Ost-West-Drehscheibe
Pester Lloyd Stellenmarkt

Das Archiv ab 1854

 

Hauptmenü

 

 

 

 

(c) Pester Lloyd / 10 - 2013   POLITIK 06.03.2013

 

Argumentum ad ignorantiam

Ungarn, Merkel und die europäische Selbstenthauptung - Kommentar

Der Rachfeldzug der Orbán-Regierung gegen das noch immer widerspenstige Verfassungsgericht und die dagegen geplanten schwerwiegenden Änderungen an der Verfassung, einschließlich der Beschränkung der Handlungs- und Funktionsweise des Gerichtes, ziehen allmählich internationale Aufmerksamkeit auf sich. Nach der deutschen Bundesregierung meldete sich der Europarat zu Wort. Für Orbán bleibt das folgenlos, denn die EU kann viel, aber die Demokratie schützen kann sie nicht.

Nachdem zunächst Medien, dann Einzelpolitiker und Bürgerrechtsgruppen auf den neuerlichen Angriff aufmerksam machten, hat nun auch die bei der Kritik des EVP-Parteifreundes Orbán stets äußerst zurückhaltende deutsche Bundesregierung die Einhaltung rechtsstaatlicher Prinzipien wie der Gewaltenteilung und ein funktionierendes VfG angemahnt. Der Staatsminister im Außenamt, Michael Link, bezeichnenderweise ein FDP-Mann, schrieb die Bitte, doch nachzuweisen, dass man in Ungarn weiter über funktionierende rechtsstaatliche Mechanismen verfügt, in eine namhafte deutsche Tageszeitung. Hier der Text. Seine Worte sind viel klarer, als man das sonst von der Bundesregregierung kennt und doch sind sie zu wenig. Dass man sich angesichts der gezeigten Performance noch “überrascht” geben kann, dass alles einen wirtschaftlichen Bumerang-Effekt auslösen könnte, dass man darauf setzt, dass das Parlament seiner “Verantwortung gerecht” wird und Ungarn den “Ratschlägen” von Europarat etc. folgt, spricht auch eine klare Sprache. Eine Sprache der Hilflosigkeit.

Heute, Mittwoch, schloss sich auch der Generalsekretär des Europarates, Thorbjorn Jagland, dieser Kritik an, der gleiche, der vor wenigen Wochen dem ungarischen Mediengestz demokratische Unbedenklichkeit attestierte, weil die Regierung bereit war, die Amtszeit des Chefs des Medienrates auf neun Jahre zu beschränken. Im aktuellen Statement gibt auch Jagland zu verstehen, dass die schon getätigten und die sich anbahnenden Eingriffe seitens der Fidesz-Mehrheit tiefergehend sind als die formalen Kleinigkeiten, die man im Mediengesetz fand.

Die letzte Stufe der "Selbstermächtigung" ist seit 6 Wochen publik

Das Parlament möge die für Montag angesetzte Abstimmung über die Verfassungsänderungen "verschieben", damit die Venedig-Kommission, eine auf das Verfassungswesen der Schwellenländer spezialiserte Arbeitsgruppe des Europarates, Zeit hat, sich mit den Details auseinander zu setzen, so Jagland. Diese Zeit hätte die Kommission freilich längst gehabt, auf diesen Seiten berichteten wir über den ersten Anschlag auf das VfG am 1. Februar, wobei es um die Auslöschung von 22 Jahren Rechtspraxis durch das Verbot der Bezugnahme auf Alturteile ging. Mehr unter:
Richter im luftleeren Raum - Finaler Angriff auf das Verfassungsgericht.  Darin findet sich übrigens auch eine kleine Linksammlung, welche die Meilensteine der Verfassungsgeschichte seit 2010 auflistet und auch klar macht, dass es womöglich bereits länger ein grundsätzliches Problem mit Rechtsstaat und Demokratie in Ungarn geben könnte.

Den zweiten Bericht "Selbstermächtigung", brachten wir am 9. Februar, in dem wir detaillierter auf die einzelnen Änderungen an der Verfassung hinwiesen, die durch die Aufnahme von teils abstrusen Paragrafen in den Kerntext der Verfassung nicht nur das VfG zum Schweigen bringen sollen, sondern auch offen antidemokratische Maßnahmen wie den Bleibezwang für Studenten zum "Grundgesetz" erheben. Wie immer, folgten andere Medien mit ihren Berichten (bzw. meist mit unseren), Jagdlands Kommission hat also einen Monat geschlafen, nachdem man zuvor schon zweieinhalb Jahre geschlafen hatte.

Hier eine englische (inoffizielle) Übersetzung der neuesten Änderungsvorschläge für die Verfassung (pdf, Quelle: TASZ)

Merkel lässt mahnen, damit sie der direkten Konfrontation ausweichen kann

Damals mahnten wir bereits die Tatenlosigkeit der EU an. Angesichts dieser Verhöhnung des Rechtsstaates seitens der Orbán-Regierung sind jedoch einzelne Petitionen oder "besorgte" Statements engagierter Parlamentarier zu wenig. Daran hat sich bis jetzt nichts geändert, denn der Europarat ist kein EU-Gremium und die Merkel-Regierung "mahnt" immer nur dann zur Demokratie, wenn ein Thema in den Medien derart hochgespült wird, dass man sich Sorgen macht, dass die in Ungarn aktiven Konzerne unter dem schlechten Ruf des Landes mitleiden könnten. Das gleiche gilt auch für China, Russland oder andere Märkte von Interesse.

Am Mittwoch traf sich Merkel in Warschau kurz mit Orbán, das vorauseilende Statement ihres Staatsministers nahm ihr dabei die unangenehme Aufgabe ab, selbst den Mund - von ein paar Gemeinplätzen abgesehen - aufmachen zu müssen. Ob aus Faulheit, Desinteresse oder Feigheit, - man weiß es nicht. An anderer Stelle sagte sie mit ihrem unnachahmlichen Charme, dass sie "keine Zweifel" daran hegt, dass in Ungarn die Demokratie hoch gehalten wird (sinngemäß.) Nächste Woche kommt der neue Wirtschaftsminister Varga nach Berlin, da geht es dann um wirklich Wichtiges...

Nach zweieinhalb Jahren Demokratieabbau hat der Europarat "den Eindruck"

Jagland vom Europarat kommt, nun, einen Monat nach Bekanntwerden der Attacke zu der Erkenntnis, dass die "ungarische Regierung vom VfG annullierte Übergangsregelungen wiedereinführt. Das macht den Eindruck, dass die Regierung willens ist, ihre 2/3-Mehrheit im Parlament zu benutzen, um das VfG zu überstimmen, was die fundamentalen Prinzipien demokratischer Kontrollmechanismen gefährden könnte." Na, Bingo. "Es macht den Eindruck..." ist nach zweieinhalb Jahren Dauerbeschuss auf alles, was nach Demokratie riecht, - ebenso wie die "Zweifellosigkeit" der Kanzlerin - ein Argumentum ad ignorantiam ersten Ranges. Dabei ging es ja nicht "nur" um die Verfassung und ihr Wachorgan, es ging um die gesamte Gesellschaft und alle Institutionen. Auch das "überstimmen" an sich wäre noch keine Sünde, wenn das, was dann folgt, sich an rechtsstaatliche Prinzipien hielte. Doch Orbán peitscht, das hat er immer gesagt, eine "nationale Revolution" durch. Wann gab es jemals eine "demokratische Revolution"? - Jedenfalls, so Jagland abschließend, sollte dieser "komplexe Bereich" von "Experten" untersucht werden, damit die Venedig-Kommission "eine Meinung" abgeben kann. Orbán wird vor Angst erbeben.

Studentenverträge liegen bei Kommission auf dem Tisch

Immerhin hat sich heute die EU-Kommission eingeschaltet, namentlich der - übrigens aus Ungarn kommende - Sozialkommissar, László Andor. Die Verfassungsänderungen habe man im Blick, heißt es, allerdings warte man den genauen Text ab, dabei spricht Andor fließend Ungarisch. Wie auch immer. Auch diesmal geht es, wieder einmal nicht um das Grundproblem, die Entmachtung der Kontrolleure der Macht, sondern um einen Einzelpunkt, nämlich den der Studentenverträge, die - womöglich - als Einschränkung der Freizügigkeit, Niederlassungsfreihet etc. gegen EU-Regeln verstoßen. Das tun sie zwar auch schon, wenn sie nicht in der Verfassung stehen, aber immerhin kann wenigsten in diesem Punkt dem barbarischen Umgang der Regierung mit ihrer eigenen Jugend einmal eine Grenze gesetzt werden. Man wird sehen.

Wanken die Banken, rollt der Euro - wankt die Demokratie, kommt ein Telegramm...

 

Das Bild, das Merkel, Jagland und die EU abliefern, ist so erbärmlich, wie immer wieder erlebt: die EU kann eben nicht mehr leisten als ihre Zügelhalter zulassen. Die "Gemeinschaft" gewährt keine Garantie, dass die Demokratien, die ihre Mitglieder sind, auch Demokratien bleiben. Es gibt dafür weder einen Kontroll- noch ein Interventionsmechanismus. Man darf den Menschen ja nicht zu viel zumuten, zu viel "Macht" in EU-Hand? Ist politisch nicht durchsetzbar. Dass die Vorgänge in Ungarn von exemplarischer Bedeutung mit weitreichenden Folgen für die Bürger und ihre Rechte, auch über diese Regierung hinaus, sind, wird entweder ignoriert oder als Laborversuch fasziniert beobachtet.

Der demokratisch legitimierte Orbán, wie auch einst ein Berlusconi, oder heute Herr Ponta in Rumänien (übrigens ein "Linker"), der Herr Rajoy und wie die ganzen Wiedergänger heißen, kann, wenn er will, die Demokratie auch abschaffen, mit rein demokratischen Mitteln. Dass das möglich ist, ist zwar europäische Selbstenthauptung, scheint aber niemanden weiter zu stören, außer vielleicht ein Martin Schulz. Der muss sich für diese ungehörige Einmischung noch beschimpfen lassen. Europäische Grundwerte in ganz Europa? Wo kämen wir da hin? Verstößt Orbán aber gegen eine Binnenmarktrichtlinie, dann öffnen sich die Tore zur Hölle. Wanken die Banken, rollt der Euro, wankt die Demokratie, trifft sich die Venedig-Kommission und Merkel lässt ein Telegramm schicken. Kurz: gehts ums Geld, hört der Spaß auf. Stellen wir also fest: die Demokratie in Europa ist käuflich.

red. / m.s.

 

Möchten Sie den Pester Lloyd unterstützen?