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(c) Pester Lloyd / 15 - 2013 GESELLSCHAFT 09.04.2013
Die Systemfrage
Warum die Verfassungsänderungen in Ungarn ein echtes Problem darstellen
Die 4. Verfassungsänderung in Ungarn war am Montag Thema beim Komitee für Bürgerrechte, Justiz und innere Angelegenheit des Europaparlamentes. Ungarn sieht allein die Fragestellung schon wieder als böse Kampagne, doch selbst die EVP-Waffenbrüder widersprechen ihren Parteifreunden mittlerweile deutlicher. Es ist nötig, der EU, aber auch Ungarn selbst die systemverändernden Auswirkungen der neuesten Verfassungsnovelle vor Augen zu führen, die im kläglichen tagespolitischen Schlagabtausch einfach untergehen.
“Nur Fidesz!” Ungarn auf den Punkt gebracht.
Das Komitee beim Europaparlament wird - parallel zur EU-Kommission - ein Dokument erarbeiten, das die rechtlichen, aber auch die demokratiepolitischen Bedenken gegenüber den Eingriffen in die Verfassung und die Kompetenzen des Verfassungsgerichtes zusammenfassen soll. Das Komitee hat, nach vorliegenden Entwürfen, zwei Aspekte in den Mittelpunkt seiner Untersuchungen gestellt: zum einen die Beschränkung des VfG auf die rein prozeduale und formale Prüfung von Verfassungsänderungen, zum anderen die Bestimmung, womit alle vor Inkraftreten der neuen Verfassung (Anfang 2012) gefällten Verfassungsgerichtsurteile nichtig werden und nur noch informell, nicht aber mehr als Basis oder Begründung für neue Urteile dienen dürfen.
Zum Thema: Das letzte Wort: Ex-Präsident Sólyom zu den Verfassungsänderungen (darin weiterführende Detail-Links und engl. Text des Änderungspakets)) Die Ein-Mann-Demokratie: 6 Fragen und Antworten zu Ungarn Europas Hammer: Artikel 7 als Option gegen Ungarn? Argumentum ad ignorantiam: Ungarn, Merkel und die europäische Selbstenthauptung
Bei ersterem Punkt, also der Untersagung (richtiger: Umgehung) inhaltlicher Prüfung, wird von Orbán-Anhängern, übrigens auch juristisch versierten, stets darauf hingewiesen, dass das VfG auch bisher keine inhaltlichen Prüfungen von Verfassungsänderungen vornehmen durfte. Diese Aussage ist falsch und wird gezielt eingesetzt, um die Kritik an den Vorgängen in Ungarn als sachlich haltlos zu diffamieren.
Ein Verfassungsgericht muss die Freiheit der Prüfkompetenz behalten
Das VfG hat - auf Begehr oder Eigeninitiative - jede Verfassungsänderung auch inhaltlich prüfen können, z.B. auf Widersprüche mit anderen Artikeln und Bestimmungen (was eben keine rein formale Prüfung ist) oder auf Verstöße gegen die, ebenfalls in der Verfassung verankerten, Grundrechte (höheres Recht). Diese Möglichkeit wird hinfort nicht nur durch den Entzug von Entscheidungsgrundlagen durch Streichung der Urteilsgeschichte (Alturteile) verhindert, die als lebendige Rechtspraxis, neben der Verfassung selbst, entscheidenden Anteil an der Entstehung einer verfassungsmäßigen Ordnung, an der "Kommunikation zwischen den Gewalten" (Sólyom), hatte, sondern vor allem durch den Umstand verhindert, dass das VfG hinfort nur noch prüfen darf, was von dem definierten Kreis der Antragsteller in Auftrag gegeben wurde. Es kann also den Prüfungsgegenstand nicht mehr auf allfällige inhaltliche Verstöße ausdehnen, selbst wenn diese im Rahmen eines formalen Prüfverfahrens zu Tage treten.
Diese Beschränkung gab es zuvor nicht, weshalb es z.B. auch zu den Urteilen kam, die Fidesz so verärgerten, dass die Entmachtung des Gerichtes nun vollständig sein soll. Ein VfG muss aber die Freiheit behalten, sich den Prüfungsgegenstand notfalls selbst zu wählen oder ihn auszudehnen, wenn es relevante Bedenken hat, sonst hat es als Instiution weder Sinn noch Funktion, erst Recht, da die Individualklage abgeschafft worden ist und es nur noch eine Frage der Zeit ist, bis auch das letzte Organ, das das Recht auf Einreichung von Klagen bzw. Prüfaufträgen hat, eine Fidesz-Filiale sein wird. (mal ganz abgesehen davon, dass auch die Zusammensetzung des VfG selbst bald in Richtung "Parteibüro" kippt).
Die Orbán-Verteidiger unterlassen es also, das Zusammenwirken von Gesetzen, ihre Wechselwirkung sowie die Art ihrer Anwendung zu untersuchen und berufen sich auf den reinen Text. Das Gesetz "rot" ist nunmal nur rot, das Gesetz "gelb" nur gelb. Dass beide zusammen dann doch "orange" ergeben, wird einfach geleugnet, um es in eine den Orbán-Jüngern verständliche, also infantile (Logo!) Sprache zu übersetzen. Gesetze haben einen Willen und eine Wirkung, der durch die sie schaffenden und anwendenden Menschen hervorgerufen wird, Gesetze bestehen nicht nur aus einem Text!
Aushebelung der Gesetzeshirarchie macht den Weg für Willkür frei
Durch die fortlaufende Aufnahme tagespolitischer Willensbekundungen der Regierungspartei in Verfassungsrang (Stichwort: Verfassung als Spielzeug), gepaart mit der Prüfungsbeschränkung, gelingt es der Regierungspartei, Artikel in die Verfassung aufnehmen zu lassen, die eigentlich gegen höheres Recht (Würde des Menschen, Gleichbehandlung, Freizügigkeit) in der Verfassung verstoßen. Damit, so erläuterte es u.a. der Verfassungsrechtler, Ex-VfG-Präsident und Ex-Staatspräsident Sólyom, umgeht die Regierung die bisher angewandte und in einem Rechtsstaat fundamentale Gesetzeshirarchie, über die eben auch das VfG wachte.
Aktuelle Beispiele für die Aufnahme von als verfassungswidrig festgestellten Artikeln in die Verfassung sind u.a.: die Möglichkeit der Kommunen, Obdachlose von bestimmten öffentlichen Orten unter Strafandrohung zu verbannen, unabhängig davon, ob mit dem Aufenthalt eine Straftat oder sonstiges Unrecht einhergeht, sie also als Gruppe zu kriminalisieren; auch die enge Definition der Familie als Konstrukt aus verheiratetem Mann und Frau und mindestens einem Kind oder die Bestimmung des "Bleibezwanges" für Studenen, die Berechtigung der (von Fidesz besetzten) Obersten Richterkammer auf Zuweisung von Fällen zu bestimmten Gerichten, die per Gesetz für den Fall gar nicht zuständig wären, etc. Ältere Beispiele sind u.a. Abschnitte des Mediengesetzes (wie z.B. jener ominöse, nach Meinung der Orbán-Anhänger auch nicht existente Artikel 13, der sich - erwartbar - als reiner Zensurmechanismus herausgestellt hat), aber auch die Verankerung des Einkommenssteuersatzes in einem Kardinalsgesetz (von denen es drei Dutzend gibt).
Regierungswechsel ohne Machtwechsel?
Dass eine neue Regierungsmehrheit (durch Tagespolitik im Verfassungsrang) an der politischen Gestaltung gehindert also blockiert wird, weil sie keine verfassungsändernde Mehrheit hat, ist auch ein Verstoß gegen höheres Recht, nämlich gegen jene Säule der Demokratie, die den Souverän definiert. Durch des Volkes Willen (Wahlen) muss ein Verantwortungs- und Machtwechsel herbeigeführt werden können und nur durch diesen. Ist dies nicht mehr gegeben, ist die Grenze zur Diktatur überschritten. In Ungarn haben wir nun, u.a. durch die Kardinalsgesetze, aber auch durch die Kompetenzen des Haushaltsrates und einige andere Kniffe, die absurde Situation, dass Wahlen zwar neue Mehrheitsverhältnisse herbeiführen können (wenn auch durch neue Wahlgesetze erschwert), die Politik in weiten Gebieten aber von der dann möglicherweise abgewählten Partei weiter bestimmt wird. Das wäre die Diktatur einer Minderheit über die Mehrheit. Es wechselt zwar die Verantwortung, nicht aber die Macht. Grund genug also, genauer hinzuschauen und Grund genug, die Systemfrage zu stellen.
Eine Parlamentsmehrheit ohne jegliche Kontrolle ist in Europa einmalig
Dass von Regierenden unpassende VfG-Urteile durch Grundgesetzesänderungen umgangen werden, ist an sich nichts Ungewöhnliches, im Rahmen der Anpassung an gesellschaftliche Paradigmenwechsel sogar angebracht und wird - auch zur Durchsetzung der eigenen Ideologie - in vielen Ländern angewandt (häufig z.B. in Österreich). Die Kritik an Ungarn richtet sich jedoch gegen den allumfassenden Sturz der Verfassungsordnung, der darin besteht, dass die Regierungsmehrheit grundsätzlich das letzte Wort in Verfassungsfragen beansprucht und es sich das VfG gefallen lassen soll, dass reihenweise, den Grundrechten widersprechende Gesetze zu Grundgesetzen werden. Dieses Vorgehen ist im heutigen Europa einmalig. Es, so wiederum Sólyom, stellt einen Systemwechsel dar, der bleibende Schäden am Rechtsstaat und der Demokratie in Ungarn verursacht, zumal die Verfassung und ihr sie schützendes Gericht das einzige nennenswerte Gegengewicht zum Ein-Kammer-Parlament war, Ungarn also als konstitutionelle Demokratie konzipiert war, die nun - für alle offensichtlich - in eine Willkürherrschaft einer Parlamentsmehrheit transformiert wurde, die sich jeglicher Kontrolle entzieht und die es in dieser Ausformung nirgends in Europa noch einmal gibt.
Ungarische Regierung antwortet mit der üblichen Verschwörungsthese
Die aggressiv-nervöse Mischung, mit der die Orbán-Partei und ihre ihnen blind folgenden Parteigenossen in Europa, auf die Untersuchung seitens der EU-Parlamentes reagieren, sprechen eine deutliche Sprache. Orbáns Truppen wissen, dass sie Mist bauen und versuchen daher mit allen Mitteln, die Stellung der Gretchenfrage zu vermeiden. Das ist nicht so schwer, denn die EU ist strukturell nicht dazu geschaffen, die Demokratie zu verteidigen, weil man die - dummerweise - als gegeben (die Linken) oder nicht so wichtig (die Rechten) voraussetzte. Fidesz: das EU-Parlament mische sich in Gebiete ein, die außerhalb seiner Zuständigkeit und Autorität liege und spreche auch noch mit Personen, die keine legitimen Vertreter Ungarns seien. Man fahre eine "Anti-Regierungs-Kampagne", die "einem politischen Plan" folgt, hieß es aus den Reihen der Fidesz-EP-Fraktion.
Merkel bleibt stur auf CDU-Linie
Selbst EVP-Kollegen widersprachen den "Parteifreunden", es gibt keinerlei "Kampagne" gegen Ungarn, nur das Bedürfnis nach Antworten auf besorgniserregende Fragen. Dies sei sehr wohl das Recht der Parlamentarier, erwiderten u.a. der EVP-Abgeordnete Frank Engel (Luxemburg) und sogar Anthea McIntyre von den britischen Konservativen. Leider reicht das Demokratiebewußtsein der EVP nicht bis auf die Ebene der nationalen Regierungen. Merkels kaltkriegerische Sturheit (sie hat offenbar noch aus FDJ-Zeiten verinnerlicht, dass man für die "gute Sache" auch mal ungustiöse Erscheinungen hinnehmen muss) und die größeren Probleme der EU, halten Ungarn vorerst noch den Rücken frei, zu mehr als ein paar Mahnungen hinter verschlossenen Türen ringt sich die einflussreiche deutsche Kanzlerin nicht durch. Die deutsche Großindustrie, die mit einem Fingerschnipsen Orbán ökonomisch an die Wand drücken könnte, hält ohnehin den Mund, sie hat in Ungarn den sehr kurzen Draht zur Macht und lässt sich hofieren. Ihnen ist die Rendite allemal wichtiger als die Lebensumstände der ungarischen Menschen oder die Demokratie in Europa, nur "Stabilität" zählt, ob die von einem Bürger oder einer Junta gewährt wird, war unseren "Wirtschaftseliten" schon immer einerlei.
Kinga Gál , ebenfalls Fidesz-Abgeordnete in Brüssel bzw. Straßburg fährt ganz den Stil ihrer Regierung und behauptet stur, dass "keinerlei Verletzung verfassungsmäßiger oder demokratischer Rechte" in Ungarn festgestellt werden können. Damit mag sie Recht haben, denn wo keine Demokratie und keine Verfassung, die diesen Namen verdient, kann es auch keine Verstöße gegen selbige geben. Sie bringt es, unbewußt, auf den Punkt: "Auftretende Probleme werden durch das System (!) korrigiert, das funktioniert." Das System aber ist Orbán. Nichts sonst.
Zum Thema:
Das letzte Wort: Ex-Präsident Sólyom zu den Verfassungsänderungen (darin weiterführende Detail-Links und engl. Text des Änderungspakets)) Die Ein-Mann-Demokratie: 6 Fragen und Antworten zu Ungarn Europas Hammer: Artikel 7 als Option gegen Ungarn? Argumentum ad ignorantiam: Ungarn, Merkel und die europäische Selbstenthauptung
red. / m.s.
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