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(c) Pester Lloyd / 48 - 2009  WIRTSCHAFT 26.11.2009
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Das große Zahlenlotto

Ungarn: Experten und Politiker streiten über Kommastellen, das Land darbt weiter

Die Ungarische Nationalbank fuhr der Regierung mit ihren neuesten Prognosen für die Makrodaten kurz vor der Haushaltsabstimmung noch einmal in die Parade. Die Zahlenkolonnen und deren Analyse offenbaren Handlungsmuster und Paradigmen, die daran zweifeln lassen, ob der Sparweg der Bajnai-Regierung Ungarn wirklich hilft. Auch die bilanzfixierte Logik der Zentralbanker scheint nicht gerade geeignet, um einen Ausweg aus der Rotstiftökonomie zu finden.

Die Ungarische Nationalbank (MNB) sieht das Haushaltsdefizit im Verhätnis zum BIP für 2010 bei 4,3%. Die Prognose ist gerade so hoch, dass die Zentralbank ihren unabhängigen Charakter demonstrieren kann, ohne dabei den Budgetentwurf des Regierungschefs (3,8%) völlig zu Makkulatur werden zu lassen. Die MNB fand, freilich völlig objektiv berechnet, genau den Mittelweg zwischen den Prognosen von IWF, Weltbank und EU, die sich eher in Richtung 5% neigen und dem ehrgeizigen Ziel des Regierungschefs, der - mittlerweile wider besseren Wissens - an seinen "eingemeißelten" 3,8% festhält. Die Veröffentlichung der Prognosen facht erneut die Debatte um die Haltbarkeit des Budgetentwurfs an, der am 30. November Gesetzesrang erhalten soll.

Ohne weitere Rotstiftattacke ist Defizitziel nicht erreichbar

Die Abweichung der Prognose der MNB zum Regierungsentwurf hat verschiedene Ursachen. Zuerst liegen dem Budgetentwurf ältere Daten zu Grunde, desweiteren glaubt die MNB, dass sich die Defizite bei den Lokalverwaltungen noch mehr erhöhen werden als befürchtet. Man zweifelt weiterhin an, dass die radikale Reduzierung des Staatszuschusses für die staatlichen Verkehrseinrichtungen MÁV, Volán Bus etc., so durchzuhalten ist, ohne deren Betrieb zu gefährden. Auch die Steuerschätzungen sehen in der Zentralbank anders aus als im Haushaltsplan, vor allem die Einkommenssteuer könnte stärker zurückgehen. Auch bei diversen Ministerien fürchtet man eine Überziehung der gemachten Vorgaben. Ohne weitere Rotstiftattacken jedenfalls, so das Resümee, ist das 3,8%-Ziel nicht zu erreichen, ob es nun sinnvoll ist oder nicht.

Die Inflationsprognose (Konsumentenpreisindex) wird für 2009 auf 4,2% gesetzt, leicht besser als die vorherige Prognose, 2008 waren es noch 6,1%. 2010 soll die Teuerung bei 3,9% liegen, 2011 bei 1,9, beides leicht nach unten revidiert. Der BIP-Rückgang dürfte bei 6,7% liegen (zuerst -7,3). 2010 heißt es nochmals -0,6%, 2011 dann käme mit 3,4% ein echter Aufschwung. Das IWF sieht das mit -0,7 und +3,1% ähnlich. Der Rückgang der Beschäftigung ist weiter dramatisch. Derzeit sind nur rund 54,5% aller Menschen im erwerbsfähigen Alter in einer sozialversicherungspflichtigen Beschäftigung, der Rückgang soll 2010 weitere 2,7%, 2010 1,2% betragen. Hier fallen die MNB-Prognosen übrigens höher - also schlechter - aus als zuvor. 2011 erwartet man mit +0,3% quasi eine Stagnation auf niedrigstem Niveau. Das real verfügbare Einkommen der Privathaushalte wird in diesem Jahr 4,1% zurückgehen, d.h. die Ungarn erhalten im Schnitt keinerlei Inflationsausgleich. Für 2010 sind -1,7%, für 2011 +2% angesagt.

Scheingefechte mit politischen Kalkül

Nähme der Regierungschef Rücksicht auf diese und viele andere Vorhersagen, wären ein halbes Jahr Arbeit und das Einschwören der MSZP- wie SZDSZ-Fraktionen für die Katz´. So ist es dann wahrscheinlich das Budget selbst. Er schickte den Finanzminister vor, um auch dieser Vorhersage das trotzige "aber wir schaffen es doch" der Regierung entgegen rufen zu lassen. Letztlich wollen Premier Bajnai und die anderen Wirtschaftsprüfer der Expertenregierung doch in erster Linie ihren professionellen Ruf schützen, denn umsetzen werden sie den Haushalt ohnehin nur noch ein Quartal. Dass diese Zahlenspielereien eher Scheingefechte mit politischem Kalkül sind, als dass sie wirklich Wesentliches zur Entwicklung und den Notwendigkeiten der bugdetären Lenkung des Staates aussagen, liegt ohnehin auf der Hand.

Angeführt wird das große Zahlenlotto vom oppositionellen Fidesz. Dessen Chef, Viktor Orbán, hält bekanntlich sogar bis zu 7,5% Defizit für möglich, was ihm ab April, wenn er nach der siegreichen Wahl Herr der Kassen sein wird, sowohl Spielraum für kalkulierte Wohltaten gibt als auch die Möglichkeit beinhaltet, das schwere Erbe der "sozialistischen Ära" entschuldigend ins Felde zu führen.

Bajnai und die Sozialisten müssen sich den Vowurf gefallen lassen, mit ihrem Budgetziel nur Vorgaben "fremder Mächte" zu erfüllen und damit das Land zu einem Sparkurs auf Kosten des sozialen Friedens und auf Kosten von Wachstumsimpulsen zu zwingen. Die Abmachungen mit dem IWF - von denen die sicher notwendige Sanierung des Staatshaushaltes nur ein kleiner Teil sind - stammen von Ende 2008. Durch den 20 Milliarden-Euro-Notkredit sind Ungarn die Hände gebunden, so die Argumentation der Regierungsseite. Es gehe vor allem darum, Vertrauen in die staatliche Führungskompetenz und die fiskalische Verlässlichkeit herzustellen. Dabei verweist man allzu oft auf die wieder leicht verbesserten Ratings der führenden Agenturen und die Verringerung der Spreads an den Märkten für Staatsschuldscheine.

So wird es der Opposition leicht gemacht, die Sozialisten als "Internationale" und unpatriotische Handlanger des internationalen Finanzkapitals hinzustellen, die sich nicht um die kleinen ungarischen Unternehmer kümmern, Familienbeihilfen kürzen und durch die krisenbedingte Verarmung, hohe Arbeitslosigkeit, etc. den sozialen Frieden gefährden. Damit die Opposition vollkommen recht. In einiger Zeit lohnt es sich dann, zu betrachten, wie sie es geschafft hat, Ungarn von internationalen Abhängigkeiten unabhängiger zu machen. Mit der Einteilung des Landes in gute und schlechte Ungarn wird es dann nicht mehr getan sein.

Mit Zauberformeln gegen die Schuldenbremse?

Der Fidesz hat bereits mehrfach angekündigt, für notwendige Maßnahmen auch das Defizit zu überziehen, ja sogar das ganze Budget neu zu erarbeiten, falls man noch "viele Skelette auf der Toilette", wie man in Ungarn die Leichen im Keller nennt, finden muss. Eine "enorme Steuersenkung" versprechen die Nationalkonservativen, die, nach der bekannten liberalen Zauberformel, am Ende natürlich mehr Geld einbringt als sie kostet. Die derzeitige Regierung hat zwar einige Maßnahmen gesetzt, die (Pseudo-)Beschäftigung schaffen und besonders hart getroffene Schuldner in ihrer Grundexistenz absichert, doch niemand hat sich bisher getraut, die Schuldenbremse für größere Programme zu lösen. Auch die Steuerreformierungen waren halbherzig. Die Angst vor einem erneuten Absturz an den Finanzmärkten sitzt dafür einfach noch zu tief. Ungarn befindet sich immer noch, wir stellten das bereits genau vor einem Jahr fest, im Survivalmodus. Die Frage, ob die Aufnahme weiterer Schulden zur Krisenbekämpfung legitim ist oder eine verantwortungslose Gefährdung der Zukunft, ist zwar eine staatspolitische, doch für Ungarn hat sie der internationale Finanzmarkt längst beantwortet. So sieht das die "Expertenregierung" und - auch dafür - wird sie nächstes Jahr abgewählt.

Ein ganzes Rudel Katzen beißt sich in die Schwänze

Als größtes Risiko für Ungarns Ökonomie schätzt die stellvertretende Gouverneurin der Nationalbank, Júlia Király, das vergleichsweise "geringe Wachstumspotential" des Landes ein, das sich auch schon vor Ausbruch der Krise als Hemmschuh bemerkbar gemacht hatte. Die größte Wachstumsbremse des Landes sei vor allem die geringe Beschäftigungsquote. Ungarn leiste sich immer noch ein Sozialsystem, dass arbeitsfähige Menschen nicht zur Arbeit animiere, sagte Király bei einer Wirtschaftskonferenz am Mittwoch in Budapest. Das Gegenmittel dazu wäre die "Überholung der Sozialausgaben". Indirekt angesprochen wird dabei natürlich das Thema der Grau- und Schwarzwirtschaft, mit dem sich viele Nicht-Werktätige ganz gut über Wasser halten. Dabei kommt man aber wiederum zwangsläufig auf die Arbeitskosten, Abgaben, Steuern zu sprechen, wobei sich hier gleich ein ganzes Rudel Katzen in ihre Schwänze beißt.

Wer aber die Lebensumstände und finanzielle Ausstattung derjenigen kennt, die gefeuert wurden, wirklich keine Arbeit finden oder in prekären Dienstverhältnissen vegetieren, kann die MNB-Haltung nur als abgehobenes Gefasel bilanzfixierter Finanzautisten bezeichnen. Es fiel kein Wort z.B. über die notwendigen Investitionen in den Bildungssektor, der die Aufgabe hätte (unter anderem) eine halbe Millionen - oft unterqualifizierte - Roma des Landes eine Anschlussmöglichkeit an das Wirtschaftssystem zu ermöglichen. Das Land sei immer noch verwundbar, mahnte die MNB-Gouvernante zum Schluss ihrer Ausführungen, meinte damit aber nicht die gesamtgesellschaftliche Verwundung, die ein Land politisch zerrissen hat und es in Agonie darniederliegen läßt, sondern lediglich die Zinsrate für Devisen-Anleihen. Damit ist gesagt, dass es einem Land dann gut geht, wenn es billiger Schulden machen kann als andere. Das ist der Fluch des Systems.

-red

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