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(c) Pester Lloyd / 35 - 2013   POLITIK 26.08.2013

 

Sabotage am Rechtsstaat

Nazialltag in Ungarn: Uniformierte Aufmärsche, applaudierendes Publikum, kalkulierende Politik

Am Sonntag versammelten sich, unter der Schirmherrrschaft von zwei Dutzend einschlägig bekannten Neonazi-Gruppierungen, wieder einmal ein paar hundert "Gardisten" auf dem Budapester Heldenplatz zu einer feierlichen Vereidigung von Neumitgliedern, aus Anlass des "6. Geburtstages" der eigentlich verbotenen "Ungarischen Garde". Sie waren uniformiert, sie marschierten über den Andrássy Boulevard und auf dem Heldenplatz, interessiert dreinschauendes bis zustimmend applaudierendes Publikum gab ihnen Geleit, von Gegendemonstranten keine Spur, die Polizei sicherte den durch die behördliche Genehmigung legal gemachten Aufmarsch.

Alltag in Ungarn: ungestörte Aufmärsche von Neonazis, begleitet von ihren “Lieben”. Eigentlich verboten, aber naja... - Dass die Staatsmacht sehr wohl durchgreift, wenn es ihr notwendig erscheint, beweist ein Vorfall vom Savaria-Straßenkarneval in Szombathely, ebenfalls am Sonntag: ein umfangreiches Polizeiaufgebot schleppte eine Hobbymusikerin vom Rande der Veranstaltung ab, weil sie die Straßenmusikantengebühr nicht bezahlt habe (bei einem öffentlichen Straßenkarneval!!!), offenbar ein gesellschaftsgefährdender Vorgang...’ Hier dazu Artikel und Video: http://www.nyugat.hu/tartalom/cikk/videon_a_rendorseg_ma_hajnali_akcioja Der Veranstalter entschuldigte sich mittlerweile, die Polizei nicht. Die Sache beginnt gerade, in den - unabhängigen - ungarischen Medien, ihre Runde zu drehen.

Uniformierte Aufmärsche, zumal in bewohntem Gebiet, sind in Ungarn per Gesetz verboten. Volksverhetzung, die Aufwiegelung und die Beleidigung von Minderheiten sind in Ungarn verboten. Gesetze, die aus Anlass der rassistischen und militaristischen Aufmärsche der sog. "Ungarischen Garde" (verboten seit 2009) und Ausschreitungen (u.a. in Gyöngyöspata) sowie iherer umtriebigen und vielgestaltigen Nachfolgeorganisationen geschaffen bzw. verschärft wurden, aber nur sehr selten Anwendung finden.

Nazistiefel auf dem Andrássy-Boulevard in Budapest am Sonntag. In der gleichen Straße befindet sich das “Haus des Terrors”, in dem am Tag zuvor noch Regierungspolitiker sehr medienbeflissen den Opfern der Terrorregime des 20. Jh. gedachten...

Polizei und Staatsanwaltschaft verschließen hinsichtlich der Uniformier- und Marschierverstöße meist die Augen oder haben Deutungsschwierigkeiten, die Neonazis verlegen ihre Aumfärsche mitunter auf "Privatgelände" und benennen sie nicht als Märsche, sondern Spaziergänge oder Familienfeste. Es ist offensichtlich, dass sich die Exekutivpraxis dem politischen Willen der Regierungspartei unterworfen hat, die in den Garden eine Art Ventil sieht und die Sympathisanten des rechtsextremen Spektrums nicht unbedingt als bekämpfenswert betrachtet. Beim Aufmarsch am Sonntag musste man sich nicht einmal mehr die Mühe der Verstellung machen.

Am Montagmittag schob die Regierung ein Statement, betitelt: “Andenken an die Gründung der Ungarischen Garde”, hinterher, dass - da auch auf Englisch verbreitet http://www.kormany.hu/en/prime-minister-s-office/news/commemoration-of-the-hunga rian-guard-s-founding - auch international keine Zweifel an der “Rechtmäßigkeit” des Aufmarsches aufkommen lassen sollte und indirekt noch das vorbildliche, rechtskonforme Verhalten der Teilnehmer lobte: “Am Sonntag fand eine Demonstration am Heldenplatz statt, bei der die Teilnehmer der Gründung der ungarischen Garde 2007 gedachten. Die Veranstaltung wurde ohne Gewaltakte oder irgendeine illegale Aktivität absolviert. (...) zwar habe man “uniformartige Kleidung” identifiziert, aber “niemand hat die Uniform der ungarischen Garde getragen”, meldet die Regierung lesbar erleichtert. Allerdings verwickelt sich die Regierung in einen Widerspruch - einmal abgesehen davon, dass die Bewertung der Rechtslage in Rechtsstaaten Sache der Judikative wäre - schreibt sie doch, dass ihr Gesetz von 2011 darauf abzielte “das Patroullieren in Uniform” zu unterbinden, nicht nur in Uniformen verbotener Organisationen. Man beruft sich bei der Genehmigung auf das Gerichtsurteil aus dem Vorjahr, das ein Polizeiverbot überstimmte. In diesem Jahr versuchte die Polizei nicht einmal den Gang vor Gericht, obwohl Aufmarsch und Uniformierung noch offensichtlicher waren als zuvor. Die Regierung beläßt es in ihrer Aussendung dann bei den üblichen Nazi-Abwehr-Beschwörungsformeln. - Interessanterweise war die Seite ab Dienstag nicht mehr erreichbar...

Beängstigend ist bei diesen Vorgängen die offensichtliche Rechtsbeugung, die Arbeitsverweigerung der Gesetzeshüter und Strafverfolgungsbehörden sowie die gleichgültige Routine mit der eine europäische Hauptstadt den Aufmarsch offen neonazistischer Gruppierungen hinnimt, zum Teil noch begrüßt. Das ist nicht mal in Berlin Hellersdorf möglich!

Immerhin geschahen die sechs Morde an Roma 2008/2009 auch an Orten und im zeitlichen Fahrwasser solcher Aufmärsche. Was damals noch eine beängstigende Welle extremistischen Aktionismus` war, ist heute zum Alltag, zum so un- wie selbstverständlichen Teil des politischen Geschehens und des Straßenbildes geworden:

Die offizielle Politik, die Orbán-Regierung, behauptet in standardisierten Statements, "alles" gegen Rassismus etc. zu tun, doch:

- die Lohnschreiber der Regierungspresse stellen den Aufmarsch der geübten Toleranz gegenüber der Schwulenparade gegenüber,

- noch andere Kommentatoren sähen ohnehin gerne mehr "Kommunisten" und "Liberale" sterben und schreiben die ungarischen Roma - im authentischen Nazijargon - als Tiere ab.

- Fidesz-Bürgermeister laden Gardisten schonmal zu Denkmalseinweihungen ein,

- Jobbik-Banden umrahmen mit ihren Aufmärschen eine Prozession zum Nationalfeiertag an der Basilika,

- Rechtsextremisten halten offizielle Wehrlager für Kinder ab, teilweise staatlich mitfinanziert.

- ein Fidesz-Minister hat kein Problem damit, rechtsradikale Gesinnung mit staatlichen Orden für “herausragende wissenschaftliche” resp. “künstlerische” Leistungen zu behängen,

- der Staat "kooperiert" mit Jobbik-Bürgermeistern bei der teilweise amtlich rassitischen Durchsetzung der Kommunalen Beschäftigungsprogramme

- antisemitische Schriftsteller sind Teil des Schullehrplans, einer davon erfuhr öffentliche Huldigung durch den Parlamentspräsidenten

- ein Gericht verbietet, Neonazis als Neonazis zu bezeichnen, der Medienrat untersagt die Titulierung rechtsextrem für Jobbik.

 

Die Duldung dieses Aufmarsches, ein Tag nach dem offiziellen und medial sorgfältig begangenen Gedenken an die Opfer totalitärer Regime, macht die politisch kalkulierende Heuchelei zur offenen Lüge und lässt die Regierung auf leisen Sohlen mitmarschieren. Sie begeht hier eine weitere Sabotage am Rechtsstaat. Die sie stützende Schwesterpartei CDU (Minister Balog war am Wochenende Gast auf dem Vertriebenentreffen von Erika Steinbach) macht sich an diesen Entwicklungen mitschuldig.

Politisches Kalkül der Mächtigen trifft auf politische Ohnmacht und Gleichgültigkeit des Volkes. Diese Mischung war in Europa mehrmals tödlich. Die "Gardisten" lassen keinen Zweifel daran aufkommen, dass ihre Ziele ebenfalls tödlich sind.

Weitere Details zu dem Aufmarsch bei Pusztaranger:
http://pusztaranger.wordpress.com/2013/08/25/4076/
Dort auch eine gründliche Dokumentation weiterer Auswüche der Nazi-”Kultur” in Ungarn

Fotos: Népszava

m.s.

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