THEMA: WAHLEN UNGARN 2014

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(c) Pester Lloyd / 10 - 2014   GESELLSCHAFT 07.03.2014

 

Bis zum nächsten Pogrom?

Ungarn zahlt "Entschädigung" für Roma-Anschlagsserie von 2008/09

Rund 6 Jahre nach der
Anschlagsserie auf ungarische Roma, mit sechs Toten und mehreren Verletzten, hat die Regierung am Donnerstag die Zahlung einer Entschädigungssumme bzw. "Unterstützung" verkündet. Selbst diese späte, bescheidene Geste "der Humanität" nutzte der zuständige Staatssekretär noch für eine Dosis Wahlkampf. Doch nicht nur die Polizisten von damals sind heute noch im Dienst, auch der Boden für solche Pogrome ist fruchtbarer denn je.

Beerdigung der Mordopfer von Tataszentgyörgy, 2009.

In Zusammenarbeit mit der Opfer-NGO "Weißer Ring" und durch Erteilung eines Regierungsdekretes im Januar, kam man nun auf eine Summe von 70 Millionen Forint (ca. 226.000 EUR) für "dreißig betroffene Familien", also im Schnitt 7.500.- EUR pro Familie, wobei die Beträge "unter Berücksichtigung der Bedürfnisse und Lebensbedingungen" aufgeteilt werden sollen. Fünf Familien verloren Angehörige, eine davon Vater und ein fünfjähriges Kind, andere trugen Verletzungen mit teils dauerhaften Schäden davon, von den psychischen Belastungen ganz zu schweigen. In zwei Fällen wurden die Häuser komplett abgefackelt, in mehreren anderen unterschiedlich stark beschädigt.

Die Regierung pries die Maßnahme, trotz der äußerst bescheidenen Summen, als "Akt der Humanität", den man nun zügig umsetzen wolle, ohne das rechtsgültige Urteil abzuwarten. Mitarbeiter des "Weißen Rings" werden die Familien auch weiterhin direkt betreuen, "finanziell und menschlich", sagte der zuständige Staatssekretär Zoltán Kovács, der anfügte, dass die Begünstigten anonym bleiben würden und man ihre Bedürfnisse auch langfristig beobachten wolle.

Die Opferfamilien hatten bereits nach den Anschlägen vor allem von Nichtregierungsorganisationen tatkräftige Hilfe erhalten, u.a. bei der Renovierung der Häuser, rechtlicher Vertretung, aber auch bei der Suche nach adäquater medzinischer Versorgung und Arbeit. Mit Amtsantritt 2010 zahlte der damals für die Roma zuständige Staatssekretär und heutige Superminister Balog 8,5 Mio. HUF (2.500 EUR) für die Renovierung von vier Häusern, was bis heute die einzige direkte Hilfszahlung des Staates blieb.

Kovács behauptete bei der Präsentation des Zahlungsbeschlusses, dass "damalige Staatsbehörden" die Ermittlungen zu den Mordfällen von 2008/09 "verschleppt" hätten. Kovács spielte damit auf einen der Täter an, der zuvor
als V-Mann des Geheimdienstes geführt worden war, was im rechten, also auch dem Regierungslager, zu der hartnäckigen Saga führte, die verzweifelten Sozialisten hätten die Anschlagsserie selbst angezettelt, um Panik im Land zu verbreiten, um so ihre dahingehende Macht durch Notstandsgesetzgebung zu sichern.

Doch selbst ohne diese Verschwörungstheorie, waren die Vorgänge damals eine Schande sondergleichen: Der Prozess gegen die vier Täter begann im März 2011 und endete vorigen Sommer erstinstanzlich mit Haftsrafen von bis zu 21 Jahren, wobei eine weitere Verwahrung offengehalten wurde. Die Täter wurden Ende 2009 verhaftet, im August 2010 waren die Ermittlungen abgeschlossen. Nach den ersten vier Morden sprach die Polizei 2008 noch immer von "unklaren Hintergründen" und sogar "mutmaßlichen internen Machtkämpfen" von Roma-Clans.

Der Höhepunkt der Ermittlungsleistung der Polizei wurde jedoch erreicht, als diese nach dem Doppelmord in Tataszentgyörgy 2009, als ein Vater mit seinem fünfjährigen Kind (Foto rechts) auf der Flucht aus seinem brennenden Hause erschossen wurde, direkt am Tatort erklärte, man müsse die Todesursache erst noch ermitteln, während Journalisten dem Presseoffizier herumliegende Patronenhülsen präsentierten. Wenige Tage zuvor war die von Jobbik gegründete "Ungarische Garde" durch den Ort marschiert, ihre Nachfolgeorganisationen marschieren noch immer, trotz gesetzlichen Verbots...

In der Folge wurde 2009 eine Sonderkommission eingesetzt und immer klarer, dass es sich um gezielten Mord mit rassistischen Motiven handelte. Im Vorfeld des Prozesses wurde - auch von Ermittlern - über Verbindungen der Verdächtigen zu heute noch operierenden rechtsextremen Organisationen gesprochen, was aber in der Verhandlung und auch sonst nicht weiter bearbeitet wurde.

Dass für die Ermittlungspannen rassistische Vorurteile oder schlicht mangelnde Empathie gegenüber den Opfern maßgeblicher waren als technisch-taktisches Versagen kann als gesichert gelten, nicht umsonst gilt die größte Polizeigewerkschaft in Ungarn als rechtsradikal und unterzeichnete im Mai 2009 - also noch unter sozial-liberaler Aufsicht - ungestraft einen "Sicherheitspakt" mit der Neonazi-Partei Jobbik.

Das eigentlich Tragische ist jedoch, dass die grobe bis kriminelle Gleichgültigkeit der Vorgängerregierungen von Wahltaktierereien der heutigen Regierungspartei gegenüber dem Anhang der Jobbik und die daraus resultierende Law-and-Order-Politik gegenüber den Roma ersetzt wurde. Trotz vollmundiger Beteuerungen des missionarisch bewegten Ministers Balog - hat sich nichts Maßgebliches an der Situation der Roma, ihrer Verelendung, Ausgrenzung und Bevormundung und schon gar nichts an der Ablehnung seitens der Mehrheitsbevölkerung geändert. Die "Nationale Romastrategie" war immer und blieb bis heute nur ein Aufsichtsprogramm ohne selbstbestimmte Perspektive (hier unsere Zwischenbilanz nach drei Jahren), die Roma wurden und werden weiter als Fremdkörper der Nation behandelt, umso mehr in der heute so forcierten völkischen Deutung des “Magyarentums”. Die Fidesz-Regierung zieht sich in ihrem "Monitoring" genauso armselig an ein paar Musterprojekten hoch wie ihre Vorgänger. Wenn ein heutiger Staatssekretär Vorgängern also Versäumnisse vorwirft, dann ist das so als spuckt er den Roma des Landes offen ins Gesicht.

 

Die Szene der Rassisten ist in den letzten vier Jahren in Ungarn nicht unbedingt größer, aber hoffähiger geworden und regiert bereits in mehr als einem Dutzend Gemeinden, oft auch welchen mit hohem Romaanteil. Die Neonazis von Jobbik sind selbstverständlicher Teil der Politlandschaft geworden, nicht mehr nur ein Phänomen. Mit ihnen wird gerechnet, nicht abgerechnet. Die sozialen Spannungen auch in der Mehrheitsgesellschaft - der Grundhumus für jeden Faschisten - sind in den letzten vier Jahren weiter gewachsen. Der Boden für Pogrome wie unter der Vorgängerregierung vor 5-6 Jahren ist - wir sahen das sehr eindrücklich 2011 in Gyöngyöspata - nach wie vor fruchtbar, jetzt ist aber noch besser organisiert und finanziert.

red. / ms.

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