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(c) Pester Lloyd / 43 - 2012   POLITIK & MEDIEN 25.10.2012

 

Virtueller Größenwahn

Ungarn plant Internetzensur, Website-Blockaden auch ohne Gerichtsurteile

Das Justizministerium in Budapest hat im Rahmen der Strafrechtsreform Vorschläge unterbreitet, die eine Blockade von Internetseiten schon während der Ermittlungsphase ermöglichen. Die Tatfelder sind so schwammig formuliert, dass sie zum politischen Missbrauch eines solchen Filters geradezu einladen. Sowohl aus technischer wie rechtsstaatlicher Sicht erntet der Entwurf vernichtende Kritiken, was für die Regierung aber kein Grund sein wird, ihn zurückzuziehen.

Vom Regierungschef zum obersten Contentmanager? Viktor Orbáns Regierung plant weitgehende exekutive Eingriffsrechte ins Internet. Nur um rechte Hassportale einzudämmen?

Der umstrittenste Passus des Entwurfes von Justizminister und Vizepremier Navracsics, betrifft eine Regelung, wonach Webseiten auch während laufender Ermittlungen, also noch vor einem Gerichtsurteil, gesperrt bzw. abgeschaltet oder blockiert werden können. Anlass für diesen Vorschlag bot die Debatte um rechtsextreme Webseiten, die tagtäglich Hetze gegen Minderheiten und Andersdenkende betreiben. Doch formuliert ist der Gestezentwurf so "allgemeingültig", dass auch auf jede andere Webseite, in der diese Regierung eine "Gefahr" sehen könnte, Zugriff erfolgen kann.

Vor allem das Portal kuruc.info stand in den letzten Monaten immer wieder im Blickfeld der Öffentlichkeit, aber auch barikad.hu oder szentkoronaradio.com bieten ähnliche Inhalte und stellen nur die prominentesten Vertreter eines weitverzweigten und vielgenutzten Netzwerkes des Hasses dar, das sowohl aus dem Umfeld der Parlamentspartei Jobbik wie auch durch eine Vielzahl von anderen Gruppen promotet wird und das mittlerweile auch durch viele dort werbende Unternehmen, einer Art völkischer Industrie, finanziell gestützt wird.

Kein Zugriff auf Webserver in den USA, also Filter in Ungarn?

Das Problem ist, dass ungarische Behörden z.B. auf kuruc.info keinen Zugriff haben, um Straftaten nach dem "Anithassredegesetz" zu ahnden, denn die Seite wird über einen in den USA stationierten Server betrieben, die Domain ist auf den Namen eines ungarischen Winzers, der sowohl in Ungarn als auch den USA ansässig ist, ebenda registriert. Dieser kümmert sich auch um die Abwicklung der Finanzen und Spenden für die stramme Neonazi-Webseite. Selbst eine Verurteilung desselben in Ungarn (für die es übrigens keinerlei Bemühungen gibt) würde noch längst keine Konsequenzen in den USA nach sich ziehen.

Die ungarische Regierung hatte den amerikanischen Kongress, als Antwort auf von dort geäußerte Bedenken hinsichtlich wachsenden Antisemitismusses in Ungarn, aufgefordert, Schritte zu unternehmen, um den Zugriff auf Webseiten zu ermöglichen, die gegen ungarische Gesetze verstoßen, u.a. gegen das Verbot von ethnisch diskriminierender Hetze. In diesem Zusammenhang formulierte Budapest den Vorwurf, dass die USA durch ihre zu liberale Gesetzgebung zur Meinungsfreiheit den Antisemitismus in Ungarn fördere, eine klassische Schuldumkehr, wie man sie in fast allen Bereichen, wo etwas in Ungarn schief läuft (und das sind fast alle Bereiche) findet.

Da die Amerikaner durch den Brief einer ungarischen Regierung verständlicherweise nicht zu Änderungen an Gesetzen, die Bezug auf die Unabhängigkeitserklärung nehmen, zu bewegen waren, der Zugriff auf die Server also in der Praxis nicht möglich ist, überlegt man im Justizministerium nun, den Zugang zu den entsprechenden Seiten, auch wenn sie im Ausland gehostet sind, so sie Teil von strafrechtlichen Ermittlungen werden, zu unterbinden, was technisch nur durch im Inland, bei den Providern installierte Filter möglich werden wird.

Ab wann ist eine Webseite ein Verbrechen "gegen den Staat"?

Unabhängig davon, dass der logistische und technische Aufwand dafür immens hoch wäre, ohne wirklich ein Mittel darzustellen, den Zugang zu solchen Seiten gänzlich zu verhindern, wird ersichtlich, dass dieses Gesetz in mehrfacher Hinsicht gegen freiheitliche unde rechtsstaatliche Grundprinzipien verstoßen müsste. Ein Ermittlungsverfahren ist noch kein Urteil, die Blockade wäre also eine reine Zensurmaßnahme der Ecekutive. Die Löschung oder Blockade von Webseiten hätte aber juristisch nur einen Sinn, wenn sie mit der Verurteilung des Verursachers einhergeht, was durch dieses Gesetz jedoch nicht besser oder schlechter gelingen wird als bisher. Denn Sachen können keine Straftaten begehen, nur Menschen.

Besonders beängstigend ist dabei der große Interpretationspielraum, den der Gesetzentwurf hinsichtlich der Ermittlungsfelder lässt, bezieht es es sich doch nicht nur auf die gesetzlich sanktionierte "Hassrede", sondern, so der ministerielle Entwurf, auch auf "Kinderpornografie, Terrorismus und Verbrechen gegen den Staat". Vor allem letzte beiden Begriffe lassen sich notfalls so zurecht biegen, dass man damit auch problemlos nicht genehme, oppositionelle Medien und Bewegungen maßregeln könnte, denn diejenigen, die "eine neue Republik" fordern, wollen ja in gewisser Weise einen anderen Staat, nicht nur eine neue Regierung. Sind sie damit nicht schon Staatsfeinde?

Zensurerprobte Medienbehörde soll Filter mit Providern umsetzen

Bei der in Ungarn geplanten Internet-Blockade müsste man sich mit den hinter den inkriminierten Seiten stehenden Personen zunächst nicht einmal direkt juristisch auseinandersetzen, denn für die Umsetzung der Blockade wären allein die Provider in der Pflicht. Laut dem Entwurf soll die zensurerprobte Medienbehörde NMHH, deren Chefin vom Premierminister ernannt und entsprechend ausgewählt wurde, mit einer Datenbank direkt mit den Internetprovidern verbunden werden. Dort wird dann eine sogenannte "Schwarze Liste" geführt, auf der all jene Internetseiten verzeichnet werden, zu denen der Zugang über eine DNS- bzw. IP-Sperre, verhindert bleiben soll. Gefüttert würde diese Liste vor allem von der Zentralen Ermittlungsbehörde, der Staatsanwaltschaft, aber auch der Anti-Terror-Einheit TEK, die bereits heute schwindelerregende Vollmachten inne hat und wegen ihrer direkten Unterstellung auch als “Orbáns Privatarmee” bezeichnet wird.

Hase gegen Igel

Technisch ist das Verfahren der DNS-Sperre zwar recht leicht zu umgehen, allerdings würden sich diejenigen, die sich mit ein paar Klicks dem staatlichen Filter entziehen, dann ebenfalls strafbar machen. Aber auch den Haßseiten wird man so nicht Herr, denn es dürfte klar sein, wer bei dem unausweichlich folgenden Wettrennen zwischen Serverwechseln und Webblockaden Hase und wer Igel ist. Kommentatoren in Ungarn schütteln denn auch reihenweise die Köpfe, ob der Blauäugigkeit der Regierung, die Verfasser des Gesetzentwurfes seien offenbar absolute Internet-Neulinge, das Gesetz nichts weiter als virtueller Größenwahn. - Dieser könnte aber sehr bald sehr real werden.

Kontrollwahn als Antwort auf Fehlentwicklungen

Dass die Angst vor einer willkürlichen Internetzensur seitens der Orbán-Regierung nicht nur ein Hirngespinst von Regierungsgegnern ist, belegen viele Maßnahmen, die einen regelrechten Kontrollwahn erkennen lassen. Die mittlerweile vollendete Gleichschaltung des öffentlich-rechtlichen Runfunks, einschließlich der exklusiven, zentralen Nachrichten-Belieferung aller öffentlichen Sender durch die Agentur MTI sei hier als herausragendes Beispiel genannt und ist schon sehr nahe an den Orwellschen Prognosen aus "1984". Die geplante, ungarische Version von Internetkontrolle geht dabei weit über das hinaus, was andere westliche Länder unter dem Banner des Zivil- und Urheberrechtsschutzes vorantreiben und erinnert eher schon an die aussichtslosen Bemühungen der Iraner und Chinesen, ihr Volk vor "schlechtem Einfluss" zu "schützen".

Im Kampf gegen Rassismus und Neofaschismus ist Internetzensur das wohl unpassendste Mittel, das sich denken lässt und der Gesetzentwurf der Regierung ist nicht einmal zur Bekämpfung der Symptome einer Entwicklung geeignet, deren Ursachen nicht im Internet liegen. Das Internet, einschließlich der verdammenswerten Hasswebseiten, ist hier nur der Überbringer der "schlechten Nachricht", die in wachsender Armut, Existenz- und Zukunftsangst, Demagogie und wahltaktischem Kalkül auch dieser Regierungspartei besteht.

Dass man eine zum großen Teil selbst verschuldete Fehlentwicklung zum Anlass nimmt, die eigene Macht zu vergrößern und die Bürger zu entmündigen, anstatt die Fehlentwicklung selbst durch eine andere Politik umzukehren, ist Kennzeichen vieler Regierungen, doch die ungarische hat es darin zu einer gewissen brachialen Perfektion gebracht.
 

red.

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