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(c) Pester Lloyd / 34 - 2015     POLITIK    19.08.2015

 

Orbán bläst zur Menschenjagd: "Grenzjäger" sollen Ungarn "physisch sichern"

Die EU gibt Ungarn grünes Licht für die Errichtung des Grenzzauns zu Serbien. Man sei zwar "aus Prinzip" dagegen, habe jedoch keine Handhabe. Geld aber auch nicht. Menschenhandel und illegale Einwanderung werden in Ungarn jetzt rechtlich auf eine Stufe gestellt und stärker bestraft. Orbán lässt Kompanien von "Grenzjägern" aufstellen, die dem Traum der Jobbik-Neonazis nach einer "Gendarmerie" sehr nahe kommen. Die EVP übernimmt unterdessen Orbáns Anti-Asyl-Linie - vor allem auf Kosten der Türkei.

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Der provisorische Grenzzaun, 1,50 m NATO-Draht und ein paar Pappschilder. Lázár will einen 3,50 m-Doppelzaun und “Hundertschaften Grenzjäger”.

 

Schon "aus Prinzip" sei die Europäische Kommission gegen den Bau von Grenzzäunen in Europa, doch werde man sich nicht in die Entscheidung Budapests einmischen, denn der Schutz der Grenzen sei nationale Zuständigkeit. Das erklärte Kommissionssprecher Christian Wigand am Montag, der damit den Standpunkt von Einwanderungskommissar Dimitris Avramopoulos wiedergab. In Calais sei die Situation eine andere. Die Sperranlagen dort hätten den Sinn, Menschen von gefährlichen Straßen, Gleis- und Stromanlagen fernzuhalten, wenn sie versuchen nach Großbritannien zu kommen. Ungarn kann dennoch mit rund 8 Millionen Euro Sonderhilfe für die Bewältigung der Menschenströme rechnen.

Manfred Weber, CSU-Politiker und Fraktionschef der EVP im Europäischen Parlament, forderte seine Parlamentskollegen auf, alle EU-Kandidatenländer pauschal als "sichere Drittstaaten" zu deklarieren und somit Menschen, die aus diesen Ländern nach Europa bzw. die EU einreisen, automatisch jedes Asylverfahren zu verweigern, was auch die Rückabschiebung impliziert. Damit wären auf einen Schlag Albanien, Mazedonien, Montenegro und Serbien, bald auch Kosovo und Bosnien und Herzegowina in dieser Kategorie.

Vor allem aber träfe der Vorstoß des CSU-Politikers die Türkei, seit 1999 Beitrittskandidat, über die fast alle Flüchtlinge aus den Kriegsgebieten Syrien, Irak und Afghanistan kommen und das bereits heute - vor allem in den unmittelbaren Grenzgebieten - eine Last trägt, von denen sich in Mitteleuropa viele gar keine Vorstellung machen.

Orbán hatte zuvor per Dekret den gesamten Balkan als sichere Herkunfts- und Tranistländer einstufen lassen, um keine Asylverfahren mehr einleiten zu müssen. Dabei hat er sich jedoch nicht an den Dublin-III-Regeln orientiert, sondern eigene Kriterien schaffen lassen. Ungarn betreut selbst nur rund 4000 Asylbewerber, die rund 100.000 Flüchtlinge, die seit Jahresanfang kamen, nutzen das Land nur als Transitstation gen Westen.

Die ungarische Regierung hat eine Sondersitzung des Parlamentes einberufen, um im Eilverfahren das Strafrecht hinsichtlich Schlepperei / Schleuserei / Menschenhandel zu verschärfen. Personen, die anderen beim illegalen Grenzübertritt helfen könnten dann mit 3-4 Jahren Gefängnis bestraft werden. Das gleiche gilt für deren "Kunden", also die Flüchtlinge und alle, die "den Grenzzaun beschädigen". "Illegaler Grenzübertritt" soll als eigenständige Straftat beschrieben werden und ebenso hoch wie Schlepperei bestraft werden.

Die Menschenschmuggler würden die "Einwanderer" nicht nur über die Grenze bringen, sondern sie auch im Umgang mit ungarischem und europäischem Recht unterrichten und sie "darauf vorbereiten, wie sie ihren Flüchtlingsstatus missbrauchen können". Das ist der Grundton Orbáns, mit dem er
seit den Anschlägen in Paris im Januar hetzt: alle Flüchtlinge seien organisierte Kriminelle, wenn nicht Terroristen, die irreparable Schäden an den Volkskörpern des christlichen Europas anrichten werden.

Orbáns Kanzler Lázár teilte der Presse am Dienstag außerdem mit, dass der Ministerpräsident den Innenminister angewiesen habe, aus "mehreren tausend Polizisten" ein "Grenzjägerbataillon" aufzustellen, um quasi als "lebendiger Zaun" gegen die, so Lázár wörtlich, "immer aggressiver und nachdrücklicher fordenden Grenzverletzer" vorgehen zu können. Ungarn brauche neben rechtlichem und technischen auch physischen Grenzschutz. Es seien bereits "tausende Polizisten" in die südlichen Komitate beordert worden, die Bildung von, wörtlich: Grenzjägerkompanien bzw. Hundertschaften würde deren Einsatz leichter steuerbar machen. Vor kurzen hatte Lázár zudem die
Errichtung eines zweiten, parallel verlaufenden Zauns zu Serbien gefordert. Wie die "Grenzjäger" (ung: határvadász) bewaffnet und mit welchen zusätzlichen Gewaltkompetenzen sie ausgestattet werden, bliebt zunächst offen. Regierungssprecher Kovács meinte heute, die Truppen sollten bereits im September, also in gut zwei Wochen einsatzfähig sein.

Die Konsequenz aus den ergriffenen und zu ergreifenden Maßnahmen - 4 Jahre Haft für illegalen Grenzübertritt, keine Asylverfahren für Menschen aus sicheren Transitländern, Grenzarmee - wären jährlich einige Zehntausend Menschen, die umgehend gewaltsam abgeschoben, mit Waffen vertrieben oder inhaftiert werden müssten, was technisch nur in großen Lagern ginge.

Nach Lázárs Informationen würden - ohne Gegenmaßnahmen - bis Jahresende 300.000 Flüchtlinge nach (genauer: durch) Ungarn kommen, die Regierung müsse den Schleppern daher ein Zeichen geben, dass sie das nicht schaffen werden. Es sei nachgewiesen, dass Ungarn einem Ansturm von Schleppern ausgesetzt sei. Auf die wachsende Zahl aufgegriffener serbischer, aber vor allem auch ungarischer Fluchthelfer, die Flüchtlinge für Geld über die Südgrenze, aber auch weiter nach Westeuropa schleusen, verlor Lázár kein Wort. Hingegen werde man bald die Plakate vorstellen, die in den Herkunftsländern “abschrecken” sollen.

 

Die Einrichtung einer eigenen militärischen Einheit zum Grenzschutz, entspricht dem Sinn und der Form nach einer lange gehegten Forderung der neonazistischen Partei Jobbik, die dem Fidesz in Umfragen immer näher auf den Pelz rückt. Die fordert seit langem eine "Gendarmerie", also eine Art "Guardia Civil" nach Vorbild der Horthy-Zeit. Die "Grenzjäger" waren nämlich eine gefürchtete Sondereinheit dieser Gendarmerie, die mit der gleichnamigen Truppe der regulären Armee zusammengelegt wurde.

Diese Gendarmerie war damals Sammelbecken ungarischer Faschisten und selbst, gemeinsam mit den deutschen Faschisten, an etlichen Massakern in besetzten Gebieten, aber auch an der Deportation der und dem Terror gegen die ungarischen Juden beteiligt. Jobbik will eine solche Gendarmerie vor allem gegen die "Zigeunerkriminalität" einsetzen, nun könnte sie durch die Hintertür "Grenzschutz" kommen. Es ist davon auszugehen, dass sowohl die Struktur (Polizei, aber mit zusätzlichen hoheitlichen Rechten), als auch die martialische Bezeichnung "Grenzjäger" auf die Wählerklientel Jobbiks abzielt - womit Orbán ein weiteres Mal direkte politische Forderungen des rechtsextremen Randes erfüllt. Ein neuer Beleg, dass das Flüchtlingsdrama innen- und machtpolitisch instrumentalisiert wird, die Menschen also missbraucht werden. In Ungarn ist es nur ein Aspekt einer lang anhaltenden, regierungsamtlichen Hasskampagne gegen alles “Fremde”. Mehr dazu.

Dass die ungarische Polizei mit der Lage überfordert ist, gesteht auch die Opposition ein, sieht dafür aber strukturelle Mängel verantwortlich, die weit vor der Flüchtlingskrise entstanden. Zudem habe Orbán mit seinem Zaunbau und der daraus folgenden Torschlusspanik die Flüchtlingswelle erst so richtig in Fahrt gebracht, weder ein Zaun, noch ein paar tausend Polizisten werden letztlich die Flüchtlinge aufhalten können. Wenn Orbán glaube, er käme an einer gesamteuropäischen Lösung vorbei, - die eben auch die Aufnahme von bestimmten Flüchtlingskontingenten als Lebensrealität des 21. Jahrhunderts und Ergebnis einer verfehlten Politik beinhalten muss - dann müsse er Ungarn komplett einmauern und ein Grenzregime wie in Nordkorea installieren.

red.


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