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(c) Pester Lloyd / 10 - 2013   POLITIK 10.03.2013

 

Vormärz

Demonstrationen und Proteste gegen Verfassungsputsch in Ungarn, Regierung leugnet

Die Proteste gegen die geplanten Verfassungsänderungen, die einen weiteren, großen Schritt zur Aushebelung von Demokratie und Rechtsstaat seitens der Orbán-Regierung darstellen, nehmen sowohl auf der Straße als auch auf diplomatischem Parkett zu, dürften aber letztlich - wieder - wirkungslos bleiben. Die Regierung feuert mit der üblichen Leugnung jedweden Problems zurück und spielt sich selbst als Demokratieverteidiger auf. Am Montag werden die 15seitigen Verfassungsänderungen durchs Parlament gewunken.

Demotag in Budapest: zunächst versammelten sich mehr als eintausend Geschädigte von Fremdwährungskrediten (hier mehr zu der Thematik und den Protesten), dann trafen sich rund 10.000 Anhänger der MSZP in der Papp-Sportarena, flankiert von etwas über einhundert Jobbik-Demonstranten, die gegen die Anwesenheit des rumänischen Premiers Ponta und für die "Freiheit der Székler" demonstrierten.

Ab 15 Uhr versammelten sich, unweit des Parlamentes, in der Verfassungsstraße, Bürger, die gegen die anstehenden tiefgreifenden Veränderungen an Verfassung und der Beschneidung der Rechte Verfassungsgerichtes aufbegehrten, eine Fortsetzung der spontanen Aktion vom Donnerstag an der Parteizentrale des Fidesz und auch eine Reaktion auf die hysterische Diffamierung der Protestierer seitens der Regierungspartei.

Worum geht es?
Bericht zu den Änderungen an den Kompetenzen, der Arbeits- und Funktionsweise des Verfassungsgerichtes
mit weiterführenden Links zur Verfassungsgeschichte seit 2010
“Selbstermächtigung”: Beitrag zu den Änderungen am Kerntext der Verfassung und Details bezüglich VfG
Originaltext der geplanten Verfassungsänderungen (pdf, engl.)
Brief Außenminister Martonyi an die europäischen Außenminister

Verschiedene NGOs riefen erst am Freitag zur Demo am Samstag auf, auch Vertreter oppositioneller Parteien waren anweisend. Die Hauptrede hielt der linke Philosoph Tamás Miklós Gáspár. Die Hauptlosung war "Die Verfassung ist kein Spielzeug!", was sowohl die ständigen Änderungen daran betrifft als auch der Missbrauch des Grundgesetzes für die Umsetzung von Macht- und Parteipolitik des Fidesz. "Eine Verfassung muss das einigende Grundelement für das ganze Land und seine Menschen sein, nicht das Bestrafungswerkzeug einer zeitweisen Mehrheit (gegen den Rest)", hieß es. Die diskriminierenden Änderungen (betreffend Obdachlose, Familienbegriff, Studenten etc.) müssten gestrichen werden.

Offizielle Zahlen sprechen von "mehr als tausend Teilnehmern", es waren eher mehrere Tausend, unabhängige Newsportale schätzten 6-7 Tausend. Die Polizei meldete einige Dutzend in schwarz gekleidete, Teils vermummte Männer, die durch Árpád-Flaggen-Symbole der rechtsextremen Szene zuzuordnen waren und sich in der Nähe der Demo versammelten. Die Polizei schirmte die Gruppe ab, diese mischte mit den bei solchen Anlässen üblichen Schmährufen (Judenschweine, Kommunistenpack, Landesverräter etc.) mit.

Über tausend Forex-Kreditgeschädigte versammelten sich am Samstag wieder unter der Losung “Kein Forint den Banken!”. Eine Demo, die weniger gegen die Regierung, viel mehr gegen die “internationale Finanzwirtschaft” gerichtet ist. Mehr dazu.

Vorgeschmack auf den 15. März

Die Demonstration am Samstag in Budapest lieferte einen Vorgeschmack auf den 15. März, jenen Nationalfeiertag, der mit den aktuellen Vorkommnissen jene Bedeutung bekommt, die er in anderen Ländern Europas seit 1848 hat, als es dort nämlich um eine bürgerliche Revolution gegen die Allmacht von Fürsten und Königen ging. In Ungarn feierte man bisher am 15. März lediglich einen (letztlich missglückten) Aufstand der heimischen Adeligen gegen die Habsburger 1848/49. Von bürgerlichen Rechten, Demokratie und Selbstbestimmung war damals - jenseits des verherrlichten (von den Adeligen aus Ungarn aber verbannten) Kossuth - nämlich eher selten die Rede. Ungarn durchläuft, was die Mobilisierung und das Bewusstsein für die Ereignisse angeht, derzeit eine Art Vormärz. Bis zum wirklichen Aufstand der Bürger, ob an den Wahlurnen oder mit anderen Mitteln, ist es jedoch noch ein langer Weg.

US-Regierung und Barroso melden sich zu Wort

Auch auf diplomatischem Parkett gab es weitere Bewegung. Nach den Stellungnahmen der deutschen Bundesregierung, dem Europarat und der EU-Kommission (wir berichteten ausführlich hier), hatte sich am Freitagnachmittag, nach mehreren Artikeln in namhaften amerikanischen Zeitungen, auch das US State Department mit "Sorge" zu den geplanten Änderungen an der Verfassung geäußert. Eine Sprecherin ließ eine Erklärung verbreiten, in der es hieß: "Die Änderungen verdienen einen genaueren Blick und gründliche Überlegung (...) Sie könnte das Prinzip der institutionellen Unabhängigkeit und der demokratischen Kontrollfunktion bedrohen, die Markenzeichen einer demokratischen Regierungsführung sind."

Etwas zur gleichen Zeit rief EU-Kommissionspräsident Barroso persönlich bei Orbán in Budapest an und mahnte an die Einhaltung europäischer Normen. Man habe dahingehend Zweifel, sowohl was einzelne neue
Bestimmungen der Verfassung betrifft als auch im Umgang mit der Judikative, gemeint hier das Verfassungsgericht.

Orbán & Martonyi antworten

Orbán antwortete, nach dem Telefonat nochmals schriftlich, dass er sich "voll zu europäischen Normen und Gesetzen bekennt" und, dass die Verfassungsänderungen genau diesem Bekenntnis folgen. Daher erhofft er sich auch die Unterstützung seitens der EU-Kommission dafür. Außenminister Martonyi übersandte allen europäischen Amtskollegen einen längeren Brief, der die bekannten Standpunkte der Regierung spiegelt und Martonyis Aussage unterstreicht, dass "jede Kritik daran unbegründet" sei.

Martonyi befleißigt sich darin mittlerweile der gleichen präpotenten Sprache wie Orbán und seine Sprecher und leugnet schlichtweg, was offensichtlich ist. Damit hat auch er, als letztes Regierungsmitglied, das zunächst noch Reste von Debattenfähigkeit behielt, seine Reputation aufgegeben. Der Brief ist hier dokumentiert und insofern interessant, weil er die von Anfang an geübte Verteidigungsstrategie der Regierung beispielhaft repräsentiert, die in Leugnung, Verdrehung, Verkürzung und auch offener Lüge besteht.

Martonyi setzt damit im Äußeren fort, was im
Inneren noch deutlicher propagiert wird. Wer gegen Orbáns Politik, gegen den Missbrauch der Verfassung als "Spielzeug" der Macht auftritt, wird als Antidemokrat hingestellt, während die Regierungspartei, eben durch ihre so sorgfältige "Behandlung" der Verfassung die Demokratie "schützt". Klingt absurd, ist aber so.

Ein Teil der Demonstranten machte sich nach der Protestkundgebung am Parlament noch zu einem Marsch am Donauufer auf, sozusagen auf den Spuren der “Winterrosenrevolution” der Studenten. Der Winter geht zu Ende, der Aufstand der Studenten ebenso. Startet am 15. März der ungarische Frühling?

Im Kalten Krieg verhaftete EVP-Kameraderie

Die Welle diplomatischer Depeschen, informeller Mahnungen, publizitärer Aufwallung erinnert an die Zeiten des Mediengesetzes (Anfang 2012) der neuen Verfassung (Anfang 2012) sowie einiger kleinerer "Zwischenfälle" zum Thema Obdachlose, Antisemitismus etc. Alle Wellen verebbten letztlich wirkungslos, keine der zunächst lauthals kritisierten Gesetze oder Maßnahmen wurden grundsätzlich oder von ihrer Wirkung her verändert, im Gegenteil, zwischenzeitlich sind die "Maßnahmen" so inflationär geworden, dass jede - noch so scharfe - Einzelkritik dem Problem Ungarn längst nicht mehr gerecht wird. Das Ergebnis ist ein Staat am Rande des Willkürsystems, zu dem es kommen konnte, weil die EU nicht über die richtigen Mechanismen für den Demokratieschutz verfügt und die Entwicklungen von der reflexartigen, im Kalten Krieg stecken gebliebenen EVP-Kameraderie gedeckt wurden.

"Demokraten" haben keine Skrupel, die Demokratie einzuschränken

 

Am Montag wird im ungarischen Parlament über die 15seitigen Verfassungsänderungen abgestimmt, einschließlich der Beschneidung der Kompetenzen des Verfassungsgerichtes. Die Zustimmung ist Formsache, kein Abgeordneter der demokratisch gewählten Regierungsfraktion hat Skrupel mit demokratischen Mitteln die Demokratie einzuschränken, einen regelrechten Verfassungsputsch zu vollführen. Trotz - mit Blick auf den 15. März noch zunehmenden - Demonstrationen auf Budapests Straßen oder den schon ritualisierten Protestnoten aus den Federn internationaler Politiker und Medien, ist keine Kraft absehbar, die Orbán aufhalten könnte. Jene Kräfte, die das könnten, wollen nicht. Diejenigen, die es wollen, sind zu schwach.

Die nächste große Demo der Opposition findet am 15. März statt.

red.

Worum geht es?

Bericht zu den Änderungen an den Kompetenzen, der Arbeits- und Funktionsweise des Verfassungsgerichtes
mit weiterführenden Links zur Verfassungsgeschichte seit 2010

“Selbstermächtigung”: Beitrag zu den Änderungen am Kerntext der Verfassung und Details bezüglich VfG

Originaltext der geplanten Verfassungsänderungen (pdf, engl.)

Brief Außenminister Martonyi an die europäischen Außenminister

Zum Thema:

Argumentum ad ignorantiam: Ungarn, Merkel und die europäische Selbstenthauptung - Kommentar

Besetzung der Fidesz-Zentrale und Ausdehnung der Demo zur “Staatsaffäre”

Fotos: MTI

red.

 

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