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(c) Pester Lloyd / 44 - 2014   POLITIK   29.10.2014

 

Proteste gegen Orbán: Das europäische Ungarn meldet sich zurück

“Orbán, hier spricht das Volk!” titelt das führende - unabhängige - Newsportal index.hu und zitiert damit die gestrigen Demo von 100.000 Menschen. Die Regierung und ihre Sprachrohre antworten wie Autokraten eben antworten: mit Stümperei und Diffamierung. Gelingt der "Generation Internet", was der kopflosen demokratischen Opposition bisher misslang? Längst geht es nicht mehr um die Internetsteuer. Es geht um Orbán oder Europa. Bericht &Kommentar

Nach dem offiziellen Ende der Demo am Dienstag (unser Bericht), bei der laut Reuters ungefähr 100.000 Menschen teilgenommen haben, sind ca. 3.000 Menschen weiter zum Parlamentsgebäude gezogen. Eine Polizeikette stand davor, es blieb friedlich. Die Menge forderte, dass am Parlament wieder die EU-Flagge weht (ein Neonazi-Abgeordneter hatte sie am Ende der vergangenen Sitzungsperiode aus dem Fenster geworfen, der Fidesz-Parlamentspräsident eine Neubeflaggung unterlassen). Von den sechs bei der ersten Demo am Sonntag Verhafteten wurde einer freigelassen, die anderen fünf werden heute dem Richter vorgeführt.

 

Die Regierungsmedien, voran die “Magyar Nemzet”, der Staatsfunk, die “Magyar Hírlap”, Hír TV u.ä. versuchen angestrengt, die Oppositionsparteien MSZP und DK sowie “linksradikale Aktivisten” und “ausländische Agenten” als Dratzieher der Proteste zu belegen und streichen die Behinderung des Hír TV Teams bei der Berichterstattung als Beleg für die antidemokratische Gesinnung der Demonstranten heraus. Dass sich die Proteste über die Internetsteuer hinaus auf die korrupten Machenschaften der Orbán-Regierung und die immer prekärere Lage großer Bevölkerungsgruppen bezogen, wird verschwiegen.

Am Mittwochmorgen meldete sich auf ATV der Fidesz-Abgeordnete Szilárd Németh und brachte die verdrehte Denke der Regierung unters Volk: “Die Regierung wird die Internetsteuer nicht zurücknehmen.” Sie sei “eine gute Chance und Möglichkeit den Zugang zum Internet auszubauen.”

Die Fidesz-Einpeitscher rufen bereits zum Gegenschlag mit einem “Friedensmarsch” auf, doch auch sie sind erstmal baff, dass man ohne gemietete Buskolonnen, Direktiven der Fidesz-Ortsvorsteher, Dienstanweisungen von parteinahen Firmen, Sonderzügen aus Polen und kostenlose Schmalzbrote, nur mit einer “Facebook”-Seite so viele Menschen mobilisieren kann, die ihre Losungen noch dazu selbst mitbringen!

Linke und liberale Medien sehen in dem Aufmarsch und in den Demos in mindestens zehn weiteren Städten, “die größte Oppositionsbewegung seit der Machtübernahme Orbáns” heranwachsen, ein Aufbegehren des jungen, modernen, vor allem aber des europäischen Ungarns gegen eine fortschritts- und freiheitsfeindliche und zudem zutiefst verlogene Regierung, die nicht für das Volk, sondern ihre Klientel arbeitet. Am Sonntag hieß, bezugnehmend auf die Zeitumstellung: "Orbán: Wir haben zwar die Uhr zurückgestellt, aber nicht das Jahrhundert"...

Betont und für die Zukunft auch erhofft, wird vor allem der parteiunabhängige Charakter der zunächst spontan an einer Sachfrage entstandenen Bewegung, die sich zu einem allgemeinen, lebensbejahenden Protest gegen die Fidesz-Regierung entwickelte. Das sei sowohl für die Orbán-Regierung ein “Weckruf”- finden sogar einige konservative Medien - wie auch eine Lehre für die Oppositionsparteien, die eine solche Mobilisierung selbst nicht schafften bzw. durch ihre Inkompetenz und Selbstsucht wieder zerstörten. Orbán muss sich von Links, Mitte und immer mehr auch Rechts - also aus seinem eigenen Lager - mangelnde Kompetenz und fehlendes Politikgefühl (in diesen Kreisen eher Machtinstinkt) vorwerfen lassen. Zumindest Letzteres ist neu und für manche überraschend. (Woran das liegen könnte, dazu hier mehr.)

Die ausführliche internationale Berichterstattung und die Solidarität in den Social Networks wird von vielen Ungarn mit lesbarer Freude aufgenommen, Kommentatoren zeigen sich stolz, dass Ungarn dieser Tage ein anderes Bild in der Welt abgibt als das einer auf EU-Mitteln schmarotzenden Halbdiktatur, das sich von europäischen Werten immer weiter entfernt. Die Reaktionen im Ausland widerlegen auch den Mythos der Regierung, wonach der Westen Ungarn gegenüber feindlich gesinnt sei. Die Ungarn haben viele und immer mehr Freunde in der Welt, Orbán und die Seinen freilich immer weniger - oder die falschen...

Orbán kann, laut Aussagen eines seiner Adjudanten, erst seit 2012 SMS verschicken, sein Facebook-Foto in der Pose eines Kanzleischreibers aus dem 19. Jh. macht die Runde.

Und noch etwas bedingt diese Solidarisierung: die Ankündigung von EU-Kommissar Günter “Ich drucke mir das Internet lieber aus” Oettinger, eine Urheberrechtsgebühr auf die Nutzung von google einführen zu wollen oder die hilflosen Patzer von Angela “Neuland” Merkel zum Thema “Breitband und wennn ja, wie viele?” verdeutlichen, dass nicht nur die jungen und technologieaffinen Ungarn ein Problem mit überlebten Politdinosauriern und ihren vorgestrigen Ideen haben. Die EU-Kommissarin Kroes immerhin hält die Internetsteuer Orbáns für eine kontraproduktive Idee und will dagegen vorgehen. Vielleicht kann sie Oettinger bei der Gelegenheit erläutern, wie das Internet so funktioniert...

 

Fidesz reagiert weiter hilf- und kopflos. Auf der einen Seite versucht man mit den bisher gängigen Mustern die Bewegung zu diffamieren, auf der anderen Seite, die Internetsteuer etwas nachzubessern bzw. unter einem anderen Label zu verkaufen. “Man werde notfalls weitere Gesetze schaffen, die ein Weiterreichen der Steuer an die Kunden auf jeden Fall verhindert.” hieß es gestern erneut und die Gelder wolle man ohnehin nur für den Breitbandausbau nutzen. Ausßerdem werde man “in Freundschaft und Geduld alle Fragen beantworten”. Ein Realitätsverlust, der an das “Ich liebe Euch doch alle” der letzten Tage der DDR erinnert.

Die Internetsteuer wird von den Protestierern nicht wegen ihrer Höhe, sondern wegen der ihr innewohnenden Anmaßung bekämpft. Das Internet ist für die Menschen mehr als YouTube und Porno. Es ist ein Teil ihrer Freiheit. Orbán stellte ja ganz richtig fest, dass “die Ungarn immer ein Volk von Freiheitskämpfern waren”. Eine Steuer auf das Internet ist, so drückte es ein bekannter IT-Gründer gestern auf der Demo aus, der konzentrierte Ausdruck für Orbáns Despotismus. - So wie die Proteste Ausdruck für die liberale Gesinnung der europäischen Ungarn ist, die sich ihrer Kraft allmählich wieder bewußt werden. Aber Selbst-bewußt-sein ist so ungefähr das Letzte was ein Autokrat von seinem Volk erwartet und brauchen kann. Die Antwort wird entsprechend sein, mit Verstellung, Lügen, Verlockungen oder brutaler Macht wird die “Elite” zurückschlagen. Der Kampf Orbán gegen Europa hat gerade erst begonnen, - jetzt auch mit ungarischer Beteiligung!

m.s.

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