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(c) Pester Lloyd / 34 - 2013   GESELLSCHAFT 23.08.2013

 

Gestörte Festtagsstimmung

Verschuldete Ungarn protestieren gegen Banken und Regierung

Ungarns Staatspräsident Áder mahnte einen freundlicheren Umgang der Ungarn miteinander an, Premier Orbán stilisierte sich selbst zum Nachfolger des Heiligen Stephan, sein Stellvertreter Semjén feierte den 500.000. Auslandsungarn mit neuem Pass. Doch die staatstragenden Festivitäten, die offizielle Beschwörungsformeln der "Nationenschützer", ihre sakral-frömmelnden PR-Rituale wurden in diesem Jahr durch eine sehr prosaische Malaise gestört.

Der unangemeldete Protest Hunderter Aktivisten und Sympathisanten der Forex-Schuldner-Bewegung "Die Heimat ist nicht zu verkaufen!" lenkte die Aufmerksamkeit der Öffentlichekeit von den feiertäglichen Wolkenschlössern auf sehr praktische Fragen in irdischen Niederungen. Die Gruppe legte am Dienstagnachmittag, also just am Tag des Heiligen Stephan, eine für den innerstädtischen Verkehr in Budapest bedeutsame Kreuzung (Astoria) stundenlang lahm. Die Polizei verhaftete daraufhin den Anführer der Gruppe, Árpád Kásler, sowie zwei Mitstreiter wegen des unerlaubten Eingriffs in den Straßenverkehr und Verstoßes gegen das Versammlungsgesetz sowie wegen "Gefährdung der öffentlichen Sicherheit".

Die Schuldnerbewegung, die - nach eigenem Anspruch - die Interessen von rund 2 Mio. in Fremdwährung verschuldeter Ungarn vertritt, wovon rund ein Drittel zahlungsunfähig ist, fordert einen "echten Dialog" mit der Regierung über geeignete Maßnahmen zur Reduzierung der Schuldenlasten sowie zur sozialen Abfederung von zunehmenden Zwangsversteigerungen und -räumungen.

Regierung tüftelt an weiterem “Hilfsprogramm”

Die ungarische Regierung ist, nach jahrelangen halbherzigen Modellversuchen, gerade dabei, ein Gesetz zu schmieden, dass die Banken zum generellen Umtausch von Forex- in Forint-Kredite zu einem noch zu bestimmenden Fixkurs zwingen soll, einschließlich einer daraus resultierenden Laufzeitverlängerung und Stundungsmöglichkeiten für insolvente (ein Privatinsolvenzgesetz ist ebenfalls noch anhängig) Schuldner. Allerdings gestaltet sich die Aufteilung der daraus resultierenden Ausfälle und Kosten als schwierig, da die Orbán-Regierung die Banken schon bis zum Anschlag abschöpft. Den "Dialog", den das Finanzministerium dabei mit Bankenvereinigung und "Bürgerorganisationen" gehalten haben will, hält die Schuldnerbewegung für einen Betrug. Letztere bestanden nämlich lediglich aus der fidesztreuen Friedensmarschbewegung, während erstere nur die Interessen der Banken vertritt. Ein mit Präsident Áder anberaumtes Treffen wurde kurzfristig abgesagt.

Ein Grundsatzartikel mit weiterführenden Links zu dieser komplexen Thematik:
Finanzieller Amoklauf + ökonomische Irrfahrt
Was tun gegen die Massenverschuldung der Bürger in Ungarn?
http://www.pesterlloyd.net/html/1326finanzielleramoklauf.html

Antisemitische Untertöne

Es sind dies nicht die ersten Demonstrationen dieser Gruppe, die bereits mehrere tausend Menschen mobilisieren konnte und nun ankündigte, in bis zu 50 Städten noralgische Verkehrsknotenpunkte lahm zu legen. Allerdings handelt es sich bei der Gruppe nicht um eine rein sozial motivierte Bewegung, tauchen doch bei den Demos sowie in den Reden immer auch Symbole und Losungen des nationalistischen und rechtsextremen Spektrums auf, die über die Gier der Banken gern einen Bogen zur "die Welt beherrschenden Finanzmafia" spannen, das "Finanzjudentum" inklusive. Der Chef der Gruppe, Kásler tritt auch schonmal bei Jobbik-Veranstaltungen auf und lässt sich auf deren Plakaten als Werbefigur abbilden.

Banken sind an allem Schuld...

Erschwerend kommt hinzu, dass das Problem der Forex-Überschuldung seit dem Krisenhöhepunkt vor fünf Jahren nicht kleiner, sondern stetig größer wird, auch wenn gar keine neuen Forex-Kredite mehr ausgegeben werden. Vor allem der volatile, tendentiell abschmierende Forint leistet hier eine andauernd schmerzhafte Arbeit, die gesunkenen Einkommen und die prekäre Arbeitssituation von Millionen gibt dem "unteren Drittel" den Rest. Zumal die Zwangsversteigerungsmoratorien, inkl. Aussetzung von Zwangsräumungen angesichts der exzessiven Besteuerung der Banken nicht länger aufrecht zu erhalten waren, wie die Regierung meint.

Erst zu gierig, dann zu dumm?

Das Gefühl großer Teile der verarmten Bevölkerung, auch des abstürzenden Mittelstandes, dass die Regierung nicht wirklich einen Plan für ihre Anliegen hat, wird immer mehr durch das Faktische bestätigt. Allerdings stellt der Durchschnittsungar zwischen seiner prekären Lage und z.B. der reichenfreundlichen Flat tax oder den Tabakhandelslizenzen noch keine Kausalität her, die sich in Wahlumfragen negativ gegen die Regierungspartei auswirkt. Kritiker werfen der Bewegung rund um Kásler indes auch vor, dass ihre Anhänger zunächst zu gierig und konsumgeil waren, sich auf die Verlockungen der Forex-Kredite einzulassen und nun, da sie sich übernommen haben auch noch zu dumm sind, diejenigen zu identifizieren, die an ihrem Elend der zu niedrigen Einkommen wirklich die Schuld tragen und sich an den Banken abputzen, die nichts weiter als die Chance auf Profite und Markanteile wahrgenommen haben.

Ungewohnter Gegenwind aus den “eigenen” Reihen

Die Regierung tut sich entsprechend schwer, mit den Protestierern umzugehen, denn zum Einen ist die "Fremdschuldthese" ureigenste Regierungsargumentation, zum Anderen ist die Hegemonialmacht Fidesz den Gegenwind von Mitte-Rechts nicht gewohnt, er lässt sich kaum mit den üblichen Diffamierungen bekämpfen, wenn man nicht die eigene Anhängerschaft verärgern will. Findet die Regierung hier keine Lösung, mit der sie sich selbst aus der Schusslinie nehmen kann, könnte die Antischuldnerbewegung den Wahlsieg des Fidesz am Ende mehr gefährden als die gesamte politische Opposition zusammen.

26,3% der Hypothekenkredite sind faul

 

Passend zum Geschehen veröffentlichte die Zentralbank am Tag nach dem Nationalfeiertag die neuesten Schulden- und Kreditausfallquoten. Danach waren Ende Juni 18% aller Kredite von Privathaushalten mehr als 90 Tage überfällig, bei Hypothekenkrediten stieg die Ausfallrate binnen drei Monaten von 17,6% auf 18,3% an. Leichte Rückgänge der Ausfallquote bei anderen privaten Krediten sind hingegen auf den Verkauf der Ansprüche seitens der Banken zurückzuführen, die sich auf diese Weise von rund 300 Mio. EUR Schulden entledigten, branchenintern werden solche Papiere für Quoten von um die 12% gehandelt. Bei Forexkrediten liegt die durchschnittliche NPL-Quote (non performing loans) mittlerweile bei 21,2%, die Forex-Hyopthekenkredite sind zu über 26,3% faul. Ende Juni schuldeten ungarische Privatpersonen den Banken in Summe 6,6 Billionen Forint, rund 22 Milliarden Euro bzw. ca. 21% des BIP. Davon sind 1,19 Billionen, sprich knapp 4 Mrd. EUR chronisch überfällig. Ein interessantes Detail: rund die Hälfte der anhand von Regierungsvorlagen "umstrukturierten" Kredite bleiben auch nach Umtausch, Laufzeitverlängerung, Ratenreduzierung etc. unbedient.

cs.sz. / red.

 

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