THEMA: WAHLEN UNGARN 2014

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(c) Pester Lloyd / 22 - 2014 POLITIK 28.05.2014

 

Auf dem Brunnenboden: Selbst am Abgrund stehend verkennen Ungarns "Sozialisten" den Ernst der Lage

Das Europawahlergebnis der ungarischen "Sozialisten", MSZP, aber auch das Abschneiden der Konkurrenz im eigenen Lager, zwingt die langjährige Regierungspartei zur überfälligen Neuaufstellung. Ob diese nur personell umgesetzt wird oder die Sozialdemokraten endlich auch programmatisch und strategisch eine gesellschaftlich relevante Rolle wiederfinden, muss vorerst offenbleiben. Den Zeitpunkt für einen Machtwechsel bestimmt im heutigen Ungarn ohnehin die Regierung - durch ihr unausweichliches Scheitern.

Betretene Gesichter nach Bekanntwerden des EU-Wahlergebnisses der MSZP

Man kann die desaströsen 10.9% Stimmenanteil, welche die MSZP bei den Europawahlen am vergangenen Sonntag erreichte, natürlich auf den Frust der Anhängerschaft schieben, die nach der zweiten deutlich verlorenen nationalen Wahl in Folge einfach zu Hause geblieben ist. Immerhin gingen ohnehin nur 28% des Wahlvolkes zu den Urnen, die fünftschlechteste Quote in der EU. Wie aussagekräftig ist so ein Ergebnis also?

Es besagt immerhin nicht nur, dass sich die neonazistische Jobbik als zweitstärkste Kraft im Lande etabliert hat und zwei Drittel der politisch aktiven Bevölkerung rechte und extrem rechte Parteien wählen. Es besagt auch, dass selbst das liberale bis linke Ungarn die MSZP nicht mehr als fähig erachtet, eine wählbare und regierungsfähige Alternative zu stellen. Mesterházy haftet nun endgültig ein Verlierer-Image an, der Parteichef, von Beginn an eine Marionetten der alten Granden, hat engültig abgewirtschaftet.

Noch am Wahlabend erklärte der gesamte Parteivorstand seinen Rücktritt, auch Parteichef Attila Mesterházy wird am Samstag, bei einem außerordentlichen Parteikongress sein Amt zur Verfügung stellen. Als Nachfolger ist u.a. István Hiller im Gespräch, unter Gyurcsány Bildungs- und Kulturminister und nicht gerade als Palaststürmer bekannt. Womöglich kommt es sogar zu einer Urabstimmung. Doch viel wichtiger als die Personalien an der Spitze wird zunächst eine inhaltliche und strategische Selbstbesinnung und Neuorientierung sein, der man sich über den Sommer widmen will. Die bis 2010 gefahrene Blair-Schröder-Sozialdemokratie in Verbindung mit alten Vorwendeseilschaften führte ins Chaos und zu Orbán. Seitdem ist die MSZP in einer Art trotzigen Schockstarre.

Eine ersterbenswerte Alternative zum Ein-Mann-Staat zu formulieren, die Stärke und Machbarkeit ausstrahlt, aber die Schwachen dabei nicht vergisst, der Demokratie und Rechtsstaat nicht nur ein Gerüst für die eigenen Machtzwecke ist, sondern Basis für ein friedliches und prosperierendes Zusammenleben aller Bürger, das ist im Angesicht des simplen Feindbild-Populismus der Rechten ein schwer machbares und noch schwerer kommunizierbares Projekt. Doch bisher mangelt es ja sogar an der Einsicht, warum die eigene Regierungsära scheiterte und dass ein Zurück dorthin nur der Weg in einen Teufelskreis wäre.

Mesterházys Ankündigung, dass er Fraktionsvorsitzender bleiben wolle, deutet schon an, dass einige Personen immer noch nicht den Ernst der Lage, weder ihrer Partei, noch des Landes erkannt haben. Ex-Außenminister László Kovács, eine graue Eminenz der Partei wünscht sich jedoch klare Einsichten und freiwillige Rücktritte, die die Arbeit erleichtern würden. Er stellt sich zunächst ein "tatkräftiges Transformationsteam vor" und nannte die Namen derjenigen Kandidaten u.a. aus Szeged und Budapest, die am erfolgreichsten bei den nationalen Wahlen abschnitten. Auch Kovács hat also nicht begriffen, dass die MSZP überhaupt erst einmal erklären muss, was sie in der politischen Landschaft noch will?!

Der eigentliche Weckruf zur Erneuerung der MSZP kam ausgerechnet von ihrem größten Spalter. Die "Demokratische Koalition", DK, die Abspaltung des einstigen MSZP-Chefs und Ministerpräsidenten Gyurcsánys, dieses ewigen politischen Stehaufmännchens, lag mit 9,76% nur knapp hinter der MSZP, in rund der Hälfte der Budapester Wahlbezirke und in einem guten Dutzend im sonstigen Ungarn ließ die DK die MSZP sogar hinter sich. Dabei hatten sowohl die Umfrageinstitute als auch die MSZP selbst, der DK nie mehr als die Performance einer Splitterpartei zugetraut. Dass Gyurcsány, einem Guru gleich, seine geradezu gläubige Anhängerschaft gut mobilisieren kann, war bekannt, dass sie gleichauf mit der MSZP liegen können, war für den bisherigen Platzhirschen im linken Lager aber ein echter Schock und der Beweis, dass Orbáns effizientester Wahlhelfer (Gyurcsány ist für rund 80% der Ungarn schlicht unwählbar) noch immer Macht über seine alte Partei ausüben kann.

Dass die liberale Plattform "Gemeinsam 2014 - Dialog für Ungarn" von Ex-Premier Bajnai mit 7,22% es ebenfalls bereits in die Nähe der MSZP schaffte, macht vollends klar, dass sich die demokratischen Orbán-Gegner in einer Phase der Suche befinden und es kann der Alternativenfindung nur gut tun, wenn man die erzwungene - und letztlich kontraproduktive - Einheit zum Zwecke des "Regierungswechsels" jetzt in ein freies Spiel der Kräfte und Ideen überführt.

 

Gyurcsánys relative Stärke beruht ja nur auf der tatsächlichen Schwäche der MSZP, die krampfhafte Abgrenzung der grünen 5%-Partei LMP und die Unbestimmbarkeit der Entwicklung der Bajnai-Gruppe sowie das Fehlen jeder bürgerlichen Alternative zur Fidesz-Hegemonialmacht bilden zusammen die Momentaufnahme des demokratischen Lagers in Ungarn am Beginn der 3. Amtszeit Orbáns. Es ist ein Blick auf den Brunnenboden.

Vielleicht sollte man die Wahlen 2018, so sie beim sich androhenden Präsidialsystem ab 2017, überhaupt noch eine Bedeutung haben, lieber gleich abschreiben und besser an einem Konzept für die Zeit arbeiten, in der Orbáns Fidesz das Land in eine Lage manövriert haben wird, das es quasi unregierbar macht und die Staatspartei an sich selbst zerbricht. Das Land dann aufzufangen und einen demokratischen Ausweg aus dem sich zwanghaft ergebenden Dilemma zu eröffnen, wird nicht nur die historische Chance der ungarischen Demokraten sein, sondern vielleicht ihre letzte.

cs.sz. / red.

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