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DIE WOCHE AUF EINEN BLICK

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(c) Pester Lloyd / 52 - 2011  GESELLSCHAFT 31.12.2011

 

Überall ein bisschen Ungarn

Versuchslabor "Ungarn 2012", Europa und die Medien - KOMMENTAR

Die seit eineinhalb Jahren andauernden Fehlentwicklungen in Ungarn werden mittlerweile auch über das Mediengesetz hinaus im Ausland zur Kenntnis genommen. Allerdings wieder zu spät und unvollständig. Was in Ungarn geschieht, geschieht überall ein bisschen: Politik gegen die Menschen, Allmachtsstreben und das Primat der Wirtschaft über das Ethos beherrschen nicht nur Ungarn, sondern ganz Europa.

Dabei kapriziert man sich im Westen häufig auf Symbolisches (Verfassung, Präambel, Republik, völkisch-frömmelndes Gefasel) und dem westlichen Lebensstil Liebgewordenes (freie Theaterszene, Rundfunksender, Mediengesetz), die zwar als Symptome taugen, kaum aber die ganze Tragweite der Veränderungen für die Masse des ungarischen Volkes wie auch für ganz Europa spiegeln.

Das Ende einer Republik: hier am Beispiel Ungarns. Doch die “res publica”
ist auch in der sonstigen EU bald aus der Mode...

Der Hang zu glamourösen Themen und Metaphern (Puszta-Putin, Donau-Kim etc.) und der Zeitdruck in den Redaktionen führt dabei leider meist zu eher mittelprächtigen, zuweilen sehr peinlichen Produkten, die es den PR-Hasen der ungarischen Regierung und den sich vollkommen blind stellenden Verteidigern aus dem bürgerlichen Lager Europas leicht machen, das Fehlerhafte als neidische Sozialistenkampagne umzudeuten.

Auch die Gewichtungen sprechen eine eindeutige Sprache, worauf es dem Mainstream eigentlich ankommt. Während das Mediengesetz vor allem den Blattmachern selbst ein Anliegen ist, überwiegen in der quantitativen Darstellung ansonsten die Ängste, Ungarn könnte aus dem System von Schuld und Zins aussteigen und damit die Grundfesten des globalisierten Finanzkapitalsmus einreißen.

Ein kleines Beispiel: Die Wiener Zeitung "Die Presse", Hausblatt des neoliberalen Konservativismus, veröffentlichte einen Kommentar, in dem ein Ahnungsloser tatsächlich die These aufstellte, Orbán habe die privaten Rentenbeiträge nur verstaatlicht, die Sondersteuern nur verhängt, andere Gelder nur umgewidmet, "um den Wohlfahrtsstaat" zu finanzieren, so wie das der Souverän wünscht. Da fragt man sich, ob der Autor die letzte eineinhalb Jahre durchgeschlafen hat?

Andere Beiträge machen sich schon gar nicht mehr die Mühe, einzelne Punkte anzusprechen, sondern bejammern nur das Auferstehen einer Diktatur, so, als wäre diese aus dem Nichts, wie ein UFO in Ungarn gelandet und man könne dem Land dabei nur noch entsetzt zuschauen, der politisch korrekte Leitartikel dient zur Beruhigung des eigenen schelchten Gewissens.

Auch dem Thema IWF-Verhandlungen, Zentralbankgesetz und "Bürden für ausändische Banken" wird deutlich mehr Aufmerksamkeit gewidmet als der gesteuerten, systematischen Verarmung und Entrechtung der unteren Einkommensschichten durch Flat tax, neue Arbeitsgesetz und viele andere Maßnahmen. Die Unabhängigkeit der Nationalbank ist Europa und "seinen" Medien wichtiger als die Umwidmung von Frührentnern zu Sozialhilfeempfängern, die eingeleitete Abschaffung der richterlichen Unabhängigkeit, die Willkür von Behörden und der unwürdige Umgang mit den Bürgern, die Schaffung eines Wahlgesetzes, das Wahlfälschungen gar nicht mehr nötig macht, das gesetzliche Abwürgen von Parlamentsdebatten bis hin zum höhnischen Verhalten von Lokalpolitikern, deren Arroganz dazu führte, dass in Städten die Lichter ausgehen und Schulen und Kinderheime nicht mehr mit Essen beliefert werden. Was bei den Vorgängern aus Dummheit und Raffgier geschah, geschieht heute aus purer Arroganz.

Auch Beiträge zum neuen Arbeitsrecht, das Ungarn direkt in einen regelrechten Untertanenstaat führt, findet man eher auf gewerkschaftlich orientierten Webseiten und die drohende sinn- und perspektivlose - und bei Lichte rassistische - Zwangsbeschäftigung für zigtausende Roma (und offiziell auch die anderen Sozialhilfeempfänger) ist eher das Metier von NGO´s und einigen linken Blättern, so als wäre die Menschenwürde nur ein Luxusthema.

Aber das Bild ist nicht verzerrt, es ist nur Spiegelbild. Denn tatsächlich kämpft die EU-Kommission, der Rat sowieso, wie ein Löwe für die Durchsetzung des Binnenmarktes, erklärt sich aber bei "Grundrechten" für nicht zuständig und verweist dabei auf die Gerichtsbarkeit. So falsch sind die Prioritäten in der EU gesetzt. Eine Umkehr ist für Europa jedoch überlebenswichtig.

Der schlaue Orbán hat die einseitige Polung der EU erkannt und nutzte sie zunächst clever für sich. Freilich ist Orbán neben schlau auch größenwahnsinnig und wir werden erleben, wie er sich bei Thema IWF und "Befreiungskampf von den internationalen Finanzmärkten" teuer verheben wird. Der Forint stand beim Schreiben dieses Beitrages bei 310, beim Hochladen schon auf 314. Doch die Zeche zahlt das Volk, das er befreien wollte.

Dabei sollte einem geschulten Auge - in Politik wie Meiden - nicht entgehen, dass das, was da in Ungarn läuft womöglich nur die konsequenteste Ausformung dessen ist, was auch in den europäischen Kernländern bereits geschieht, der scheibchenweise Abbau der Demokratie zur Sicherung der althergebrachten (bewährt kann man heute nicht mehr sagen) Machtstrukturen. Ungarn ist das Labor, welche Instrumente dazu am geeignetsten erscheinen und wie weit man wirklich gehen kann. Dabei machte man sich den Reformbedarf des Landes zu Nutze und hat die Probleme richtig erkannt. Doch die Lösung sieht so aus, dass man das kummerbetäubte Volk befreit, in dem man ihm nur die Ketten wechselt - und fester zurrt.

Wie weit man wirklich gehen wird, kann schon das Jahr 2012 zeigen. Denn während der Westen spekuliert, das offizielle Ungarn sich selbst salutiert, geht die Realität ihren Weg: die Wirtschaft wird schrumpfen, Ungarn muss Rekordzinsen zahlen, private Schuldner werden durch den abstürzenden Forintkurs immer notleidender und verramschen ihr Kleinhäuschen. Unternehmer, die keinen direkten Draht zur Macht haben, schmeißen frustriert hin, die Depression der Leute war noch nie so hoch wie heute, aus Apathie wird aber langsam wieder Wut. An der kann sich der neue "Rechts-Staat" bald erproben. Kanalisiert sich die allmähliche Einsicht der Ungarn, wieder (!) die falsche Wahl getroffen zu haben, zu einer bürgerlichen Opposition oder flieht man in Massen in die Arme rechtsextremer Bauernfänger?

 

Der Notstand, das sieht man heute schon, wird zum Normalzustand und 2012 wird zeigen, was geschieht, wenn ein Staat versagt, weil seine Regierung eine Ideologie über die Vernunft setzt und sich das Recht herausnimmt, Grundrechte außer Kraft zu setzen. Dabei spielt es keine Rolle, ob die Unvernunft im rot-weiß-grünen Kleidchen des großmagyarischen Nationalismus oder im Gewande des finanzmarkthörigen Marionettentheaters "Merkozy & Co." daherkommt, in beiden Fällen verlieren die Menschen, die Völker, verliert Europa. So gesehen ist überall ein bisschen Ungarn.

Marco Schicker

 

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