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(c) Pester Lloyd / 36 - 2015   AKTUELL    01.09.2015

 

"Thank You, Germany!" - Tausende Flüchtlinge aus Ungarn erreichten Deutschland. Ungarn schließt Bahnhof. Wie weiter?

Am Dienstag 9.00 Uhr schloss Ungarn den Keleti pu., also Ostbahnhof, den wichtigsten internationalen Bahnhof, obwohl abertausende Flüchtlinge nachdrücken. 4.000 von ihnen entkamen am Montag per Zug aus Budapest, ein unilaterales Wegsehen der ungarischen, österreichischen und deutschen Exekutive ermöglichte diese humanitäre Ventilöffnung.Wie geht es jetzt weiter? Niemand hat wirklich einen Plan - nur die Flüchtlinge haben einen.

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Bilder vom Keleti Bahnhof in Budapest Dienstagmorgen, Fotos: MTI, origo.hu. MÁV

Nach Angaben österreichischer Behörden sind durch die Ad-hoc-Aktionen der Budapester Polizei am Montag rund 4.000 Flüchtlinge allein per Bahn nach Österreich gekommen, nur sechs davon, afghanische Bürger, stellten in Wien einen Asylantrag, alle anderen, die meisten mutmaßlich Syrer, reisten umgehend nach Deutschland weiter. Hunderte mussten allerdings zunächst in Wien und Salzburg auf den Bahnhöfen übernachten, bis sie am morgen die nächsten Züge nach Deutschland besteigen konnten.

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Das war der letzte Zug, der in der Nacht gen Westen abging.

Im Unterschied zu Budapest, wo keine einzige der professionellen Hilfsorganisationen wie Rotes Kreuz, Caritas, nicht einmal ein Krankenwagen etc. vor Ort zu finden ist, wurden die Flüchtlinge in Österreich und Deutschland zumindest grundversorgt: Nahrung, Getränke, Babybedarf, Decken, aber auch Krankenwagen mit Notärzten etc. standen bereit, ergänzt durch sehr zahlreiche private Helfer und private Spenden. Dies führte zu vielen rührenden Szenen der Verbrüderung zwischen Einheimischen und Flüchtlingen. Szenen, die angesichts der medial präsenten rassistischen Hassverbrechen und der primitven Stimmen "besorgter Bürger" der letzten Zeit die Hoffnung schüren, dass Europa nun doch ein anderes, hoffentlich sein wahres Gesicht zeigt - zumindest seitens der Bürger, wenn die Politik das schon nicht schafft. Viele Flüchtlinge dankten explizit Deutschland, das von ihnen so wahrgenommen wird, als heiße es die Flüchtlinge willkommen, während alle anderen Länder sie nur loswerden wollten oder - wie im Falle Ungarns - sogar bewußt drangsalierten.

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Wer angesichts solcher Bilder hämische oder besserwisserische Kommentare postet, belegt eine sehr schwer mentale Störung. Die Gestörten melden sich immer häufiger...

Die deutschen Behörden, u.a. in Passau, Rosenheim, München, Berlin übernahmen die Registrierung der Flüchtlinge ungeachtet, ob diese bereits in Ungarn behördlich bearbeitet wurden oder nicht. Die österreichische Polizei verzichtete auf eine Statutsüberprüfung mit der Begründung, dass man diese nicht durchführen könne, sonst müsste man den gesamten Hauptbahnhof sperren, außerdem gehe man davon aus, dass die ungarischen Kollegen bereits die notwendigen Kontrollen vorgenommen haben, wie der Wiener Polizeipräsident verschmitzt anmerkte. Dieses unilaterale Wegsehen der ungarischen, österreichischen und deutschen Exekutive - offenbar auf politische Anweisung - ermöglichte den gestrigen Akt der Humanität, der mehreren tausend Menschen endlich einen Ausweg aus der Sackgasse Budapest eröffnete.

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Doch wie geht es weiter? Seit dem morgen 9.00 Uhr hat die Ungarische Staatsbahn MÁV aus "Sicherheitsgründen" den Keleti Bahnhof, also den wichtigsten internationalen Bahnhof Budapests und derzeitigen "Hot Spot" der Flüchtlingskrise geschlossen. Kein Zug kommt rein oder raus, ein Polizeikordon sperrt das Gelände ab, Hunderte drängen jedoch hinein. Die Polizei versucht, den völlig überfüllten Bahnhof zu räumen, es kam zu Tumulten, verzweifelte Menschen brachen in sich zusammen als sie erfuhren, dass ihre Weiterreise nun doch wieder nicht möglich sein soll.

Der Druck ist noch nicht aus dem Kessel, im Gegenteil, in den drei Transitzonen der Stadt sollen derzeit immernoch rund 2000 Menschen auf ihre Weiterreise warten, stündlich kommen welche hinzu, denn allein am Montag sollen rund 6.000 Menschen die angeblich nun geschlossene serbisch-ungarische Grenze überquert haben.

Die offizellen Statements aus Österreich und Deutschland offenbaren, dass man weder in Wien noch in Berlin einen wirklichen Plan hat. Man betont, dass Schengen in Gänze weiter in Kraft sei, setzt die Bestimmungen aber nicht durch, um eine Eskalation zu vermeiden. Dies wiederum motiviert immer mehr Flüchtlinge, nach Budapest zu kommen und es gen Westen zu versuchen. Die ungarische Regierung wird aus innenpolitischem Kalkül - dem ja von Anfang an die gesamte menschenverachtende Flüchtlingspolitik Orbáns unterworfen war - weiter Härte demonstrieren, während die Polizei selbst überfordert ist und offenbar auch gegen den Willen der politischen Führung Ventilöffnungen vornimmt. Die Lage der weitgehen auf sich selbst gestellten Flüchtlinge in Budapest ist so katastrophal, dass ein Funke oder eine kritische Masse zur Explosion führen muss.

 

Orbán könnte mit einem Satz die Lage befrieden, die Menschen einfach fahren lassen. Doch er legt es - westlichen Druck und EU-Regeln (an die er sich sonst nie hält) vortäuschend - auf eine medial verwertbare Eskalation der Lage an, um endlich freie Hand für seine bereits angekündigten "Notstandsgesetze" (siehe hier) zu bekommen und die EU zur Freigabe von Hilfsgeldern zu bewegen, die diese verweigert, seit Ungarn mit Bulgarien erklärt hat, nicht an einer Quotenregelung zur Aufnhame teilnehmen zu wollen.

Budapest will nun über die sog. "Visegrád Vier" (CZ, PL, HU, SK) eine Allianz gegen den Westen schmieden, sich selbst einmal mehr zum Opfer verfehlter EU-Politik deklarieren. Ein entsprechender Gipfel diese Woche sowie eine heute stattfindende Sondersitzung des Parlamentes werden die entsprechenden Formulierungen erbringen, die anderen die Schuld zuweisen und Ungarn von jeder Verantwortlichkeit freispricht.

Fakt ist jedoch: die Flüchtlinge, die aus Kriegs- und IS-Terrorgebieten, teilweise monatelang zu Fuß geflohen sind, von Polizisten geschlagen, Banden ausgeraubt, korrupten Behörden drangsaliert, Schleppern abgezockt wurden, wird am Ende kein lächerlicher ungarischer Grenzzaun oder eine mitteleuropäische Einreisevorschrift aufhalten. Die Flüchtlinge schaffen die Fakten, weil Europa nicht angemessen vorbereitet war und noch unangemessener reagierte - nämlich praktisch gar nicht - oder wie im Falle Ungarn - katastrophal falsch. Fakt ist auch: Europa verkraftet diese Flüchtlinge, ja, viele von ihnen braucht es sogar. Es kann sie aufnehmen, es soll sie aufnehmen - es wird sie aufnehmen.

red. / a.l.
 

 



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