THEMA: WAHLEN UNGARN 2014

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(c) Pester Lloyd / 10 - 2014   POLITIK 03.03.2014

 

Unterwegs im Pulverfass

Zwischen den Fronten: Ungarn fürchtet um seine Landsleute in der Ukraine

Die EU-Nachbarn Polen, Slowakei und Ungarn fürchten bei einer weiteren Eskalation der Lage in der Ukraine eine riesige Flüchtlingswelle. Ungarn sorgt sich außerdem um 150.000 "Landsleute" in der Karpatenukraine, die unter die Räder der nationalistischen Machtübernahme geraten. Erste Übergriffe gab es bereits. Ausgerechnet Premier Orbán gilt durch seinen kürzlichen Milliarden-Deal mit Russland nun als Verbündeter Putins und darf auf der anderen Seite lernen, welche Folgen völkische Politik zeitigt.

UPDATES, 3.3., 16:50 Uhr:

> Ministerpräsident Orbán äußerte sich am Montag am Rande eines Wirtschaftstermins zu den Vorgängen in der Ukraine. Ihm war, als die Situation auf der Krim zu eskalieren begann, sein Schweigen vorgeworfen worden, was aus Rücksichtnahme für Moskau zu erklären sei, meint die linke Opposition. Die "ungarische Regierung sorgt dafür, dass die Ungarn in der Karpatenukraine sicher leben können", sagte er, wiederum ohne eine Sepzifikation dieser Garantie zu geben. Ungarn sei aber "nicht Teil des Konfliktes". Man stehe für "Frieden, Sicherheit und Respekt vor internationalen Abkommen", wie sie vom "Krisenmanagement auf europäischer Ebene vertreten werden". Jedenfalls könnten die "Ungarn in der Ukraine auf uns zählen."

> Der Staatssekretär im Außenministerium, Németh, dementierte heute Medienberichte, wonach bereits mehrere tausend Hungaro-Ukrainer über die Grenze nach Ungarn geflohen seien, räumte aber ein, dass "mehrere hundert", zumeist junge Männer, vor der ausgerufenen Generalmobilmachung, also der Einziehung in die Armee, geflohen seien. Deren Angst sei unbegründet, denn die ungarische Minderheit würde nicht eingezogen, behauptete Németh. Der Aufruf des amtierenden Verteidigungsrates schließt die ethnischen Minderheiten jedoch keineswegs aus, allerdings wird der Bescheid in den verschiedenen Landesteilen sehr unterschiedlich ausgelegt und in Teilen des Landes einfach ignoriert.

> Bei einer Demonstration vor der russischen Botschaft versammelten sich am Sonntag rund zweihundert Aktivisten des linken Wahlbündnisses "Zusammenschluss", darunter auch Ex-Premier Bajnai, der Orbán einmal mehr die Abhängigkeit zu Russland vertieft zu haben. Gemeinsam mit seinen Bündnispartnern, Ex-Premier Gyurcsány und MSZP-Chef Esterházy forderte er Orbán auf, den AKW-Ausbau sowie den Milliarden-Kredit von Russland bis zur Beruhigung der Lage auf Eis zu legen. Die Regierung schoss zurück, dass die schamlose Opposition den Konflikt im Nachbarland für ihre politischen Zwecke missbrauchen wolle. Ungarn stehe im Einklang mit den europäischen Werten und setze sich für Frieden, Demokratie und Souverenität ein.

> Ungarische Nazis wittern offenbar Morgenluft in der Ukraine: Die Partei Jobbik, die sich bereits mehrfach dazu äußerte, den "Schandvertrag von Trianon" bei Gelegenheit auch mit robusteren Methoden "rückgängig" machen zu wollen und die sich auf bis zu 20% Wählersympathien stützt, forderte jetzt "territoriale Autonomie" für die "ethnischen Minderheiten in der Westukraine", meint damit natürlich die Ungarn, aber auch "die Ruthenen", nicht jedoch die Roma. Chefideologe Márton Gyöngyösi, bekannt für seine Forderungen nach einer Registrierung der Juden im ungarischen Parlament, erklärte, dass der "Konflikt, der an den Kalten Krieg erinnere", die Konsequenz der Aktivitäten der "Unterstützung von Finanz-, Wirtschafts- und Geheimdienstkreisen in Washington und Brüssel für die ukrainische Opposition" seien, eine "Provokation, die das System untergraben soll". Es sei nun die Zeit, dass die Minderheiten effektiv geschützt werden und nicht mit in den sich anbahnenden militärischen Konflikt gezogen werden. Die Interimsregierung in Kiew sei illegitim, die ungarische Regierung solle sich gefälligst nur um die "nationalen Interessen Ungarns kümmern und nicht die Ziele der euroatlantischen Politik verfolgen."

Ungarns Außenminister Martonyi gedenkt mit seinen V4-Amtskollegen
der Opfer der Unruhen am Majdan in Kiew. Hier kamen binnen weniger Tage rund 100 Menschen
ums Leben, Demonstranten ebenso wie Sicherheitskräfte.

Ungarns nicht mehr ganz junger Außenminister, János Martonyi, hat ein langes, hartes Wochenende hinter sich. Am Donnerstag reiste er zusammen mit seinen Amtskollegen der "Visegrád Vier"-Gruppe (Slowakei, Tschechien, Polen, Ungarn) zunächst nach Kiew, um sich mit dem von den Majdan-Parteien ernannten Übergangspräsidenten Alexander Turschinow zu treffen. Anschließend ging es nach Donezk und Charkow, zu den regionalen Vertretern der Partei des Flüchtigen Janukowtisch, die im Osten des Landes die Macht behaupten.

Die Vier wollten auch auf die Krim reisen, aber "niemand dort kann für unsere Sicherheit garantieren", meldete der Pressesprecher der V4. Damit ist auch schon umrissen, wie schwer es den Nachbarländern fällt, im Machtkampf der Supermächte und der zwei großen Blöcke in der Ukraine, ihren Belangen Gehör zu verschaffen, zumal man als EU-Vertreter nicht gerade als neutraler Gast anreist. Martonyi fuhr am Samstag und Sonntag noch auf eigene Faust von Pontyuk zu Pilatow, um die jeweiligen Machthaber für die ungarischen Sorgen zu sensibilisieren und den "Landsleuten" im Westen der Ukraine Mut zu machen.

Drei der V4-Länder sind Nachbarn der Ukraine und würden die humanitären Auswirkungen einer Eskalation durch eine Flüchtlingswelle unmittelbar zu spüren bekommen. Längst sind dort Krisenstäbe eingerichtet und laufen Notfallpläne an, man ist in humanitärer Alarmbereitschaft, Orbán überflog persönlich im Helikopter die Grenze. Ungarn sieht sich zudem in der Verantwortung für knapp 150.000 ethnische Ungarn, die rund 10% der Bevölkerung der Westprovinz Karpatenukraine ausmachen, in ihren historischen Siedlungszentren vor allem in und um Berehowe (Beregszász) teilweise die Hälfte der Bevölkerung und auch den Bürgermeister stellen. Auch in den Städten Mukachevo (Munkács) bis Uschgorod (Ungvár) gibt es eine ungarische Minderheit von knapp 10%, dazwischen auch etliche Dörfer, die sogar mehrheitlich von ethnischen Ungarn bewohnt werden.

Martonyi zum Gedankenaustausch bei Udar-Chef Vitali Klitschko, dessen Einfluss in der Ukraine viel geringer ist, als es die Kalten Krieger im Westen sich gerne wünschen.

Diese könnten nun zwischen die Fronten und unter die Räder des Konfliktes kommen und Teil der "ethnischen Säuberungen" werden, wie sie von den Strumtruppen des "Rechten Sektors" und der nazistischen Partei "Swoboda" versucht werden. Wie gemeldet, wurde in der vorigen Woche von diesen die Stadratssitzung in Beregszász überfallen und gewaltsam aufgelöst. Es sei hier nochmals an die brandgefährliche Absurdität erinnert, dass diese Gruppierungen die Speerspitze jener Bewegung in Kiew bilden, die von "Strategen", vor allem aus dem im Kalten Krieg hängengebliebenen "bürgerlichen Lager" in der EU, voran auch hier wieder einmal Deutschland als "proeuropäisch" deklariert werden. Immernoch!

Martonyi hat es aufgrund der EU-Politik, die er ja mitvertreten muss, aber auch der Vorgaben und Vorarbeiten seines Chefs, Premier Orbán, nicht leicht, den verschiedenen Playern einen klar verständlichen Standpunkt seines Landes darzulegen oder gar Empathie für die Belange Ungarns und der Ungarn in der Ukraine zu wecken: Orbán, ein Meister des politischen Timings, hat just am Beginn des Aufstandes in Kiew einen 10 Milliarden Euro schweren Kreditvertrag mit Putins Russland für sein AKW abgeschlossen. Sein Land - so sehen es die Kritiker in und außerhalb Ungarns - habe er damit praktisch über Nacht an den Kreml verpfändet und sich so auch politisch von Moskau abhängig gemacht. Schneller als gedacht, kann ihm nun seine "Ostöffnung" auf die Füße fallen.
Ungarn selbst hat sich auf die Schwelle zwischen Ost und West gestellt und wundert sich nun, dass es sich die Finger einklemmt.

Hinzu kommt, dass Orbán durch seine offensive, vor allem aus innenpolitischem und ideologischem Kalkül betriebene "Nationalitätenpolitik" in den letzten Jahren zigtausende ungarische Pässe in der Karpatenukraine verteilen ließ, was bei ukrainischen Nationalisten durchaus als revisionistische, feindliche Politik aufgenommen wurde. Es wird für Nationalisten daher nicht leicht sein, Nationlisten wegen ihres Nationalismus` zu schelten. Beide, Orbán wie die nationale Rechte der Ukraine befolgen eine völkisch ausgerichtete Politik. Dass diese im multiethnischen Europa zu Konflikten führen muss, darf Orbán nun aus erster Hand studieren.

Gleichzeitig half die russlandfreundliche Janukowitsch-Ära, dass die ethnischen Ungarn gewisse Zugeständnisse bei ihrer kulturellen Autonomie, vor allem bei der Verwendung ihrer Muttersprache erreichen konnten, d.h. die politischen Vertreter der Karpato-Ungarn gelten als Janukowitsch-freundlich, was gerade wenig hilfreich ist, denn der Mann wurde mittlerweile sogar von den russlandfreundlichen Kräften als Verlierer verabschiedet.

Unter diesen Umständen, zu denen auch die Unwichtigkeit Ungarns im globalen Ränkespiel gehört, blieb Außenminister Martonyi nicht viel mehr, als Absichtserklärungen entgegenzunehmen und ein paar markige Sätze fürs Protokoll abzuliefern, auf das die Belange der Ungarn in der Westukraine während des Tauziehens zwischen Ost und West nicht ganz unter den Tisch fallen.

“Tu keinem Ungar weh!” - Minister Martonyi ermutigt Karpato-Ungarn bei einer Messe in Beregszász.

Die Visegrád Vier erklärten ihren Besuch als kleinen Erfolg, denn Übergangspremier Arsenij Jazenjuk, der gerade mit der Mobilisierung der ukrainischen Streikräfte und der Entrussifizierung des Sicherheitsappartes sowie mit der Abwendung der Staatspleite ein paar wirkliche Probleme zu lösen hat, nahm sich die Zeit, die Nachbarn zu empfangen und eine "baldige Lösung des Sprachengesetzes" zu versprechen, dessen Aufhebung den Gebrauch der Minderheitensprachen im Amtsverkehr verbietet, wo er doch in Gemeinden, die mehr als 10% Minderheitenanteil haben, bisher erlaubt war. Die Umsetzung des Verbots im Westen sei bis auf Weiteres auf Eis gelegt, im Osten wird es ohnehin ignoriert. Ob Jazenjuk überhaupt in der Lage ist, einzuschätzen, was auf dem Lande im Westen vor sich geht, steht auf einem anderen Blatt.

Die V4 erklärten: Priorität solle zwar die territoriale Integrität der Ukraine haben, dennoch sollte den "östlichen Regionen" Zugeständnisse gemacht werden, so dass der "Krimkonflikt" sich nicht über die östlichen und südlichen Regionen ausbreitet. Bei allen Entwicklungen sei den Menschen- und Minderheitenrechten der "volle Respekt" zu gewähren. Neben Jazenjuk trafen sie auch den amtierenden Außenminister Andrej Deschitsja, den Chef der in Kiew verbliebenen Reste der Janukowitsch-Partei der Regionen, Alexander Efremov und den vom Westen gepushten, aber vollkommen unnützen Vitali Klitschko mit seiner Udar. Während die Vertreter des "Euromajdan" weiter auf das EU-Assoziierungsabkommen drängen, das sie so schnell wie möglich unterzeichnen wollten, gab der Vertreter der von der Macht abgelösten Partei der Regionen zu verstehen, dass man die "Legitimität der neuen Regierung nicht in Frage stellen werde", sondern als "konstruktive Opposition" auf eine Stabilisierung der Verhältnisse bis hin zu neuen Wahlen hinarbeiten wolle.

 

Bei seinen weiteren Stippvisiten in Uschgorod, Mukachevo und Berehowe versuchte sich Martonyi mit einer Mischung um Verständniswerbung und Drohgebärden, er traf Ungarn-Vertreter, alte und neue Regierungsvertreter. Er sagte, dass die ungarische Minderheit "gefährdet sei" und "neuen Bedrohungen" ausgesetzt ist. Ungarn aber "keinen Angriff auf Ungarn in der Ukraine unbeantwortet lassen werde". Ein Satz, der bei "Svoboda"-Leuten und Aktivisten des "rechten Sektors" sicher tiefen Eindruck hinterlässt, zumal Martonyis Instrumentarium rein homöopathischer Natur ist.

In einer Rede im Anschluss an eine Messe in Beregszász sagte er zu "Landsleuten", dass die "Essenz der Politik" der "neuen ungarischen Regierung" gegenüber den Nachbarländern lautet: "Tu den Ungarn nicht weh!". Dieser Slogan "gilt heute mehr denn je." Der Bürgermeister gab ihm zu verstehen, dass er um sich und seine Leute Angst habe, dass man vor allem aber auch ökonomisch am Ende sei. Martonyis Hilfszusagen waren hier aber noch ungefährer als in politischen Fragen. Es dürfte beiden Seiten klar sein, dass man den wirkenden Kräften weitgehend hilflos ausgeliefert ist und es um weit mehr geht als um ein Minderheitensprachengesetz.

red.

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