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(c) Pester Lloyd / 12 - 2013   KULTUR 22.03.2013

 

Der zweite Tod der "Möwe"

Behörden in Ungarn räumen das "Sirály", ein Zentrum alternativer Kultur und jungen jüdischen Lebens in Budapest

Am Freitagmorgen kamen sie. Ein Sicherheitsdienst im Auftrag des VI. Bezirks von Budapest. Sie traten die Tür ein, wechselten die Schlösser aus und räumten den Szenetreff, das Multi-Kulti-Zentrum "Sirály", das in Budapest Kultstatus genießt. Doch sie hatten die Rechnung ohne die jungen Leute gemacht. Flugs organisierten sich einige Dutzend und enterten ihr Refugium zurück. Der Sicherheitsdienst rief die Polizei, die wollte sich nicht gleich mit rund 70 jungen, aufgebrachten Leuten auf eine Eskalation einlassen und "prüft" nun erstmal die rechtlichen Umstände.

Lebendiger Kiez: Das „Sirály“, ein echter Multi-Kulti-Szenetreff im Jüdischen Viertel von Budapest, Reportage aus dem Jahre 2010

Nur einen Tag zuvor hatte der Betreiber, die jüdische Kulturorganisation Marom, vertreten von Ádám Schöneberger, einen Brief der Bezirksverwaltung erhalten, der ihm den nächsten Tag als Räumungstermin ankündigte. Der Grund: Schöneberger nutze die Klubräume illegal für kommerzielle Aktivitäten. Dieser verneint das. Zutritt haben nur Clubmitglieder, Publikum nur zu angemeldeten Veranstaltungen. Getränke gäbe es zum Selbstkostenpreis. Vor allem aber “lebensgefährliche” bauliche Mängel führt die Immo-Verwaltung im Auftrag des Bezirkes an. Einen Mietvertrag hatte die Marom ohnehin nicht, nur eine Art mündliche Duldung, bis auf Widerruf. Unter der Vorgängerregierung überließ man den jungen Leuten den ehemaligen Buchladen, nur die Betriebskosten mussten sie zahlen.

Da genügt ein Blick, um das “Sicherheitsrisiko” zu erkennen: Sodom & Gomorrah miten in Budapest...

“Nestbeschmutzer” hatten sich ein Nest gebaut

Vorherige Proteste an die Immobilienverwaltungsfirma des Bezirkes, die den Nutzungsvertrag schon vor zwei Jahren aufhob, mit der Bitte um mehr Zeit, um zumindest die Einrichtung sicher zu entfernen, fruchteten nichts. Schon gar nicht der Hinweis darauf, wie viele kulturelle, politische, gesellschaftliche Aktivitäten in dem Kulturcafé stattfanden. Das waren eher Argumente, die gegen das Sirály sprachen, aus der Sicht des Bezirkes und der dort herrschenden Partei. Denn das Sirály (dt.: Möwe) war den Fidesz-Leuten als "Oppositionsnest", in dem sich NGO´s austauschten, Studenten Pläne schmiedeten und sich Bürgerbewegte artikulierten, längst ein Dorn im Auge. "Nestbeschmutzer" hatten sich hier ein Nest gebaut.

Dass der Club auch ein Zentrum junger, jüdischer Kultur im alten jüdischen Viertel von Budapest ist, macht die Vorgänge auch politisch heikel, in den nächsten Tagen sollte hier ein kleines jüdisches Kulturfestival im Rahmen des Passach-Festes steigen. Antisemitische "Ausrutscher" hatte sich diese Regierung schon einige geleistet, der letzte mit Namen Szaniszló ist gerade einen Tag her...

Anderswo wären Städte froh über so viel Initiatve - nicht in Budapest 2013

Die Kommunikation mit dem Bezirk war seit langem schwer gestört, auch die höhere Ebene, Oberbürgemeister Tarlós mauerte. Für das Sirály kam das "Aus" nicht zum ersten Male, schon 2011 entzog man den jungen Leuten die Betriebsgenehmigung, damals war es noch ein normales Café und wandelte sich dann unter dem Druck zu einer Non-Profit-Einrichtung mit subversivem Beigeschmack, die jedoch ein vielfältiges und überzeugendes Konzept aufweist und viele junge Leute anzieht. In anderen Städten wären die Verantwortlichen dankbar für so viel Eigeninitiatve und würden sie unterstützen. Nicht so in Budapest. Nicht 2013. So lief seit 2011 alles auf eine Duldung heraus, ohne schriftliche Vereinbarung.

Heute auf dem Programm: Held sein... Junge Leute solidarisieren sich mit den Besetzern. Ob es was bringt?

Auslöser Studentenproteste?

Die Aktivisten, die jetzt das Sirály retten wollen, mutmaßen, dass die Studentenproteste der letzten Monate ausschlaggebend für die Nacht-und-Nebel-Aktion des Bezirkes waren. Häufig hatten sich hier Aktivisten der HaHa und anderer Studentengruppen getroffen und von hier ihre die Regierung durchaus nervös machenden Protesaktionen gesteuert. Der Bezirk bzw. deren Immobilienverwalter bezieht sich nur auf die Rechtslage. Es gibt keinen Vertrag, man habe niemandem die Räume zur Nutzung überlassen, der bauliche Zustand sei "lebensbeddrohend", daher die Räumung. Komischerweise war der Bauzustand vor 6 Jahren, als es noch einen Mietvertrag gab, der gleiche. Der Bezirk setzte noch eins drauf und ließ erklären, dass der Verein Marom in der Vergangenheit immer wieder durch Veranstaltungen und Aktionen aufgefallen sei, die "das Einschreiten der Behörden und der Polizei" nötig gemacht hätten. Man kennt also seine Pappenheimer. Und nun versteht man auch, wenn im Schreiben von “Sicherheitsrisiko” die Rede ist.

Symbol für Selbstbestimmung und Freiräume

Dass das Sirály bald Geschichte ist, müssen auch die Besetzer, die heute zu Dutzenden ihren Club verbarrikadieren, früher oder später einsehen. Vielleicht findet sich woanders ein Platz, denn das Sirály (dt.: Möwe), das nun also zum zweiten Mal gestorben ist, war nicht einfach ein Club, sondern ein Symbol für Freiräume, Selbstbestimmung, Freiheit. Wie wichtig in der heutigen Enge, den nationalen Imperativs und der ständigen Bevormundung, wo junge Leute ein “Sicherheitsrisiko” darstellen, wo ein Kulturkampf tobt. Es sind einfach keine guten Zeiten für freifliegende Vögel in Ungarn...

red. / ms.

 

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