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(c) Pester Lloyd / 18 - 2013   KULTUR 03.05.2013

 

3. Stockwerk: Freiheit

Das "Müszi" in Budapest gibt dem anderen Ungarn Raum

Orte und Konzepte, die sich der kulturpolitischen Zentralisierung entziehen können, werden in Ungarn seltener. Aber alternative Kunst- und Kulturszene in Budapest ist Kummer mit der Obrigkeit gewohnt, sie schafft sich immer wieder neue Räume, ist flexibel, nie ganz angekommen, arm, aber nicht zu fassen. Aktueller Hot-Spot der Gegenkultur, die eigentlich nur Teil einer Normalität sein will, ist die Müszi Szint, eine Etage freier Kunst und Begegnung in einem alten Kaufhaus. Ein Portrait.

Die schwere, rote Tür an der Ostseite des alten Corvin Einkaufszentrums, steht selten still. Im Minutentakt wird ihre Klingel betätigt. Mit dem Summton schwirren zielstrebige Besucher und mit Instrumenten oder Leinwänden bepackte Menschen hinein. Ein paar Neulinge stehen unschlüssig davor. Bin ich hier richtig? Im dritten Stock angekommen wird man von kreativen Wand-, Decken- und Bühnenkonstruktionen und einem Sammelsurium aus alten Möbeln begrüßt. Die knapp 2800 Quadratmeter des Müvelödesi Szint, kurz Müszi, beherbergen derzeit 25 Künstlerateliers, ein begrüntes „Großraum“-Büro, mehrere Ausstellungsräume, eine kleine Bar und einen Gemeinschaftsgarten. Müszi ist permanent im Werden begriffen und sieht bei jedem Besuch ein wenig anders aus; stets werden einige Ecken aus- und umgebaut. Die Zahl der Veranstaltungen, Ausstellungen, Performances, Lesungen und Workshops, wird zunehmend unüberschaubar.

An diesem Ort versammelten im März die Kuratorinnen Krisztina Hunya und Bea Istvánkó unter dem Ausstellungstitel „HG60 – Ästhetik des Widerstandes“ Werke namhafter Künstler wie István Nádler und Imre Bukta. Letzterem hatte sich bis wenige Wochen zuvor eine Einzelausstellung in einem der größten Museen für moderne Kunst Budapests, der Kunsthalle (Mücsarnok), gewidmet. Der vielzitierte ungarische Kulturkampf zwischen offizieller „National“-Kultur und subkulturellen Strömungen – ist er hier womöglich aufgehoben?

Rücktritte und Räumungen

Ein Blick zurück belegt eher das Gegenteil. Die Bukta-Ausstellung „Another Hungary“ galt nach dem Wechsel der Museumsleitung des Mücsarnok als vorerst letzte differenzierte Auseinandersetzung mit der nationalen Identität Ungarns, die am Heldenplatz zu sehen war. Der Leiter Gábor Gulyás trat aus Protest gegen die inhaltliche Kontrolle durch die national-konservative ungarische Kunstakademie (MMA) im November zurück. Deren Chef bezeichnet solche Schauen schon einmal als nationalblashpemisch und fordert von Künstlern nationale Gesinnung und Schaffen ein, sonst hätten sie heute keinen Platz mehr “bei uns”. Hier mehr:
http://www.pesterlloyd.net/html/1251mma3skandal e.html

Auch die Entstehungsgeschichte des „Community and Art Level“ Müszi zeugt vielmehr davon, wie groß das Loch ist, das zwischen staatlich unterstützter und alternativer Kultur im heutigen Ungarn klafft. „Wir hatten einfach keinen Platz“, fasst die künstlerische Leiterin des Projekts Júlia Barsóny die Ausgangslage zusammen. Als ihre Theatergruppe Third Voice (Harmadik Hang) im November 2011 ein studentisches Performance-Projekt vorbereitete, wurden in Budapest viele alternative Kulturstätten, unter ihnen Siraly und Merlin, geräumt und geschlossen. So auch der Probenraum der Harmadik Hang Company, der, wie die vorigen, in städtischem Besitz gewesen war. Schließlich stieß die Gruppe aus 40 Künstlern auf die leerstehende Fläche im dritten Obergeschoss des Corvin. Anders als eine Vielzahl baufälliger Räumlichkeiten im Stadtgebiet, befindet sich diese in Privatbesitz und bot damit eine größere Unabhängigkeit und Sicherheit. Im Dezember 2011, als Harmadik Hang ihr Projekt mit der mobilen Aufführung „Interfészkek“ abschloss, war längst klar, dass diese Möglichkeit längerfristig genutzt werden müsse.

100% Recycling

Es folgte eine Phase der Renovierung und Umgestaltung, die ohne finanzielle Ressourcen vor allem von der Arbeit vieler Freiwilliger abhing. Neben Material, das aus anderen, stillgelegten alternativen Zentren bezogen wurde, steuerten auch Nachbarn Möbel und Baustoffe bei. Die jungen Architekten und Künstler des Studio Nomad und Csipáncsap entwarfen auf Basis einer 100%-Recycling-Maxime ein erstaunliches Raumgestaltungskonzept an der Schnittstelle zwischen Funktionalität und Ästhetik.

Im September 2012 eröffnete das Projekt schließlich unter dem jetzigen Namen seine rote Pforte. Seitdem finden sich mehr und mehr Gruppen und Vereine im Müszi zusammen; die Zahl der Programme steigt stetig. Das macht es zu einem der lebendigsten Orte in Budapest. Zugleich zeigt sich hierin ein Bedarf an kulturellem Austausch jenseits kommerzieller oder politischer Vereinnahmung, der andernorts ungedeckt bleibt. „Die Resonanz belegt auch, dass im Ganzen etwas schief läuft,“ so Barsóny. In Anbetracht allseitiger Verdrängung alternativer Kunst- und Kulturstätten in Budapest sei vor allem die zentrale Lage Müszis wichtig.

Dass Kunst und Politik auf diesem Wege kaum mehr zu trennen sind, ist offenbar. So ist das Obergeschoss des Corvin in den vergangenen Monaten auch zu einem Ort für politische Äußerungen geworden, in dem sich studentische Aktivisten treffen und Demonstrationen organisiert werden. Bis vor einigen Monaten war die oppositionelle Bewegung Milla hier ebenfalls aktiv. Indes ist die Lage junger ungarischer Künstler prekär. Ohne Aussichten auf einen Übergang von der Subkultur zum Lebenserhalt gehen viele von ihnen ins Ausland. Diejenigen, die bleiben, sähen sich laut Barsóny zunehmend zu politischen Arbeiten motiviert. „Doch eigentlich möchte ich nicht permanent Politik machen, sondern vor allem auch inspirierende kulturelle Veranstaltungen.“

In kleinen Schritten

 

Als der japanische Butoh-Meister Daisuke Yoshimoto auf der Durchreise von Wien Müszi besuchte und spontan entschied, eine Tanz-Performance dort abzuhalten, kamen knapp 150 Menschen – obwohl die Veranstaltung lediglich einen Tag zuvor bekannt gegeben werden konnte. Es sind diese Momente spontaner Kreativität, die den Ort auszeichnen. Dauerhaft betreut wird er von lediglich fünf Organisatoren. Hinzu kommt eine Vielzahl wechselnder Freiwilliger, die die Flexibilität, Vielfalt und Offenheit des Projekts prägt. Da es jedoch weder auf das große Geschäft angelegt, noch auf staatliche Gelder angewiesen sein will, bewegt es sich stets am Rande des Möglichen. Die Miete wird über kleinere Eintrittsgelder, vor allem aber die (weit unter dem städtischen Durchschnitt liegende) Raummiete der Ateliers und Büroflächen bestritten.

Eine Ausstellung wie „HG60“ mag vorübergehend Aufsehen erregen. Man müsse jedoch derzeit in kleinen Schritten denken, erklärt Barsóny, und nach privaten Förderern suchen. Zeitgleich belegt das Beispiel Mücsarnok, wie umfassend die kulturelle Zentralisierung in Budapest derzeit vonstatten geht – und wie still. In diese Stille möchte das offene Gemeinschaftsprojekt schließlich einbrechen, als Forum, in dem ein freier Informationsaustausch stattfinden kann. Auf die Frage, welche Zukunft sie sich für Müszi wünscht, antwortet Barsóny jedoch mit dem gebotenen Realismus: „Hauptsache, es bleibt irgendwie am Leben.“

Infos und Termine, auch auf Englisch unter: www.muszi.org

Caroline Krahl

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