THEMA: WAHLEN UNGARN 2014

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(c) Pester Lloyd / 41 - 2014 WIRTSCHAFT 08.10.2014

 

Gewerkschaften in Ungarn: Ja, gibts denn die noch?

Seit der Gründung der "Supergewerkschaft" MSZSZ aus den drei größten Konföderationen des Landes, - vor fast einem Jahr - , hat man von selbiger kaum mehr gehört. Lediglich die Konföderation LIGA, des in der Szene als "Judas" verschrieenen István Gaskó darf einmal jährlich beim Ministerpräsidenten vorsprechen und um allergnädigste Anhebung des gesetzlichen Mindestlohnes ansuchen. Am Dienstag ließen sich dann auch einmal wieder 200 MSZSZ-Gewerkschafter auf einem öffentlichen Platz sehen...

Die erste Reihe der Fachgewerkschaft für Bergbau,
Industrie und Energiewirtschaft am Dienstag in Budapest. Fotos: Népszava

Die Mini-Demo kamm allerdings auch nur Dank der "Entwicklungshilfe" seitens der internationalen Gewerkschaftervereinigung IndustrieAll Europe zu Stande, mit gemeinschaftsweit rund 6 Millionen Mitgliedern, die anlässlich des internationalen "Tages für angemessen bezahlte Arbeit" einen kleine Kundgebung vor dem Budapester Wirtschafts- und Finanzministerium mit den ungarischen Kollegen abhielt. Der Hausherr ließ über eine Aussendung ausrichten, dass eh alles prima läuft in der Wirtschaft und verwies auf die aktuellen Statistiken zu BIP-Wachstum, Lohnanstieg, Beschäftigung, Inflationssenkung und die mitfühlende Sozial- und Wirtschaftspolitik seiner Regierung.

 

Bezeichnend für das Selbstverständnis echter und ungarischer Gewerkschafter waren die Unterschiede in den Schwerpunkten der Reden. Während MSZSZ-Chef Pataky, der die angeblich rund 250.000 Arbeiter und Angestellte vertritt, offenbar noch im 70er Jahre Kádár-"Wohlfahrtsstaat" beheimatet, vor allem auf ein Recht auf Frührente pochte und sich zwar viel mit den Sorgen der öffentlich Bediensteten, dafür kaum mit den Grundübeln des Orbán-Systems abgab, sprach IndustrieAll-Vertreter, Luc Triangle, von unwürdigen Löhnen und Lebensverhältnissen, wegen verfehlter Sparpakete aus der Überschuldung der Regierungen, von Chancen auf "echte Jobs", Mitspracherechten und einem lange gehegten Traum der Arbeiterverterter Europas: europaweite Mindeststandards beim Kündigungsschutz und allgemein im Arbeitsrecht.

Während nämlich bei Steuern, Waren und dem Kapitalfluss peinlichst genau auf die Einhaltung von Liberalisierungs- und Harmonisierungsregeln im Binnenmarkt geachtet wird und jeder Verstoß von der Kommission notfalls durch alle Instanzen geklagt wird, sind die Arbeiter und Angestellten bis heute weitgehend auf die Gnade ihrer sie regierenden Politiker angewiesen. Orbán, der eher zu den gnandenlosen zählt, hat in einem Arbeitsrecht, das so ganz auf die Bedürfnisse der großen Player in West und Ost (!) zugeschnitten ist, den Kündigungsschutz bis zur Unkenntlichkeit aufgeweicht, was heute mit "flexibel, konjunkturnah und wettbewerbsfähig" übersetzt wid.

Nicht nur das Logo ist heftig Retro. Auch die Einstellung und Performance der Gewerkschaften und ihrer Führer machten es skrupellosen Ständestaatlern vom Schlage Orbáns leicht. Kein Wunder, der Kapital- und Binnenmarkt war den EU-Integratoren wichtiger als die Rechte der Arbeitenden. Da halfen auch DGB- und Ebert-Stiftungs-Schulungen nichts...

Das Mitspracherecht der Gewerkschaften und Betriebsräte in den Unternehmen wurde erschwert bis abgeschafft, die Sozialpartnerschaft durch einen regierungsabhängigen Ständerat ersetzt und prescht mit seinen Parolen von der "arbeitsbasierten Gesellschaft" als Gegenmodell zur "liberalen Demokratie" vorwärts. Ins 19. Jahrhundert. Eine Viertelmillion Menschen in Kommunalen Beschäftigungsprogrammen wurden gesetzlich vom gesetzlichen Mindestlohn ausgeschlossen, Geringstverdiener von ihren Steuerfreibeträgen befreit, dafür Besserverdiener durch eine Flat tax massiv entlastet, Frührentner, egal ob 40 Jahre im Bergbau oder bei der Feuerwehr tätig, wurden wieder zu Gehaltsempfängern umdeklariert, somit steuerpflichtig und "der Arbeit zuführbar" gemacht, die es freilich nicht gibt, was man wiederum daran erkennt, dass junge, gut ausgebildte Menschen in Scharen (600.000 seit 2010) das Land verlassen haben.

 

Wer das Pech hat, im Öffentlichen Dienst zu arbeiten, musste sich bereits mehrfachen Gesinnungstests unterziehen, die bei Nichtbestehen zu einer unbegründten Kündigung (im Neusprech pauschal mit: Vertrauensverslust benannt und gerichtlich genehmigt) Der Rest darf mehrmals jährlich unangemeldete und nicht zu rechtfertigende Geheimdienst-Überprüfungen über sich ergehen lassen. Zum Dank für die Treue der Beamten, Lehrer und Soldaten wird ihnen zwar ein "Karrieremodell" vorgelegt, das vor allem mit entsp. Bekundungen zu Führer, Volk und Vaterland (Fortbildungen genannt) einhergeht, einen Kollektivvertrag, der Einkommen und Berentung, Urlaub und Kündigungsbedingungen einheitlich und verbindlich regelt, haben die ca. 700.000 Menschen in öffentlichen Dienststellen aber seit Jahren keinen mehr gesehen.

Jeder Einzelne dieser oben aufgeführten Punkte, würde in anderen Ländern Europas zu Proteststürmen, ja Generalstreiks und Aufständen führen. Nicht in Ungarn. 2012 verebbten die letzten Wallungen mit der "Szolidaritás", einer übergewerkschaftlichen Bewegung, die sich im Kleinkrieg der linken Opposition aufrieb. Und so blieb den Gewerkschaftsfunktionären am Dienstag vor dem Wirtschaftsministerium nicht viel mehr, als dem verlorenen Häufchen von 200 Kolleginnen und Kollegen ihr Scheitern durch das Zusprechen von etwas Mut einzugestehen, wissend, dass nicht nur die demokratische Opposition, sondern auch die Gewerkschaftsbewegung in Ungarn von Orbán und seinen Kommandos, aber auch der eigenen Agonie und Weinerlichkeit gründlichst zerschlagen wurde.

red. / a.l.

Mehr zur Situation der Gewerkschaften in Ungarn und weiterführende Links zum Arbeitsrecht und den Lebensverhältnissen in diesem Beitrag:
Eine "Supergewerkschaft" gegen den Untertanenstaat
http://www.pesterlloyd.net/html/1349supergewerkschaft.html

red. / cs.sz.

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