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(c) Pester Lloyd / 03 - 2013   WIRTSCHAFT 18.01.2013

 

Zahlenscharmützel

Regierung und Opposition in Ungarn peitschen sich für den Wahlkampf auf

Einen wahlkampfwürdigen Schlagabtausch lieferte sich die Regierungspartei mit der Oppositionsbewegung "Gemeinsam 2014" von Ex-Premier Gordon Bajnai schon einmal hinsichtlich der Gestaltung und Besteuerung des Mindestlohnes, der in Ungarn Millionen Menschen betrifft. Die Regierung behauptet, Bajnais neoliberale Kumpane wollten die Ärmsten des Landes durch Lohnkürzungen ausnehmen. Doch der Wirtschaftsfachmann rechnete die Regierungsseite ziemlich kühl an die Wand.

Die Regierungspartei Fidesz zieh ihren - neben der MSZP, die aber gerade ihr Heil in Rumänien sucht - gefährlichsten Konkurrenten für die Wahlen 2014, "Gemeinsam 2014", in deren Wahlprogramm wäre eine empfindliche Kürzung der Mindestlöhne vorgesehen, was einen unerhörten Akt sozialer Kälte darstellte und "Millionen Familien in die Armut treiben" müsste. Außerdem würden die Kürzungen der Mindestlöhne auch automatische Kürzungen bei "acht anderen Sozialleistungen" nach sich ziehen, da diese an die Höhe des Mindestlohnes gekoppelt sind.

Der Minimallohn im europäischen Vergleich. Deutschland fehlt,
denn dort gibt es keinen flächendeckenden Minimallohn...

Man konnte, als der Fidesz-Sprecher das ausufernde Elend aus gekürzten Kindergeldern, geringeren Reha-Leistungen, gestrichenen Studentenbeihilfen und hungernden Behinderten an die Wand malte, die hässliche Fratze des Neoliberalismus geradezu mit Händen greifen. Außerdem lernten die Zuhörer, dass die Geringverdiener heute offenbar in einem äußerst bequemen sozialen Polster zu leben scheinen, die Berichte von EU und UN über 3,1 Mio.  Ungarn an und unter der Armutsgrenze (Tendenz steigend) also auch Teil der linken Verschwörung sein müssen...

Tatsächlich hat die Programmkommission der Bajnai-Stiftung "Heimat und Fortschritt" gemeinsam mit den von den Verbündeten Milla und Szolidaritás entsandten Experten die prozentuale Orientierung der Mindestlöhne an den Durchschnittslöhnen (30% des Medianwertes sollten es sein) als einen Punkt in ihr Steuer- und Arbeitspaket aufgenommen, jedoch ein wenig anders als es die Fidesz-Volksschützer darstellten:

Es ist genau umgekehrt: heute führen die von der Orbán-Regierung nicht unwesentlich angehobenen Mindestlöhne im Zusammenwirken mit der Abgaben- und Flat-Tax-Steuerpolitik (16% ab dem 1. Forint) zu geringeren Einkommen. Die Anhebung bringt also zunächst Einnahmen für den Staat und die Sozialkassen und entlastet diesen außerdem von Kompensationszahlungen, in dem er das Problem der Anpassung der Nettoeinkommen an die Arbeitgeber auslagert. Diese reagieren ihrerseits, in dem sie die Mindestlohnameldungen auf Teilzeitmodelle umschreiben, um zu hohe Lohnnebenkosten zu umgehen. Funktioniert das nicht, wird entlassen.

Bajnai rechnet der Regierung nun vor, was die Flat tax anrichtet: Als er 2009/2010 Ministerpräsident war, brachte ein Angestellter mit damals 98.000 brutto rund 75.000 HUF nach Hause, schafft er es bei gleichem Lohn heute nur noch auf 64.000 Forint, bei sich gleichzeitig erhöhenden Abgaben für die Arbeitgeber, die in den kommenden Jahren deshalb nochmals rund 50.000 Arbeitsplätze abbauen oder in die Schwarzwirtschaft abdrängen könnten. (2012 gingen der ungarischen Wirtschaft netto 40.000 Arbeitsplätze verloren).

Der Verlust für die Arbeitnehmer steigert sich durch Inflation und angehobene Verbrauchssteuern noch weiter. Seit erstem Januar 2013 gilt ein Mindestlohn von  98,000 (EUR 341) für Ungelernte und 114.000 forints (EUR 397), zuvor 108,000 für Facharbeiter aufwärts. Der Stundenlohn liegt somit bei ca. 1,66 EUR.

Bajnais Forderung: für die unterste Einkommensgruppe muss ein Steuerfreibetrag her, sodann ein mehrstufiges Steuersystem die Flat tax ablösen, bei dem der Staat jährlich rund 2% des BIP an Besserverdiener verschenkt. Ob Bajnais System funktioniert, ist nicht sicher und es wird auch kaum die prekären Arbeitsverhältnisse beenden, dazu bedarf es komplexerer Anstrengungen im gesamten Wirtschaftsgefüge. Aber es bekämpft wenigstens einige Grundungerechtigkeiten des heutigen, ständischen Lohn- und Abgabensystems, behält die Mindestlöhner mit dem Grundgehalt im legalen Arbeitssystem, bringt dem Staat mehr Einnahmen und verschiebt die Steuerlast mehr in die Richtung derjenigen, die von ihren Einkommen tatsächlich leben können.

Indirekt hat die Regierung den Nominalverlust für die Arbeiter längst auch zugegeben, denn das Kompensationsmodell, das im Vorjahr noch umständlich über die Unternehmen abgewickelt wurde und dafür sorgen soll, dass die Angestellten wenigstens in Zahlen nicht weniger verdienen als vor der Steuerreform, wird nun individualisiert umgesetzt. "Angestellte, die von der Mindestlohnanhebung benachteiligt werden, können ab Juni (!) um Staatshilfe ansuchen" heißt es in einer Aussendung aus dem Finanzressort. Für 11 Branchen (Lebensmittel, Textil, Gastro, Holzindustrie, Bau etc.) gibt es also dann nach einem halben Jahr ein paar Forint extra, rückwirkend ab März (!) berechnet. Januar und Februar finden nicht statt.

Fassen wir zusammen: die Regierung bringt das Kunststück fertig, die Löhne zu erhöhen und gleichzeitig die Leute mit weniger Geld nach Hause gehen zu lassen, sodann die Arbeitgeber mit mehr Abgaben zu belasten, um am Ende trotzdem weniger Steuern einzunehmen als im alten System. Als Höhepunkt posaunt sie diese "Leistung" als großartige Sozialmaßnahme durch die Welt, hat die Chuzpe, die Flat tax wiederholt als "porportionale, gerechte" Steuer zu feiern und unterstellt der Opposition, die würde nichts anderes im Sinn haben, als den Ärmsten noch das letzte Hemd auszuziehen. Das ist schon ein ganz besonderes Kabinettstückchen volkswirtschaftlicher Scharlatanerie.

Doch viel mehr, als Ängste vor dem Gegner zu schüren und auf dem Nationalpferd zu reiten, wird der Regierung bei ihrer bisherigen Bilanz kaum bleiben, da sie beim Sachgebiet Wirtschaft, dummerweise dem wahl- wie schicksalsentscheidenden für das Land, wirklich nicht gerade ihre Stärken hat, während Bajnai auf dem Gebiet der Wirtschaft ein Experte ist, auch wenn das nie ein Fidesz-Anhänger zugeben darf.

 

Tibor Navracsics, Fidesz, Vizepremier und als Justizminister auch für den Öffentlichen Dienst zuständig, hat schonmal gewarnt: das Land muss sich auf eine ganz üble Wahlkampgne, eine wahre Schlammschlacht durch die Linke einrichten. Das sagte er vorgestern in einem Interview ausgerechnet mit der Zeitung "Magyar Hírlap", jenem Blatt, das den übelsten rassistischen Hassprediger des Landes (auch Fidesz) beherbergt, dem Navracsics gerade ein anständiges Diskussionsniveau attestiert hatte. Navracsics meint darin, das Volk solle 2014 der Politik des Wachstums folgen und sich nicht von Emotionen aufpeitschen lassen. Das ist so weise gesprochen wie leichtsinnig dahergesagt, denn dieser Regierung kann nichts aufpetischernderes passieren als ein Volk, das plötzlich kühl zu rechnen beginnt...

Am 9. Februar will "Gemeinsam 2014", zusammen mit anderen Alliierten, den Wirtschaftsteil seines Wahlprogramms bei einer öffentlichen Kundgebung präsentieren.

cs.sz.

 

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