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(c) Pester Lloyd / 17 - 2015     BILDUNG    21.04.2015

 

Kampf um die Zukunft: Proteste gegen Zerstörung der Hochschulbildung in Ungarn

Die geplante Streichung von etlichen Studiengängen der Sozial- und Gesellschaftswissenschaften bringen wieder Studierende auf die Barrikaden. Die Regierung will nur noch "ökonomisch Nützliches" finanzieren, die Betroffenen fühlen sich bevormundet, sie sollen zu "nützlichen Idioten" degradiert werden. Zwei konträre Weltsichten stehen sich gegenüber.

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Studenten und Professoren gehen wieder auf die Straße. Am Montag hielten Lernende und Lehrende der Budapester ELTE Universität eine Protestistzung ab, um anschließend vor das Bildungsministerium (Superministerium EMMI, Minister Balog) zu ziehen. Grund: die ab kommendem Semester wirksam werdende Streichung etlicher Studiengänge aus den vom Staat subventionierten Studienangeboten.

 

Betroffen sind davon vor allem die Bereiche Sozialwissenschaften, Politikwissenschaften. Die dort angesiedelten Bachelor-Studiengänge werden nicht mehr finanziert (obwohl die meisten von den Studenten durch Studiengebühren mitfinanziert werden), der Wunsch der Politik ist, dass solche "ökonomisch unnützen" (Staatssekretärin Hoffmann) Studien künftig nur noch als Master-Angebote vorliegen, die dann gänzlich selbst zu finanzieren sind.

Andere human- oder gesellschaftswissenschaftliche Studien, einschließlich aller
Journalismusausbildungen werden an die nationale Kaderuni delegiert und dort von Fidesz-Lehrkörpern bebrütet. Das Gesamtbudget für die Hochschulsbildung wird weiter zusammen gestrichen, die gewollte Schließung von Institutionen so nur eine Frage der Zeit.

An der ELTE, Ungarns größter Uni formiert sich dagegen, fast 3 Jahre nach den letzten großen Studentenprotesten, aber womöglich viel zu spät für eine Änderung, wieder eine Protestbewegung. Mehrere Hundert Menschen gingen schon Montagnacht auf die Straße, unangemeldet. "Informeller Streik" nennt man die Aktionen, die bald an die Corvinus-Uni und die Uni Szeged und sogar an die katholische Pázmány Uni ausgedehnt werden sollen. Auch die TU hat bereits Proteste gegen die ministerielle Streichliste vorgebracht.

Lehrende und Lernende pochen auf ihr - längst beseitigtes - Recht, Ausrichtung und Inhalte ihres Studiums im gesetzlichen Rahmen einer demokratischen, bildungsfreundlichen Republik, selbst bestimmen zu können. ochschulautonomie, Freiheit der Lehre sind die Stichworte. Ständestaat, Indoktrination, Kanzlersystem die Antworten der Regierenden.

Zwei komplett konträre Weltsichten stehen sich gegenüber: Die Regierung will ein Hochschulsystem, das sich an den (gemutmaßten) Bedürfnissen der Wirtschaft ausrichtet und Ungarn "für die kommende, neue Weltordnung" wettbewerbsfähig machen soll. Diese Weltordnung wird als apokalyptischer Kampf der Nationen, Blöcke und Welmächte um Vorherrschaft und Überleben skizziert, was es auch notwendig mache, dass "das neue Ungarn keine liberale Demokratie" mehr sein kann. Billige Energie, billige, aber recht gut ausgebildete Arbeitskräfte will Orbán ins Feld führen. Allerdings hat Orbán einen sehr engen Wirtschaftsbegriff, der bei feudalen Agrarbetrieben beginnt, aber nur bis zu den verlängerten Werkbänken von Audi, Mercedes & Co. endet.

"Untertanen für die Fidesz-Mafia" will er, notorische Bildungsfeindlichkeit treibt ihn und das Verbauen der Zukunft der Jugend ist sein Plan, hallt es zurück. Die Studenten und Professoren, die jetzt protestieren, argumentieren, dass Ungarn eben genau dieser "neuen Weltordnung" nicht Rechnung trägt. Hochschulbildung muss aus-, statt abgebaut werden, denn nur eine Wissens-, Bildungs-, und High-Tech-Gesellschaft habe eine Chance gegen die Billiglohnproduzenten aus Asien und Übersee. Andere europäische Länder machten das vor, in dem sie gezielt die Absolventenquoten erhöhen, während die Regierung Orbán sie auf unter 15% drücken will.

Der Staat, also im heutigen Ungarn, die Fidesz-Regierung, habe Unis und das ganze Bildungswesen an sich gerissen, unter Parteiherrschaft gestellt. Wirkliche Evaluierungen über die Chancen, Risiken und nötige Strukturreformen der einzelnen Studienzweige und Bildungsbereiche existierten überhaupt nicht, die Entscheidungen würden nur aus ideologischen Überlegungen, ja aus Hass, getroffen. Clevere junge Leute seien nicht gefragt, folgsame Schafe schon...

 

Auch weniger aufgebrachte Beobachter der Lage, sehen die Regierung einen riesigen Fehler machen. Böte man der Jugend nicht breite und gute Bildungsmöglichkeiten, auch wenn sich diese nicht alle sofort in BIP-Zahlen umrechnen lassen, wird sie diese in anderen Ländern wahrnehmen und Ungarn so für immer verloren gehen. Doch die Regierung reagierte auch schon auf diese Gefahr: die Hälfte der Gymnasien soll geschlossen werden. Wer kein Abi hat, kann auch nicht im Ausland studieren, so das Kalkül.

Das zuständige Ministerium faselt auf die Kritik nur zurück, dass man "neue Strukturen" brauche und "ökonomischer Nutzen" überwiegen müsse. Alles solle "transparenter und effizienter" werden. Immerhin, nach weiterem Blabla deutet man an, dass die "Streichliste noch nicht endgültig" sei. Dass eine Umstrukturierung nötig ist, bestätigt jeder, der mit dem ungarischen Hochschulwesen zu tun hat. Was heute aber stattfindet, ist reine Zerstörung.

Einen guten Überblick über die verschiedenen Aspekte der Orbánschen "Bildungsreformen" und sonstige Hintergründe finden Sie in unserem
Ressort BILDUNG / FORSCHUNG

red. / ms.

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