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(c) Pester Lloyd / 21 - 2012 GESELLSCHAFT 23.05.2012
Geldstrafen für Kinderlose?
Wie die Regierung von Ungarn einen Babyboom erzwingen möchte
Durch Belohnung und Bestrafung will die Regierung in Ungarn einen Babyboom auslösen. Wer mehr als zwei Kinder produziert, soll eine höhere Rente erhalten, wer sich weigert oder nicht kann, muss sogar mit Einbußen rechnen. Gleichzeitig poltert die Regierung gegen die abtreibungsfreudige EU und übersieht, dass potentielle Eltern eigentlich ganz praktisch definierte Bedürfnisse haben, um Kinder in die Welt zu setzen. Ideologie gehört eher nicht dazu...
7% Bevölkerungsrückgang in 30 Jahren...
Die Regierung Orbán steht, wie alle Regierungen in Europa, vor dem Problen, dass die Verschiebung der demographischen Verhältnisse zwischen Jung und Alt mittel- und langfristig die Beschäftigtenrate und damit die Stabilität der Sozialsysteme und des Staatshaushaltes gefährden. Ungarn leidet ohnehin schon an einer der niedrigsten Beschäftigungsraten in ganz Europa und kommte heute auf rund 55%, wobei rund Zweidrittel davon mit nicht viel mehr als dem Mindestlohn auskommen müssen. Zusätzlich schrumpfte die Bevölkerungszahl seit 1981 um 737.000 Menschen also um rund 7% und liegt seit 2011 erstmals unter der Marke von 10 Mio. Einwohnern.
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Omas sollen auf ihre Enkel aufpassen...
Eine der ersten Maßnahmen dieser Regierung war die Zuerkennung des vollen staatlichen Rentenanspruchs für Frauen, die 40 (versicherte) Berufsjahre nachweisen konnten. Im Zuge sonstiger Rentenalteranhebungen und der Umwandlung von Frührentnern in Steuerpflichtige, die dem "Arbeitsmarkt wieder zugeführt werden sollten", wusste man dies nicht anders zu begründen als mit dem Hinweis, dass "diese Omas dann auf ihre Enkel aufpassen können, damit die Kinder zur Arbeit gehen können." Nur leider gibt es diese Arbeit nicht, denn aufgrund der chaotischen Wirtschaftspolitik (und nicht des "ungünstigen globalen Umfeldes") befinden sich die meisten Unternehmen im Überlebensmodus und nicht so sehr in Einstellungsfreude.
Soziale Wohltaten nur ab 3 Kindern...
Weiterhin wurde für Familien mit mehr als zwei Kindern ein Familienfreibetrag zur Einkommenssteuer eingeführt, während der Steuerfreibetrag für Geringverdiener bei der neuen Flat tax wegfiel, nicht bedenkend, dass eine Familie mit einem Kind, die plötzlich weniger verdient als zuvor, wohl kaum die Lust und die Kraft für weiteren Nachwuchs aufbringen wird. Auch andere Wohltaten, wie die Wohnbauförderung, bevorzugte Behandlung bei Problemen mit Forex-Krediten kommen Familien mit mindestens drei Kindern zu Gute. Einen Kindergartenplatz suchen viele, zu viele aber bis heute vergeblich.
Bitte viele kleine Leistungsträger...
Nationalwirtschaftsminister Matolcsy behauptete kürzlich sogar, dass die Flat Tax 40.000 bis 50.000 "jungen Familien" bessere Lebensumstände bereitet hat und mitverantwortlich dafür ist, dass die Geburtenrate leicht im Steigen begriffen sei, was sie einzig aufgrund der niedrigen Basisdaten tatsächlich dieses Jahr ist. Dass sich die Einkommensverhältnisse für weit über eine Millionen Menschen im gleichen Zeitraum real verschlechtert haben, zeigt nicht nur die Kurzisichtigkeit dieser Berechnung, sondern legt die Vermutung nahe, dass ganz bewußt nur bestimmte Gruppen und Stände von "Leistungsträgern" gefördert und fertil motivitiert werden sollen.
Rentenkürzung für Gebärverweigerer
Neuester Anreiz für einen erhofften Babyboom soll durch einen Plan geschaffen werden, der Anfang Mai vorgestellt wurde. Danach soll das Rentensystem so reformiert werden, dass kinderreiche Personen im Alter höhere Bezüge erhalten. Dadurch erhofft man sich, potentielle Eltern zum Kinderkriegen zu animieren und so der demographischen Entwicklung im Land entgegenwirken zu können. Dies wollte man mit einem Punktesystem erreichen, wobei Versicherte mit keinem oder einem Kind Abzüge von ihrer Rente in Kauf zu nehmen hätten, Menschen mit 2 Kindern neutral behandelt würden und ab dem 3. Kind die staatliche Rente mit einer Kinderprämie versehen würde.
Nachdem von Seiten verschiedener Oppositionsparteien und NGO´s scharfe Kritik an dem Modell geäußert wurde, gab die Regierung nun bekannt, die Einführung nochmal zu überdenken. Immerhin. Ein Hauptkritikpunkt war, dass - ob gewollt oder ungewollt - kinderlose Personen, durch das Gesetz diskriminiert würden. Durch die wirtschaftliche Benachteiligung würden die Menschen in ihrem Recht auf freie Selbstentfaltung massiv eingeschränkt.
Das widerspricht der eigenen Verfassung genauso wie den Antidiskriminierungsgesetzen der EU, deren Mitglied man schließlich immer noch ist. Nehme man nur ein Beispiel: eine Frau, die 40 Jahre als liebevolle Kindergärtnerin gearbeitet, aber - aus welchen Gründen auch immer - selbst keine Kinder hat, würde durch die Regelung am Ende ihres Berufslebens bestraft. Die Kritiker machten der Regierung klar, was sie selbst eigentlich wissen sollte: der Grund für die niedrige Geburtenrate ist die soziale Unsicherheit, sind sinkende Reallöhne für die Mehrheit sowie mangelnde Betreuungsangebote, worauf diese "Rentenreform" keine Antwort bietet.
Angst vor dem Aussterben des Magyarentums
Auch das Thema Geburtenrate ist in Ungarn ein ideologisch besetztes. Die neofaschistische Jobbik, die - wegen der sich überschneidenden Wählergruppen - in vielen Bereichen die Regierungsparteien thematisch erfolgreich vor sich hertreiben kann, sieht das Magyarentum vor dem Aussterben, in den Nachbarländern wegen der Assimilisation, zu Hause wegen sozial bedingter Unlust und der Gebärfreudigkeit der "Zigeuner", weshalb man hier schon staatliche "Maßnahmen zur Geburtenkontrolle" forderte.
Pille danach als Mordanschlag der EU...
Orbán will aus den Ungarn "ein Volk in Arbeit" machen, das "auf den eigenen zwei Beinen" stehen kann, wozu man viele neue kleine Beine braucht. Was er dabei von Selbstbestimmung im Privaten hält, ließ er an ähnlicher Stelle durchblicken. Der Ministerpräsident sei "außer sich" vor Ärger gewesen, dass die zuständige nationale Gesundheitsbehörde die Einführung einer sogenannten „Pille danach“ in Ungarn genehmigte. Dies geschah aufgrund eines von der EU standardisierten Verfahrens, "wir mussten die Zulassung erteilen", entschuldigte sich das nationale Gesundheitsamt. Orbán sagte, dass dies noch lange nicht bedeutet, "dass deren Anwendung auch erlaubt werde".
Am Mittwoch inszenierte eine Antiabtreibungskampagne (die gleiche, die vor einem Jahr mit EU-Mitteln für Gleichberechtigungsprojekte Plakate mit Föten und dem Aufdruck "Gib mich wenigstens zur Adoption frei" kleben ließ, hier der Bericht) eine Demo vor dem Gesundheitsamt. Man bezieht sich dabei auf den Passus in der neuen Verfassung, wonach das Leben mit der Zeugung entsteht und entsprechenden Schutz genießt. Keiner mag mehr daran erinnern, dass die heutige Fristenregelung unter der ersten Orbán-Regierung eingeführt wurde, viel lieber weist man darauf hin, dass "die EU ungeborenes Leben tötet", wie ein eilfertiger Hinterbänkler der Regierungspartei anmerkte.
Das Leben wird vor der Geburt geschützt... und danach?
Ob die Regierung angesichts solcher ideologisch überhöhter Bevormundungstaktiken und selektiver Förderungen junge Leute motivieren kann, Familien zu gründen, darf stark angezweifelt werden. Diese orientieren sich nämlich eher an praktischer, sachlicher Politik und der Frage, wie geschützt das Leben und Wohl ihres Kindes vor allem auch nach der Geburt ist. Eltern wünschen sich Stabilität, flexible Arbeitsmodelle, ein gesichertes Grundeinkommen, eine Bildungs- und Zukunftsperspektive für ihre Kinder, kurz, eine allgemeine Menschenfreundlichkeit in der Gesellschaft und keinen Kultur- und Glaubenskampf, in dem das Kinderkriegen zu einer christlich-patriotischen Pflicht erhoben wird.
25.000 Kinder in Ungarn hungern regelmäßig, 120.000 Schulkinder gelten als nicht ausreichend ernährt, 400.000 sind nicht adäquat ernährt, weiß das Rote Kreuz zu berichten (Hintergründe dazu). Angesichts dieser Zahlen dürfte die Aufgabenstellung für die Regierung klar definiert sein.
Tim Allgaier / red.
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