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(c) Pester Lloyd / 17 - 2011  POLITIK 25.04.2011

 

Auferstanden?

High Noon in Ungarn: Präsident unterzeichnete neue Verfassung

Am Ostermontag, Schlag Zwölf Uhr, hat der ungarische Präsident die in der Vorwoche von der Regierungsfraktion beschlossene neue Verfassung für Ungarn unterzeichnet. Damit kann sie am 1. Januar 2012 in Kraft treten. Die Regierung schwelgt weiter in Eigenlob und Kritikerhetze. Dabei ist die Befürchtung, Ungarn könnte in eine Diktatur abrutschen, vollkommen falsch. Es ist viel schlimmer: alles könnte so bleiben wie es war.

Heute, Punkt 12 Uhr im Präsidentenpalast in Budapest, Foto: KEH

Weihevolle Unterzeichnungszeremonie

Zur Stunde der Unterzeichnung im Präsidentenpalais wurden die Kirchenglocken geläutet, es gab Fanfarenstöße einer Armeekapelle vom Balkon des Amtssitzes und die Leibgarde paradierte in historisierenden Uniformen. Auf dem Vorplatz "erwartete eine große Volksmenge aufgeregt die Nachricht von der Unterzeichnung" meldet uns die amtliche Nachrichtenagentur MTI. Sie verschweigt auch nicht, dass "ein einzelner Mann" mit dem Ruf "Nein zur Fidesz-Verfassung" die Szene störte und "laute Flüche" ausstieß. Er wurde abgeführt. In der Vorwoche demonstrierten mehrere tausend Menschen gegen das Grundgesetz und die Art seines Zustandekommens.

In einer Ansprache wiederholte Schmitt die Lobpreisungen auf das neue Grundgesetz, das die Ungarn stolz machen soll. Schon am Karfreitag hatte Premier Orbán nochmals klargestellt, dass die Verfassung eine Notwendigkeit für Ungarns "Wiedergeburt" ist, alles von 1944 bis heute katastrophal war, das kommende aber "vorbildlich" "europäisch" und ganz prima sein wird. Trotz einiger schwerwiegender, auch juristischer, Bedenken von Fachleuten (auch außerhalb politischer Lager), war eine Zurückweisung der Verfassung von diesem Präsidenten nicht zu erwarten, dessen Treue zur Orbán-Partei und fehlende eigene politische Ambitionen seine heraustechenden Qualifikationen waren, die ihn im Sommer des Vorjahres zum Präsidenten machten.

Kritiker werden pauschal niedergebügelt

Während die Rhetorik der Regierungsfreunde sich nicht auf Detailfragen einlässt, sondern darauf beschränkt, die Kritiker ins politische Abseits zu stellen und allein die Notwendigkeit einer neuen Verfassung als Rechtfertigung für das Endprodukt zu genügen scheint, werden die Kritiker durchaus konkret. Am eindrücklichsten drückte dies der ehemalige Präsident Sólyom aus, der, unverdächtig jeglicher linker Anwandlungen, ein Vater der Nachwendeverfassung war und als Chef des Verfassungsgerichtshofes ein ausgewiesener Experte ist. Auch er wurde, vor allem durch den besonders eifernden Fidesz-Fraktionschef Lázár, mehr persönlich als argumentativ angegriffen, die übliche Taktik heutzutage.

Die ungarische Opposition links vom Fidesz, hatte sich aus der parlamentarischen Debatte zurückgezogen, weil sie bei der numerischen Dominanz der Regierungsfraktion keine Möglichkeit sah, Einfluss auf die Gestaltung zu nehmen. Dies wird der Opposition nun als "Verrat an ihren Wählern" ausgelegt. Tatsächlich gaben vor allem die Sozialisten, MSZP, ein Bild hilfloser Untätigkeit ab, vor allem, weil sie sich von ihrer Vergangenheit, sprich ihrem Übervater Gyurcsány nicht trennen können. Sie sind bisher weder in der neuen Zeit, noch in der Oppostion angekommen.

Das Volk wurde in Form eines Fragebogens beteiligt, auf dem ein gutes Dutzend Fragen mit Multiple-Chocie-Antworten vorgelegt worden sind. Etwa 800.000 Antworten, so die Regierungsangabe, kamen zurück, mit großem medialen Aufwand inszenierte man diese Aktion sowie einige Gesprächskreise in der Provinz als "nationale Konsultation", um die Notwendigkeit einer Volksabstimmung zu negieren. Laut Umfragen wünschten sich 60% der Ungarn ein solches Referendum, die deutliche Mehrheit hätte ohnedies für das Verfassungswerk gestimmt.

Die Verfassung beschreibt nur, was schon gelebte Politik ist...

Die neue Verfassung ist im wesentlichen an westeuropäischen Vorbildern orientiert. Doch einige Artikel und Bestimmungen sowie strukturelle Details machen genau den Unterschied zwischen einem demokratischen Grundgesetz und einem weiteren Machtinstrument der Regierungspartei aus. Das zu erkennen, muss man kein "ungarnhassender Sozialist" sein, wie die Grundcharakterisierung der Kritiker derzeit aussieht. In manchen Punkten wird die Regierungskontrolle durch Verfassungsorgane eingeschränkt, spätere Willkür dadurch möglich.

Die Behauptung, dass Ungarn damit in eine Diktatur abrutscht, ist schlicht falsch, dass aber allein die Möglichkeit dafür nicht einmal durch die Verfassung ausgeschlossen werden kann, die eigentliche Katastrophe. Gleiches war beim Mediengesetz zu beobachten. Es klingt demokratisch und modern, hält den Ausführenden aber alle Möglichkeiten in alle Richtungen offen, wovon diese Gebrauch machen können und es bereits auch tun. Zudem wurden etliche Institutionen, die für "Checks und Balances" sorgen, bereits im Vorfeld der Schaffung dieser neuen Verfassung entmachtet oder gleichgeschaltet, so dass diese Verfassung nur noch beschreibt, was schon gelebte Politik in Ungarn ist.

Die Hauptkritikpunkte sind:

- die Kompetenzen des Verfassungsgerichtes sind für Fragen, die das Budget tangieren stark beschnitten, bis die Schuldengrenze von 50% des BIP erreicht worden ist (derzeit 80%) bzw. auch, wenn die jährlichen Defizitziele nicht erreicht werden können. Das Verfassungsgericht kann dann nur noch bemängeln, nicht mehr anullieren, es wird vom Akteur zum Kommentator degradiert, letztlich also entmachtet. Hier findet die gefährliche Präzdenz der Umkehrung der Gewaltenteilung und -hirarchie statt. Die Regierung beschränkt die Macht derjenigen, die die Macht der Regierung beschränken müssten. Das Verfassungsgericht wird als potentieller Feind der Staatsziele definiert, was nicht mehr weit von der "Die Partei hat immer recht"-Attitüde der Vorgängerautokratie entfernt ist.

- die Einführung bzw. Ausdehnung sogenannter Hauptgesetze (General Acts) erfordert zukünftig eine 2/3-Mehrheit der Abgeordneten, auch wenn es sich dabei um Gesetze mit aktuellpolitischer Gestaltungsnotwendigkeit handelt (z.B. Familien, Arbeit, Steuern, Medien), was der jetzigen Regierungspartei durch Blokademöglichkeiten langfristigen Einfluss auf die Regierungspolitik auch bei Mehrheitsverlust einbringt, mithin auch im fideszschen Sinne undemokratisch ist, das sich ja gerade immer auf den Mehrheitswillen beruft. Gleichzeitig nimmt sich die Regierung damit aber auch selbst Gestaltungsspielräume, sollte, was absehbar ist, die eigene 2/3-Mehrheit einmal verloren gehen.

- Einzelparagraphen weisen Rückschritte bei freiheitlichen Grundrechten auf. Zwar sind die wesentlichen bürgerlichen Freiheiten und allgemeinen Menschenrechte klar formuliert, zum Teil sogar gründlicher als in anderen, auch westlichen Verfassungen, doch bestehen Ausnahmen, die als Konzession an das neue national-klerikale Weltbild der Machthaber gesehen werden müssen. So ist die sexuelle Orientierung nicht mehr explizit unter den vor Diskriminierung zu schützenden Merkmalen aufgeführt. Das hat man nicht einfach so vergessen, es ist so gewollt und durchaus mehrheitsfähig.

Der Schutz des menschlichen Lebens vom Moment der Zeugung ebnet den Weg für eine Abkehr von der in Ungarn (von dieser Partei während ihrer ersten Regierungszeit eingeführten) geltenden - und allgemein anerkannten - Fristenlösung bei Schwangerschaftsabbrüchen und somit einem Eingriff in das Selbstbestimmungsrecht der Frau.

Kritisch gesehen wird in einigen Kreisen auch die Definition der Ehe als einer exklusiven Verbindung von Mann und Frau. In Ungarn gibt es auch eingetragene Partnerschaften, die noch unvollständige - relative - rechtliche und alltägliche Gleichstellung dieser mit Ehen dürfte damit aber gestoppt sein. Hier ist allerdings zu sagen, dass dies tatsächlich dem Mehrheitswillen dieser Bevölkerung entspricht.

Ebenso ein Fanal ist die Zusammenlegung der parlamentarischen Ombudsmänner u.a. für Religionen, Minderheiten, Datenschutz, Jugend in einer Behörde. Auch das an die Verfassung angeschlossene neue Wahlgesetz, das sich derzeit, relativ unbemerkt, in der Erarbeitungsphase befindet, stärkt weiter die großen Parteien und belässt die parlamentarische Vertretung der ethnischen Minderheiten bei symbolischen Akten.

- Keine normative Kraft, dafür aber spalterische Energie entwickelt die vorangestellte Präambel, ein unnötiges Schaustück ahistorischer, nationalistisch-frömmelnder Überheblichkeit gegenüber der ungarischen und europäischen Lebensrealität. Dieses "nationale Glaubensbekenntnis", das hinfort auch in allen Amtsstuben hängen soll, definiert durch ein imperatives "Wir" alles, worauf sich "der Ungar" historisch zu beziehen und stolz zu sein hat, nämlich das Christentum und den "heiligen" Stephan als Staatsgründer mit der "heiligen" Krone als Symbol der staatlichen Einheit. “...dass unser Volk Europa jahrhundertelang in Kämpfen verteidigte”, mag da noch als weinseliger Größenwahn sympathisch durchgehen, doch Duktus und Wortwahl dieser Präambel gehen in ihrer Kitschigkeit und Weltfernheit zum Teil noch über die parareligiösen An- und Aussprüche des Realsozialismus hinaus und hangeln sich sehr nah am ständestaatlichen Präfaschismus der Horthy-Zeit entlang. Dieses Pathos hat den Ungarn unter den turbokapitalistischen, globalisierten Sozi-Nihilisten der Vorgängerregierungen offenbar gefehlt.

Der Wille des Volkes ist ein fester Job und eine Datsche am Balaton

Dass die Präambel mit Stephanskrone, Christentum etc. jedoch Werte vertritt, die die Mehrheit der Ungarn für verfassungswürdig erachten, wie der Kommentator und Ungarnkenner der Franfurter Allgemeinen Zeitung, Georg Paul Hefty, behauptete, ist eine Verwechslung der Urheberschaft mit den Tatsachen. Hätte die Mehrheit der Ungarn die Präambel verfasst, wäre das Christentum längst überwunden, stünden darin ein Einfamilienhaus, eine Datsche am Balaton, Auto und Zweitwagen, zweimal Urlaub im Jahr, ein fester Job, Ruhe und Frieden, was schon insofern beruhigend ist, da es die Ungarn als ganz normales Volk ausweist. Die Präambel spiegelt das Idealbild des verklärten Ungarn, wie es sich das Fidesz ausmalt und wie es ihn als leicht zu manipulierenden Typus präferiert. Auch hier wiederholt sich der “Mensch mit dem neuen Bewußtsein” des Realsozialismus. Man sollte hier nicht die Parteideologie zum Volkswillen verklären, daran sind bekanntlich schon mächtigere Systeme gescheitert.

Mit den Autokratien der Vergangenheit hat die Prämbel den eitlen Alleinvertretungsanspruch, die zwanghafte Fehlinterpretation historischer Tatsachen und Entwicklungen sowie den doktrinären Ausschluss all jener gemein, die abweichende Weltsichten und Lebensentwürfe haben. Dabei ist die Präambel für die Wirksamkeit und Qualität der Verfassung eigentlich ohne Bedeutung, sie bildet sozusagen nur das politische Vermächtnis dieser Regierung, das Manifest Orbáns und ist gleichzeitig ein trauriges tiefenpsychologisches Zeitdokument, das keinen Frieden stiften wird.

 

Ob Ungarn so ein Land wird, in dem die Menschen besser leben können, bleibt bei diesem blendenden Ballast, der hier wieder angehäuft wird, mehr als fraglich, - der alte Ungeist, der Ungarn so teuer zu stehen kam, ist im neuen Kleide auferstanden. Wieder wird die Ideologie über den Menschen gestellt, er wird wieder instrumentalisert. Es bleibt also letztlich alles wie es war. Das Land hat eine neue Verfassung, ringt aber weiter nach Fassung.

M.S. / red.

Alles weitere zur Verfassung auf unserer Themenseite Themenseite.
 

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