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(c) Pester Lloyd / 16 - 2013   GESELLSCHAFT 18.04.2013

 

Erinnerung im Zwielicht

Holocaust-Gedenktag in Ungarn zwischen Scham, Revisionismus und neuem Antisemitismus

Am Dienstag gedachte Ungarn dem Massenmord an den eigenen Bürgern, der 1944, also vor 69 Jahren, mit der systematischen Internierung und Deportation von über 400.000 ungarischen Juden in die deutschen Vernichtungslager seinen Höhepunkt erreichte. Insgesamt wurden geschätzte 560.000 ungarische Juden während des Zweiten Weltkrieges umgebracht. Das Gedenken und die Aufarbeitung dieser Zeit unterliegt auch aktuellen Politikzielen.

Neben offiziellen Vertretern nutzten und nutzen auch viele einfache Bürger das
sehr bewegende Denkmal am Donauufer für das Gedenken an die Opfer. Wer kann ungerührt bleiben beim Anblick auch von Kinderschuhen, die an die Grausamkeiten von 1944/45 erinnern. Nazistische Schmierereien, sogar Schweinefüße in den Bronzeschuhen blieben auch diesem Ort nicht erspart.

Der offizielle Teil des Holocaust-Gedenktages fand am Denkmal am Pester Donauufers statt (siehe Foto), dort wo von ungarischen Nazis Hunderte Juden, auch Frauen und Kinder erschossen, teilweise noch lebend in die eisigen Fluten gestoßen wurden. Dort hielt Vizepremier Navracsics eine Ansprache und entzündete eine Kerze. Er sagte, dass man heute nicht nur den Opfern des Holocaust gedenkt, sondern auch denjenigen, deren Geburt durch den Tod ihrer potentiellen Eltern verhindert wurde. Ungarn als Nation vermisse eine ganze Generationen talentierter Menschen durch dieses Verbrechen.

Fidesz-Bildungssprecher Zoltán Pokorni betonte, dass die Einführung dieses Gedenktages auf die Initiative seiner Partei 2000 zurückggeht. Er stellte klar, dass der Holocaust Teil der ungarischen Nationalgeschichte ist und betonte, dass sowohl "jene die getötet wurden als auch jene, die töteten, Ungarn waren". Diese Haltung weicht sowohl von der sonst meist verbreiteten offiziellen These ab, wonach "Ungarn sich schäme, dass der ungarische Staat den Holocaust nicht verhindert" habe (was nicht stimmt, da er aktiv an der Vernichtung mitwirkte) als auch von der Problematik, dass die ethnischen und sonstigen Minderheiten in der neuen ungarischen Verfassung zwar als "staatsbildender Teil", aber nicht explizit als der Nation zugehörig definiert werden.

Die zwielichtige Haltung in Fragen der Erinnerungskultur, die regierungsseitig auf eine Gleichstellung des braunen und roten Terrors bei gleichzeitiger Betonung der Fremdschuld und einer Reinwaschung der Horthy-Ära getrimmt wird, schien auch in Hódmezövásárhely durch, wo Verteidigungsminister Csaba Hende eine Konferenz abhalten ließ, die sich mit den "Rettern" von ungarischen Juden während des Holocausts befasste. Es ist dies das gleiche Ministerium, das - übrigens auch schon unter "sozialistischer" Leitung - jährlich die 1942 am Don aufgeriebene 2. Ungarische Armee als "Helden" feiert, die dort aufgrund eines Paktes von Horthy mit Hitler stand und die bei der Errichtung von Wällen systematisch auch ungarische Juden, Bewohner der besetzten Gebiete ("Oberungarn", Vojvodina) sowie Kommunisten und andere Andersdenkende als Zwangsarbeiter einsetzte, Todesfolge eingeschlossen.

Parlamentspräsident Kövér wurde im Vorjahr vom israelischen Parlament ausgeladen, weil er einem Pfeilkreuzlerpolitiker und antisemitischen Schriftsteller in Rumänien huldigte. Man könne nicht gleichzeitig Wallenberg und einen Antisemiten ehren, hieß es in der Begründung. Es ist auch nicht zu vergessen, dass 2011, auf Anweisung eines Staatssekretärs die wissenschaftliche Leitung der Holocaust-Gedenkstätte ausgetauscht wurde, weil der Regierungspartei die Herstellung einer Folgerichtigkeit der Einmärsche Horthys in die Vortrianongebiete über den Einmarsch der Hitler-Truppen in Ungarn bis hin zu den Todesmärschen der Juden ahistorisch erschien.

Für das kommende Jahr hat die ungarische Regierung eine staatliche Kommission eingesetzt, um das Gedenken zum 70. Jahrestag des Holocausts vorzubereiten und zentral zu lenken. In diesem Jahr ist das Holocaust-Gedenken durch einen geplanten Aufmarsch am Samstag, 21. April, gestört worden, bei dem eine Nazi-Biker-Gang mit dem Motto "Gib Gas!" u.a. an der Synagoge vorbeiparadieren wollte, just am gleichen Tag, an dem der "Marsch der Lebenden" im Gedenken an die Opfer abgehalten wird. Nachdem die Sache Schlagzeilen produzierte,
ließ Premier Orbán den Aufmarsch verbieten, was von der Regierung als besondere Leistung dargestellt wird. Mittlerweile wurde die zunächst durch die Polizei erlaubte Veranstaltung durch das Innenministerium verboten, ein Einspruch der Veranstalter durch ein Gericht abgewiesen.

Der israelische Botschafter in Budapest, Ilan Mor an der Holocaust-Gedenkstätte in der Innenstadt. Auch Kardinal Erdö und andere Vertreter des ungarischen öffentlichen Lebens schlossen sich hier der mahnenden Trauer an.

 

Auch für den im Mai in Budapest angesetzten Jüdischen Weltkongress haben Neonazis einen "Antizionistischen und antibolschewistischen" Marsch angekündigt. Der Weltkongress, der nur selten außerhalb Jerusalems zusammenkommt, wählte in diesem Jahr Budapest ganz bewußt als Tagungsort, um seine Solidarität mit den ungarischen Juden auszudrücken, die wachsendem Antisemitismus im Alltag ausgesetzt sind. Kritiker der Regierung betonen, dass die wachsende "Salon- und Alltagsfähigkeit" von antisemitischen Äußerungen nicht nur von der extremen Rechten ausgeht, sondern auch das Ergebnis wahltaktischen Kalküls der Regierungspartei ist, die potentielle Wählergruppen am rechten Rand für sich gewinnen will, durch die Übernahme politischer Law-and-order Forderungen, die Bedienung nationalistischen Sentiments und die Duldung rassistischer "Ausrutscher" in den eigenen Reihen (Bayer) sowie die "Einbindung" der "intellektuellen Rechten" ins öffentliche Leben (Theaterdirektor Dörner).

Weitere Gedenkveranstaltungen fanden am Montag am Holocaust-Zentrum, an der Synagoge, dem Haus des Terrors in verschiedenen Budapester Theater, der ELTE-Uni statt sowie auch in den Städten Pécs, Szerencs, Kiskorös and Balatonfüred.

Weiterführende Artikel zu den angsprochenen Problematiken finden Sie unter dem jeweiligen Stichwort in der Volltextsuche:

 

m.s.

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