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(c) Pester Lloyd / 40 - 2011  GESELLSCHAFT 02.10.2011

 

"Es reicht!"

In Ungarn wurde eine neue "Solidarnosc" ausgerufen

Bei bestem Demowetter versammelten sich am Samstagnachmittag vor dem Parlament in Budapest rund 10.000-15.000 Menschen, um gegen die Politik der Orbán-Regierung, gegen Entrechtung, Demokratieabbau und für eine "verlässliche Zukunft" zu demonstrieren. Dem Bündnis aus mittlerweile über hundert Organisationen bleibt damit die gewünschte Mobilisierung noch versagt, doch die Signale, die vom Kossuth Platz ausgehen, sind stark, - das zeigten auch die nervösen Diffamierungen aus dem Regierungslager.

Es war eine friedliche, fast ausgelassene Athmosphäre auf und um den Kossuth Platz vor dem ungarischen Parlament. 15.000 ist eine Zahl, die der Reporter vor Ort mittragen kann, die Veranstalterangaben von bis zu 50.000 sind übetrieben. Nur ein Standardaufgebot an Polizei sicherte am Samstagnachmittag die Veranstaltung der Aktionseinheit des "D-Day" ab, denn nichts deutete auch nur ansatzweise auf Konfrontation hin, ganz anders sah es hier 2006 und 2008 aus.

Viele Transparente, Gewerkschaftsfahnen, einige Kostümierungen waren Zeichen, dass ein weites Spektrum von Betroffenen gekommen war, um ihren Unmut, nein, eher ihre Wut über die Politik der Orbán-Regierung auszdrücken. Am Donnerstag begann der D-Day mit ein paar hundert (symbolischen) Blockierern an der Kettenbrücke, am Freitag konstiutierte sich eine Art Runder Tisch, Samstag sollte mit einer Großdemo ein Zeichen gesetzt werden. Am Sonntag geht es wieder auf die Kettenbrücke, die historische und verkehrstechnische Halsschlagader der ungarischen Hauptstadt und es geht zum Präsidentenpalast.

Antwort auf epische Zerstrittenheit der Gewerkschaften

Die fluide, heterogene und noch sehr junge Aktionseinheit, die sich derzeit unter dem Motto "Für unsere Rechte, für unser Land!" formiert, ist eine Konsequenz aus der schon epischen Zerstrittenheit der großen Gewerkschaftskonföderationen in Ungarn und versucht, durch Äquidistanz zu sämtlichen politischen Richtungen auch die Politikverdrossenen, die Enttäuschten für sich zu interessieren. Daraus entsteht eine schwierige Gemengelage, denn man kann nichts dagegen unternehmen, wenn plötzlich, umringt von Kameras, ein Ferenc Gyurcsány bei der Demo auftaucht, um politisches Kapital einzusammeln und in einer anderen Ecke Rechtsextreme sich unter das Demovolk mischen - Freiheit und Pluralismus muss man aushalten können, offenbar sogar über Schmerzgrenzen hinaus.

Durch Fahnen, Transparente, Reden, versuchen die verschiedenen Gewerkschaften, Interessensgruppen auf sich und ihre Sorgen aufmerksam zu machen. Wir sehen die Eisenbahner, die Pädagogen, Feuerwehleute, Polizisten, die Bus- und Bahnfahrer, aber auch eine Fahne von Attac und eine Piratenflagge, dazwischen viele Bürger. Sie kämpfen gegen den Abbau - je nach Sichtweise - von Errungenschaften oder Gewohnheitsrechten, die heute nicht mehr bezahlbar sein sollen: Frühpensionierung, Überstundenzulagen, Arbeitszeitvergünstigungen. Entsprechend ist auch der Altersdurchschnitt der Demonstranten gefühlt doppelt so hoch wie in Madrid, Lissabon, Tel Aviv, er erinnert schon eher an Athen, denn die Probleme, die hier angesprochen werden, treffen das ganze Volk.

Einzelinteressen treten hinter allgemeines Entsetzen zurück

Manche Forderungen scheinen angesichts der Budgetlage utopisch. Doch diese Spezialinteressen treten allmählich hinter das einigende Entsetzen zurück. Die hier aufmarschieren, eint die Ahnung, manche die Gewissheit, dass in ihrem Land etwas Gefährliches geschieht. Im Sog einer notwendigen Reformkur wird die Demokratie, die Mitsprache des Volkes und der Betroffenen systematisch demontiert. Institutionen, die bisher für Ausgleich sorgten, ganz oben das Verfassungsgericht, wurden kastriert oder gleichgeschaltet.

Ein neues Arbeitsrecht wirft die Ungarn ins 19. Jahrhundert zurück, unter dem Deckmantel der Wettbewerbsfähigkeit. Wer Sozial- und also Dialogpartner ist, bestimmt Orbán heute persönlich. Das Streikrecht wird von Gerichten verinterpretiert, Gewerkschaften aus den Betrieben gedrängt. Man hat sehr wohl bemerkt, dass die Flat tax nur den Besserverdienern etwas bringt, das Kreditablösegesetze alles, aber keine Sozialmaßnahme ist.

Leere Orangensaftkartons als politisches Bekenntnis...

Ein ständiges "Es reicht!" weht um das Parlament

Die Wut wächst, weil sich wieder eine Ideologie als Heilsbringer über das Volk hinwegsetzen will, die Menschen belügt und ihnen Rechte und Würde nimmt. Man will, zaghaft noch, klarstellen, wer das Volk ist. Daher ist es auch kein Wunder, dass ein Teil der Menschen, die heute demonstrieren, die Gleichen sind, die auch schon gegen Gyurcsány demonstrierten, ja, viele (nicht die meisten) hier haben Orbán gewählt. Ein ständiges "Es reicht!", weht über den Platz, leider erreicht es noch zu Wenige.

Orbán als stalinistischer Diktator Rákosi - am Donnerstag an der Kettenbrücke

Versehrt von Grabenkämpfen und Feindbildern

Redner zielen auf ein "Wir-Gefühl", das "die Anderen" nicht ausschließt. Damit trifft man den Nerv, denn Ungarn ist versehrt von dauernden Grabenkämpfen der politischen Blöcke, ewigen, zementiert scheinenden Feindbildern. Wer nicht für uns ist, ist gegen Ungarn, diese Fidesz-Formel lässt man hier nicht auf sich sitzen. „Wir stehen zu diesem Land“, heißt es, und: „Wir wollen hier leben können.“ Gefordert wird so wenig und doch so viel: eine "berechenbare Zukunft", denn keiner wisse mehr, was morgen kommt, "was erwartet unsere Kinder", wird gefragt. Am Rande werden leere Orangensaftkartons entsorgt. Orange ist die Farbe von Fidesz.

Jeder ist Soldat seine Landes

Dann wird es kämpferischer, Péter Konya, Mit-Koordiantor der Aktionseinheit und Polizeigewerkschafter meldet in soldatischem Duktus, die "Landung war erfolgreich" und spielt damit auf den "D-Day" an, diesen martialischen Namen, den man sich für die Aktionsserie gewählt hatte. Es wird ein polnischer Militärmarsch gespielt, was zunächst irritiert, dann stellt man den Zusammenhang mit Solidarnosc her. Ein cleverer Schachzug, stellt man so doch einen systemwandelnden Anspruch ohne auch nur in den Hauch eines Links-Verdachtes zu geraten.

Diese "beeindruckendste Graßwurzelinitiative der europäischen Geschichte” solle das Vorbild sein. Konya sagt, er habe als Soldat einen Eid geschworen, die Demokratie zu verteidigen, sein Land zu schützen. Er habe nicht vor diesen Eid zu brechen, sagt er, nun schon etwas bedrohlicher klingend. Die Leute sind gefangen, die Kombination von Soldat und Demokratie hat überrascht und einige elektrisiert.

Szolidaritás, man besinnt sich einer erfolgreichen Bewegung. Wird es was bringen?

Lapidare Diffamierung aus dem Regierungslager

Jeder Bürger ist “Soldat seines Landes”, im Gegensatz dazu die Parteien, “die das Land seit der Wende unter sich aufgeteilt, Familien und Freunde gespalten haben.” An Arbeitsplätzen sind Stimmungen entstanden, die normale Gespräche unmöglich machten. "Das wollen wir nicht mehr" tönt es vor dem Parlament, doch genau das wird ab Montag wieder in diesem "Hohen Hause" zelebriert.

Schon kam die lapidare Diffamierung aus dem Regierungslager, als der Orbán-Sprecher nur meinte, dass eben "einige Gewerkschaftsvertreter nicht die Interessen des Volkes, sondern ihre eigenen vertreten". Die offiziöse Nachrichtenagentur MTI stellte die Demo als ein Aufmarsch von Privilegienrittern dar. Was für eine haarsträubende Verachtung gegenüber den Problemen der Menschen herrscht bei den Mächtigen, die glauben, sie und die von ihnen Erwählten (im Moment die LIGA-Konföderation, die sich von Orbán hofieren lässt, weil sie nicht beißt, nur bellt.) seien das Volk. Mit dieser Einstellung fing meist der Untergang der großen "Volks-Vertreter" an. Auch hier weist Solidarnosc den Weg. Orbán hatte demonstrierende Ordnungshüter als Clowns bezeichnet, Fidesz-Funktionäre reagieren auf Kritik wie früher die Politbüromitglieder.

Die Entwicklung dieser "Ungarischen Solidarnosc", deren Gründung am Samstag ausgerufen wurde, kann mit darüber entscheiden, welchen Weg die Demokratie in diesem Land in absehbarer Zukunft gehen wird, den der "öffentlichen Sache", der Volksherrschaft, die sie sein sollte oder den des bewussten Missbrauchs als einer Diktatur von Mandatsmehrheiten und Spielball der Mächtigen.

Christian-Zsolt Varga, red., M.S.

Fotos: MTI, Pester Lloyd

 

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