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(c) Pester Lloyd / 18 - 2013   NACHRICHTEN 03.05.2013

 

Ein bisschen Freiheit?

Wie steht es um die Pressefreiheit in Ungarn - eine Zwischenbilanz

Das aktuelle Ranking der NGO Freedom House zum Tag der Pressefreiheit (3. Mai) ergab für Ungarn keine signifkante Veränderung. Das Land rangiert auf Platz 74 einer Liste von 179 Staaten und die Medien werden als "teilweise frei" eingeordnet, auf einer Wellenlänge mit Serbien und Montenegro. Was heißt das in der Praxis, wie ist der Stand der Dinge nach 3 Jahren Mediengesetz und wie kann sich die EU hier nützlich machen?

Karikatur aus einer ungarischen Zeitung: Fortschritt. Journalisten werden nicht mehr eingesperrt, dafür legt man der Presse rechtliche Ketten an. Ungarn heute - auf dem pressefreiheitlichen Stand von 1862?

Während sich die EU beim 2010/11 eingeführten Mediengesetz (hier die Themenseite dazu) mit der Korrektur einiger technischer Fragen abspeisen liess und die Sache für die ungarische Regierung damit erledigt ist, demonstriert Orbán in der Tagespolitik ungerührt weiter, dass Gesetze nicht nur einen Text, sondern auch eine Wirkung haben.

Das gilt nicht nur für die Medien, auch die Verfassung und die republikanischen Strukturen insgesamt. Seine Regierung betrachtet die
Demokratie und ihre Gewalten als Werkzeug für die Eigeninteressen und das Land, damit auch die Medien, als Beute. Letzteres taten auch seine Vorgänger, doch niemand hat im Nachwendeungarn bisher strukturell und charakterlich derart deutlich gemacht, dass er diese "Beute" nie wieder herzugeben gedenkt.

Die Medien stellen, im Gegensatz zu den kastrierten Verfassungsinstiutionen, der (Klientel)-Wirtschaft samt Förder"kultur" und der zur Staatskunst umfunktionierten Kulturszene nur einen Bereich dar, der - vermeintlich - relativ wenig mit dem alltäglichen Leben der Menschen zu tun hat. Und doch ist seine Aufteilung und / oder Einschränkung so gründlich wie in allen gesellschaftlichen Bereichen und geradezu exemplarisch:

Öffentlich-Rechtliche wurden zu königlichen Medien gleischgeschaltet:

- der Reformierungsbedarf bei den öffentlich-rechtlichen Anstalten wurde konsequent für personelle Säuberungen von "liberalen Elementen" genutzt, insgesamt
wurden rund 800 Mitarbeiter gefeuert
- eine straffe strukturelle Umgestaltung und politische Vorgaben führten zu einer selektiven, regierungsfreundlichen bzw. irrelevant seichten Berichterstattung, der Marktanteil der öffentlich-rechtlichen Anstalten betrug im ersten Quartal 2013 noch ganze 13,6%
- die restlichen Mitarbeiter werden eingeschüchtert,
gewerkschaftliche Vertretung wird bekämpft
- die ohnehin eingeschränkte Redaktionsfreiheit wurde gänzlich beseitigt, die staatliche Nachrichtenagentur MTI als einzige Quelle erlaubt, redaktionsintern gelten gesonderte Sprachregelungen und No-Go-Listen hinsichtlich unliebsamer Persönlichkeiten, Orbán und seine Leute haben bei der Redezeit eine 4/5-Mehrheit, auch hier kehrte die "Kádárzeit" zurück
- in Kleinstädten und Dörfern wird ein Netzwerk parteinaher "öffentlicher" Lokalmedien unter Missbrauch außerparteilicher Strukturen errichtet, teilweise mit monopolistischem Charakter und unter Einsatz von Steuergeldern
- der Medienrat ignorierte lange sogar letztinstanzliche Gerichtsurteile
(Fall Klubrádió) bei der Frequenzvergabe, während partei- bzw. ideologienahe Rundfunksender Vorzugsbedingungen eingeräumt bekamen
- durch das Verbot von Wahlwerbung im privaten Fernsehen (außer bei Europawahlen) erhält der öffentlich-rechtliche, aber einparteilich dominierte Mediensektor eine exponierte Stellung im kommenden Wahlkampf
- redaktionelle Zuarbeit auch für Neonazis dies drückte sich bereits auch in
inhaltlichen Zuarbeiten für die ungarischen Neonazis aus
- Auftragsvergabe der Sender wie der Verwaltung an parteinahe Netzwerke, teilweise ohne auch nur den Versuch die Hintergründe zu vertuschen

Private Medien unter Druck, ökonomisch und journalistisch

- vor allem über den
schwammigen Artikel 13 des Mediengesetzes, der Ausgewogenheit und politische Neutralität verlangt, wird direkte Zensur ausgeübt, wie u.a. das Verbot des Medienrates (an den TV-Sender ATV) Rechtsextreme als Rechtsextreme zu bezeichnen, belegt.
- Beschwerden gegen Hetze, Falschdarstellungen etc. werden fast alle abgewiesen, außer jene die von der Partei Jobbik stammen. Dahinter steckt neben ideologischer Vorliebe vor allem auch wahltaktisches Kalkül
- mit dem Hebel über Anzeigenaufträge öffentlicher Institutionen und staatlicher bzw. staatsnaher Betriebe, die einen großen Anteil am existentielle notwendigen Anzeigenaufkommen haben, werden nicht-regierungsfreundliche Medien ökonomisch an die Wand gedrückt
bzw. regierungsfreundliche teilweise im Milliardenmaßstab (Forint) unterstützt
- Fidesz-Parteiorganistionen
kauften sich über "Kooperationsvereinbarungen" direkt gefällige Berichterstattung 
- der materielle Druck auf die Verleger sorgt für existentielle Ängste bei den Journalisten und fördert Selbstzensur
- Während die großen (ausländischen) TV-Anstalten fast komplett auf Kommerz umgeschaltet haben, was das Publikum dankbar annimmt, so
ging der TV-Konsum in den letzten Jahren sprunghaft nach oben, bleibt die Printmedienszene politisch gespalten und parteipolitisch dominiert, wobei die jahrelang von linksliberalen Parteien dominierte Szene zur rechtsnationalen Seite gekippt ist, sowohl im Pressebereich wie auch beim Rundfunk und den kleineren TV-Sendern.

Regierung: Freiheit ist gegeben und sichtbar

Die Regierung argumentiert: die massive Kritik, die sie auch durch inländische Medien einstecken muss, sei der beste Beleg für die Pressefreiheit. Fakt ist: Die Regierung lügt, die Beispiele oben widerlegen sie. Fakt ist aber auch: unabhängiger Journalismus (nicht einfach nur die andere Seite der Medaille) ist in Ungarn nach wie vor existent und möglich, findet aber in begrenzten Biotopen statt, unterliegt einem hohen kommerziellen und persönlichen Risiko und war auch schon in der Vor-Orbán-Zeit ein seltenes Pflänzchen. Journalisten müssen sich heute mehr denn je entscheiden, ob sie dem Mainstream oder ihrem Ethos - so vorhanden - folgen. Letzteres hat Konsequenzen, unabhängige Berichterstattung bedeutet in Ungarn heute den Verzicht auf eine konventionelle Medienkarriere und damit auch ein persönliches Risiko, abseits persönlicher Anfeindungen und Angriffe.

Was kann Europa gegen die eingeschränkte Pressefreiheit in Ungarn tun?

Europa verhält sich in Medienfragen und damit auch gegenüber Ungarn bigott: Begrüßenswert ist die Initiative der Regierungen Deutschlands, den Niederlanden, Dänemarks und Finnlands, endlich einen
permanenten Mechanismus für den Schutz der Grundwerte im Artikel 2 des Lissabon-Vertrages einzuführen und Gesetze an ihrer Wirkung auf die Grundfreiheiten zu messen und nicht nur an der textlichen Unbedenklichkeit mit EU-Regeln. Immerhin existieren und funktionieren diese Regelüberprüfungen bei den freien Märkten sehr effektiv, die freie Gesellschaft und mit ihr die Medien wurde bisher eher nur abstrakt geschützt, weil man sie als in der EU fast natürlich gegeben ansah. Ein schwerer Irrtum, wie nicht nur Ungarn anzeigte. Hier muss - nicht nur was den Medienbereich betrifft - ein deutlicher Paradigmenwechsel her. Allerdings steht die Medien- bzw. Pressefreiheit gar nicht explizit in Artikel 2, sie ist dort höchstens durch den "Pluralismus" abgedeckt. Auch hier braucht es klarere Ansagen, die inneres und äußeres Bekenntnis voraussetzen.

Ganz kontraproduktiv ist die EU jedoch, wenn sie -
wie es gerade geschieht - hinsichtlich der "Förderung der Pressefreiheit" eine Expertenkommission einsetzt, die über einheitliche staatliche Medienaufsichten und weiterführende Regularien nachdenkt, einschließlich der gezielten Förderung "EU-freundlicher" Berichterstattung. Damit ginge sie letztlich den ungarischen Weg, der nur zu Ende führt, was auch im Westen als Vereinnahmungsversuche durch Parteipolitik bekannt ist.

Für die staatlich unabhängigen Medien braucht es in einer freiheitlichen Ordnung keine Sondergesetzgebung, denn es existieren Gesetze für alle Körperschaften und juristischen Personen, die u.a. Verleumdung, Beleidigung etc. ohnehin ahnden. Das einzig akzeptable Mediengesetz steht u.a. im deutschen Grundgesetz: Die Presse ist frei, eine Zensur findet nicht statt. Dabei hat es zu verbleiben.

Wie gehts in Ungarn weiter?

 

Um mit Heinrich Heine zu sprechen: Zensur war und ist nicht nur falsch, sie ist auch unmöglich und fällt am Ende immer auf den Zensor zurück. Orbáns Strangulierungsversuche sind auf längere Sicht zum Scheitern verurteilt, können bis dahin aber noch nachhaltigen Schaden in der Gesellschaft anrichten. Ändern kann sich etwas, wenn die EU auf die Einhaltung von Grundwerten pocht und den Medienarbeitern in Ungarn damit einen Background gibt, der Grundstandards ermöglicht, wenn nötig, erzwingt. Dies gelingt nicht durch vereinheitlichte Regulierung, sondern durch eine Befreiung. Eine halbe Freiheit gibt es nämlich nicht.

Eine bunte, freie und den Menschen des Landes Informationen und Stimme gebende Medienlandschaft aber kann nicht die EU aufbauen, das können nur die Ungarn selbst mit den ungarischen Journalisten, die diesen Namen verdienen; durch Qualität, Beharrlichkeit und ein stabiles Rückgrat, diesem - neben der spitzen Feder - eigentlich wichtigsten Werkzeug des Journalisten. Denn, so noch einmal Heine, es sind letztlich die Journalisten, die der freien Presse am meisten schaden, so wie die Theologen dem lieben Gott am meisten zusetzen. ...

red. / ms.

Aus dem Archiv des Pester Lloyd:

Aus dem Pester Lloyd von 1866
Maurus Jókai: Presse und Zensur in Ungarn
http://www.pesterlloyd.net/html/1866jokaipresseundzensurinunga.html

Aus dem Pester Lloyd von 1920
Zensur der Zensur
Nachgeschrieben von Julian Weiß
http://www.pesterlloyd.net/html/1920weiszzensurderzensur.html

Aus dem Pester Lloyd von 1929
Börne und Heine sprechen über Presse und Pressefreiheit
Von X.Y.Z. (Julian Weisz, Anm.)
http://www.pesterlloyd.net/html/1929saphirheineundboernesprech.html

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