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(c) Pester Lloyd / 26 - 2009 GESELLSCHAFT 26.06.2009
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Für die Zukunft erinnern

Das Jahr 1989 in Ungarn und Rumänien - ein Internetprojekt von Jugendlichen

Anne Südmeyer und Irma Biebl wirken erschöpft. Ein halbes Jahr haben die Kulturmanagerinnen des Instituts für Auslandsbeziehungen (ifa) aus Budapest und Satu Mare zusammen mit Jugendlichen aus dem ungarisch-rumänischen Grenzgebiet ein ehrgeiziges Projekt vorangetrieben, das den Jugendlichen nicht nur dieZeit des Systemwechsels, sondern auch den Umgang mit neuen Medien nahe bringen soll. Herausgekommen ist die Internetseite www.zeitenwechsel-seitenwechsel.com , ein Schlüssel für die Annäherung dieser Jugendgeneration an die Lebenswirklichkeit ihrer Eltern und Großeltern  im sozialistischen Ungarn und Rumänien.
 

Das berühmte Durschneiden des Eisernen Vorhangs.
Nachgestellt von Projektteilnehmerinnen 20 Jahre danach.
www.zeitenwechsel-seitenwechsel.com

1989 blickt die Welt gespannt auf die Ereignisse in Mitteleuropa. Der eiserne Vorhang fällt, Deutschland steht vor der Wiedervereinigung, im gesamten Ostblock wird der Übergang zur Demokratie vollzogen. Wie aber kann eine Generation diese Ereignisse erfassen, die erst nach der Wende geboren worden ist und für die das offene Europa bereits erlebte Realität ist? Am ehesten dadurch, dass sie nicht auf Antworten wartet, sondern selbst beginnt nachzufragen.

Im April 2009 machen sich die zehn Jugendlichen, je fünf aus Ungarn und Rumänien, im Alter von 17–19 Jahren auf die Suche nach Spuren der jüngsten Geschichte beider Länder. Im Grenzgebiet zwischen Mátészalka und Satu Mare befragen sie Zeitzeugen der deutschen Minderheit, konzipieren und produzieren Videobeiträge, Radiofeatures und Fotostrecken zum Thema „Wende 1989“ und dem damit verbundenen Zeitenwechsel. Dabei haben die Schüler selbst die Seiten gewechselt, „um mehr Informationen zu erlangen“, sagt Zsófia (18), „um einander besser kennen zu lernen“ ihr Kollege István (17).

Aufbruchstimmung im ehemaligen „Armenhaus“

Emanuela (16) ist wie die meisten Jugendlichen in Satu Mare dreisprachig. Doch das Erbe des 20. Jahrhunderts und der ethnischen Spannungen ist noch nicht überall verflogen. Bereits kurz nach der Wende kommt es im März 1990 zu interethnischen Gewaltausbrüchen zwischen Ungarn und Rumänen in Targu Mures (Marosvásárhely/ Neumarkt) – das erste Beispiel von postkommunistischen innerethnischen Konflikten in Ostmitteleuropa. „Manchmal kommt es schon vor, dass ich schief angesehen werde, wenn ich Ungarisch spreche. Dann wechsle ich zu Rumänisch und die Leute schauen blöd.“

Mit ihren Sprachkenntnissen bringt sie aber die Qualifikationen mit, die in Europa gefragt sind. Auch ifa-Kulturmanagerin Irma Biebl ist erstaunt, wie europäisch die Jugendlichen bereits sind und welche Entwicklungen das ehemalige „Armenhaus Europas“ selbst gemacht hat: „Vor zehn Jahren gab es noch nicht mal einen Supermarkt in Rumänien und heute ist das Land in einer faszinierenden Aufbruchstimmung.“

Über Grenzen hinweg ist auch die Deutsche Sabine Fischer gegangen, die den Fall der Berliner Mauer, wie sie selbst sagt, einfach verschlafen hat. Seit einigen Jahren lebt sie in Rumänien und arbeitet als Fachschaftsberaterin Deutsch am Johann Ettinger Lyzeum in SatuMare. „Vor allem die Jugend in Rumänien ist offen und nutzt die Chance zu Reisen und ins Ausland zu gehen. Schwierig ist es aber für die Älteren, sich den veränderten Umständen anzupassen.“
 
Die meisten Jugendlichen haben wenig von ihren Eltern und in der Schule erfahren und können sich kaum vorstellen, wie es zu einer Zeit gewesen ist, in der das Übertreten der Grenze ein Verbrechen war. Die ist zwischen der „lustigsten Baracke im Lager“ und dem „Armenhaus Europas“ während des Sozialismus hermetisch abgeriegelt. Während in Ungarn der „Gulaschkommunismus“ den Menschen einen bescheidenen Wohlstand erlaubt, leidet die rumänische Bevölkerung unter der Dikatur Ceaucescus. Die Kindersterblichkeit ist die höchste, die Lebenserwartung die niedrigste auf dem ganzen Kontinent.

Temeschwar im westlichen Rumänien ist 1989 Ausgangspunkt der Revolution gegen die Diktatur Nicolae Ceausescus. Am 15. Dezember 1989 finden zahlreiche Demonstrationen und Unruhen statt, die in einem Massaker enden, als Angehörige von Armee und Securitate auf die Demonstranten schießen. Die Revolution schwappt über das ganze Land. Am 25. Dezember 1989 wird das Ehepaar Ceaucescu in einem Schnellverfahren zum Tode verurteilt. Die im Fernsehen ausgestrahlte Hinrichtung machte das Ende der Diktatur auch bildlich greifbar. Dieses Ereignis und die Öffnung der Grenzen bringt in mehrfacher Hinsicht einen „Zeitenwechsel“ für diese Region und seine Bevölkerung.

Dr. Miklós Komlódy, Vize-Bürgermeister der grenznahen Gemeinde Csenger in Ungarn, war zur Zeit der Wende 13 Jahre alt und erinnert sich, wie die Bürger von Csenger mit Hilfspaketen versuchten die Revolutionäre in Rumänien zu unterstützen. „Man hat die Wende nicht nur gefühlt, sondern auch gesehen“, sagt er. „Das machte sich vor allem auch dadurch bemerkbar, dass im Fernsehen plötzlich Sendungen liefen, die vorher nicht gezeigt wurden.“

Für den Vorsitzenden des Deutschen Demokratischen Forums im Kreis Satu Mare, Jóhann Forstenheizler, bleibt das Weihnachtsfest 1989 in unauslöschbarer Erinnerung. „Zum ersten Mal wird im Fernsehen in allen drei Sprachen – rumänisch, ungarisch und deutsch – eine frohe Weihnacht gewünscht“, sagt er immer noch bewegt.

Permanenter Dialog notwendig

Weite Teile Rumäniens gehören bis zum Vertrag von Trianon 1920 und noch einmal für eine kurze Zeit während des Zweiten Weltkrieges zu Ungarn. Seit dem Systemwandel sind beide Länder einen langen Weg gegangen und haben effektiv aus ihrer Vergangenheit sowie voneinander gelernt. Das Verhältnis zum einst schwierigsten Nachbarn entwickelt sich zu einer strategischen Partnerschaft. „Doch man sollte bedenken, dass die Aussöhnung zwischen beiden Ländern vornehmlich zwischen den politischen Eliten zustande kam“, sagt der rumänische Historiker Constantin Iordachi, Leiter der Geschichtsfakultät der internationalen Central European University in Budapest. „Um diese Aussöhnung zu festigen, sind ein permanenter Dialog und eine Abkehr von Stereotypen in der breiten Bevölkerungsschicht notwendig.“ Für ifa-Kulturmanagerin Anne Südmeyer leistet das Projekt „Zeitenwechsel-Seitenwechsel“ dafür seinen Beitrag. „Vor allem für die junge Generation ist das Internet Schlüssel zur Annäherung. Dort ist es nunmehr über Grenzen hinweg möglich, sich gemeinsam für die Zukunft zu erinnern.“

Das Institut für Auslandsbeziehungen e.V. (ifa) engagiert sich weltweit für Kulturaustausch, den Dialog der Zivilgesellschaften und die Vermittlung außenkulturpolitischer Informationen. Das ifa wird gefördert vom Auswärtigen Amt, dem Land Baden-Württemberg und der Landeshauptstadt Stuttgart. Daneben engagiert sich das ifa in vielfältigen Projekten gemeinsam mit nationalen und internationalen Partnern wie Stiftungen und internationalen Organisationen.

Sebastian Garthoff

 
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