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(c) Pester Lloyd / 03 - 2013   TSCHECHIEN 14.01.2013

 

Freiheit für Verbrecher?!

Massen-Amnestie für Häftlinge in Tschechien wird zur Staatsaffäre

Der scheidende tschechische Staatspräsident Václav Klaus hat rund einem Drittel aller Inhaftierten Amnestie gewährt. Offiziell als großzügige Geste erklärt, versetzt es Politik und Gesellschaft in Aufruhr, die Sache wird zur Staatsaffäre. Der Korruptionssumpf der 1990er Jahre tritt wieder ins Bewusstsein der Tschechen und so mancher fragt sich, ob Klaus nicht doch einfach nur versucht Spuren zu verwischen…

In Tschechien kann der Staatspräsident Häftlingen Amnestie gewähren, was in der Verfassung festgeschrieben ist und darüber hinaus nicht einmal einen unüblichen Vorgang darstellt.  Davon profitieren in der Regel Kleinkriminelle, also Leute, deren Haftstrafe nicht mehr als ein Jahr beträgt, oder ältere Menschen über 75 Jahre. In seiner Neujahrsrede am 1. Januar 2013 machte Präsident Václav Klaus von der Amnestiegewährung Gebrauch und entschied sich anlässlich des zwanzigjährigen Bestehens der Tschechischen Republik für ein besonders großes Geschenk. Klaus begnadigte mit 7414 Personen fast ein Drittel aller Inhaftierten. Aus einem praktischen Blickwinkel mag diese immense Zahl sogar Sinn ergeben, gelten doch die tschechischen Gefängnisse als völlig überfüllt.

Freiheit für Wirtschaftskriminelle und Korruptionstäter

Der Vorsitzende der Partei Věci veřejné („Öffentliche Angelegenheiten“) Radek John machte sich im Zuge der Größe der von der Amnestie betroffenen Gruppe allerdings Sorgen: „Wir werden sehen, welche konkreten Fälle die Amnestie betrifft. Mir graut davor, dass dazu auch Wirtschaftsverbrechen und Korruption gehören könnten.“ Mit dieser Befürchtung sollte er Recht behalten. Denn die Amnestie bezieht sich nicht nur wie obligatorisch in erster Linie auf Kleinkriminelle und Ältere, sondern im zweiten Teil wird auch Straffreiheit für jene gewährt, die noch nicht rechtskräftig verurteilt sind, deren Prozess sich schon länger als acht Jahre hinzieht und die eine maximale Strafe von zehn Jahren erwartet. Gerade das trifft in großem Umfang auf Wirtschaftskriminelle und Korruptionstäter zu, da deren Verfolgung oftmals über mehrere Jahre andauert.

Auf Grund dieser letztgenannten Gruppe war der Aufschrei in Tschechen nicht zu überhören; es herrscht große Empörung. Der Hintergrund ist, dass durch die Amnestie auch einige begnadigt werden, deren Name eng verbunden ist mit den dunklen Zeiten einer korruptionsverseuchten Tschechischen Republik in den 1990er Jahren. Beispielsweise wurde auch der Geschäftsmann und ehemalige Präsident des tschechischen Fußballverbandes František Chvalovský, in dessen Taschen zu jener Zeit durch Kreditbetrug rund 1,5 Milliarden tschechische Kronen (ca. 58,5Mio €) wanderten, durch die Amnestie freigesprochen. Regierungschef zu jenen Zeiten war übrigens Václav Klaus... Es ist also denkbar, dass Klaus Spuren zu verwischen versucht, die einen möglichen Zusammenhang zwischen Korruptionsfällen und seiner Person herstellen könnten.

Protest auf politischer und gesellschaftlicher Ebene

Der Protest ist vielschichtig. So begannen dutzende Schulen, wie auch Bürgermeister, das Portrait Václav Klaus‘ von den Wänden zu entfernen. Mittlerweile haben sich über 600 Gemeinden und Städte diesem symbolischen Protest angeschlossen und auch im Internet formieren sich die Menschen gegen den Erlass den Präsidenten. Auf Facebook wurde die Online-Petition „Nesouhlasíme s Klausovou amnestií“ („Wir stimmen der Amnestie von Klaus nicht zu“) gestartet, welche bisher über 375.000 Menschen unterstützen. Darüber hinaus hat sich auf politischer Ebene durch die Initiative der Senatorin Alena Dernerová eine Gruppe von Senatoren gebildet, die gegen den zweiten Teil der Amnestie eine Verfassungsbeschwerde einreichen wird. Demnach sei dieser verfassungswidrig, da Geschädigten das Recht auf ein gerechtes Verfahren verweigert würde. Auch in Zivilverfahren könnten diese ihr Recht nicht geltend machen, da hier eine Verjährungsfrist von drei Jahren gelte, wie der Anwalt Milan Hulík mitteilte.

Klaus verteidigt Amnestie

Präsident Klaus verteidigte die Amnestie damit, dass jeder, nicht nur Kleinkriminelle, eine zweite Chance verdient hätten und dass er von der Richtigkeit der Entscheidung überzeugt sei. Außerdem rechtfertigte der als sehr europakritisch geltender Präsident seinen Entschluss interessanterweise mit europäischen Rechtslinien. So argumentierte er, dass laut des Europäischen Gerichtshofs für Menschenrechte ein sechsjähriges Strafverfahren unzulässig sei und er in diesem Zuge entschieden habe, dieses Limit auf acht Jahre zu erhöhen. Mit dieser Argumentation müsste sein Schritt rechtlich absolut unbedenklich sein. Allerdings wiesen Experten darauf hin, dass dieses sechsjährige Limit nicht so einfach wie dargelegt existiere. Demnach achte der Europäische Gerichtshof für Menschenrechte genau darauf, wieso sich Prozesse verzögern und auch wie kooperativ sich die Angeklagten zeigen. Insbesondere bei einer Vielzahl der tschechische Fälle sei es so, dass die Angeklagten und ihre Anwälte diverse Möglichkeiten ausschöpfen würden, die Dauer des Prozesses so lang wie möglich auszudehnen, was im Widerspruch zur Kooperation steht.

Amnestie „unglaublich dilettantisch“

 

Am Donnerstag hat sich zum rechtlichen Procedere auch der Vorsitzende des tschechischen Verfassungsgerichts Pavel Rychetský zu Wort gemeldet. In einem Interview mit der Tageszeitung Hospodářské noviny bezeichnete er die Amnestie als „unglaublich dilettantisch“. Seit 1920 sei die Amnestie stets unter der Leitung des Justizministeriums vorbereitet worden und nicht durch den Präsidenten. Darüber hinaus sei es, sogar gemäß Verfassung, die Aufgabe des Premiers diese gegenzuzeichnen mit dem Hintergrund, damit die Regierung die Auswirkungen einschätzen könne. Dafür sei ein Heer von Angestellten des Justizministeriums von Nöten. Premier Petr Nečas hatte die Amnestie zwar gegengezeichnet, allerdings nicht wie vorgeschrieben nach einer angemessenen Überprüfung. Dieser sah im Setzen seiner Unterschrift nur einen formalen Prozess. So äußerte er, dass die Amnestie ein vornehmes Recht des Präsidenten sei und der Premier demzufolge nur prüfen müsse, ob diese nicht gegen geltendes Recht verstoße.

Am 17. Januar soll es in diesem Zuge ein weiteres Misstrauensvotum gegen die Regierung von Premier Nečas geben. Der Erfolg dieses Anliegens der Opposition ist aber äußerst fraglich, da sie nicht über die nötige absolute Mehrheit verfügt. Die konservativ-bürgerliche Regierungskoalition hat bisher vier Misstrauensvoten überstanden.

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Christopher Schulz

 

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