisse in Gyöngyöspata und anderswo macht er
das höchste Dokument des Staates noch vor seinem Inkraftreten zu einem wertlosen Stück Papier.
red. / M.S.
Wer sich weiter informieren will, auch über allfällige Gegenaktionen und
Hilfsmöglichkeiten, kann das hier in englischer Sprache tun: http://gyongyospatasolidarity.wordpress.com/
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