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(c) Pester Lloyd / 49 - 2013 GESELLSCHAFT 05.12.2013

 

Supergewerkschaft gegen Untertanenstaat

Gewerkschaften in Ungarn vereinigen sich

Wenn es stimmt, dass Zusammengehörigkeitsgefühle in Zeiten der Bedrängung wachsen, dann muss die Bedrängung der Arbeiter und Angestellten in Ungarn heute wirklich beängstigend sein. Denn wenig blieb auf dem Transformationsschlachtfeld nach der Wende so konstant wie die Zersplitterung und der Bedeutungsverlust der Gewerkschaften. Nun wollen sich die drei größten der sechs großen Konföderationen zusammenschließen und mit zusammen 250.000 Mitgliedern ein starkes Bollwerk bilden. Doch die Geburtswehen sind schwer.

Mehr Frust als Kampfeslust: eine Gewerkschaftskundgebung im heutigen Ungarn. Von richtigen Streiks hat man schon lange nichts mehr gehört und die “Aktivisten” machen am Regierungszaun brav halt.

Gewerkschaften von Links bis Rechts, Oben und Unten

Allein sechs Konföderationen mit zusammen über 120 Teilgewerkschaften gibt es heute im Land, dazu noch zahlreiche Unabhängige sowie lose Verbindungen untereinander. Die Trennlinien verlaufen dabei nicht nur durch die Branchen, sondern decken das politische Spektrum von den links ausgerichteten Nachfolgern der ehemaligen Einheitsgewerkschaft bis hin zu rechtsextremen Polizeigewerkschaften, die sogar einen "Sicherheitspakt" mit der Neonazi-Partei Jobbik geschlossen hat, ab, gründen sich aber auch auf persönlichen Abneigungen und Ambitionen von Gewerkschaftsführern untereinander und reichen bis hin zu regelrechten Schein-Vertretungen von regierungs- und arbeitgebernahen Kreisen, die gewerkschaftliche Interessensvertretung nur simulieren.

Fidesz-Message: Was gut für Euch ist, entscheiden wir

Seit der Orbán-Regierung kamen noch die Protegées dazu, u.a. jene LIGA-Konföderation des Gewerkschaftsbosses István Gaskó, die sich durch Deals, z.B. Beteiligungen an Privatisierungserlösen, nicht nur von Streiks abbringen ließen, sondern heute als exklusiver Verhandlungspartner der Regierung die aufgelöste Sozialpartnerschaft in einem neuen, ständigen Gremium ersetzen, sich zur Alibi-Vertretung degradieren ließen. Gaskó unterschreibt heute alles, was Orbán ihm vorlegt, vor Arbeitern, so sie nicht "seine" sind, tritt er nicht mehr auf, zuletzt jagte man ihn als "Verräter" vom Rednerpult.

Höhepunkt der Verhöhnung gewerkschaftlicher Organisationsidee war jedoch die Einführung einer "Nationalen Lehrerfakultät" für alle Pädagogen und Mitarbeiter der staatlichen Pflichtschulen und Kindergärten (insgesamt rund 5.000 Einrichtungen), die vom zuständigen Ministerium betrieben wird und die "Aufgaben der bisherigen Gewerkschaften", es gibt auf diesem Feld derer acht, "übernehmen soll". Wer nicht Mitglied wird, fällt aus dem "Karriereplan" für Pädagogen heraus und steht auf den Abschusslisten des Klebelsberg-Institutes, also der zentralstaatlichen Schulverwaltung, ganz oben. Die Message ist klar: was gut für Euch ist, entscheiden wir. Wir, das ist Orbán.

Proteste einer Lehrergewerkschaft gegen das Chaos im Zuge der Schulverstaatlichungen. Doch mehr als ein paar Trillerpfeifen nach Schulschluss versammeln die zersplitterten “Unions” heute nicht mehr. Die Angst regiert. Mehr zum Thema Lehrer und Bildungsreform.

Arbeiter entrechtet und entmündigt

Auch hier, wie in allen Feldern der demokratischen Organisation, nutzte die Fidesz-Regierung die Schwäche des Systems, die Zersplitterung und die persönliche Eitelkeit der Protagonisten gnadenlos für einen Komplettumbau aus. Man legte vor allem den ausländischen Investoren ein neues Arbeitsrecht zu Füßen, das nicht wenige Fachleute an das frühe 20. Jahrhundert erinnert. Dabei wurde die Rolle der Gewerkschaften in die Marginalität zurückgedrängt, der Kündigungsschutz an "die Erfordernisse der Wettbewerbsfähigkeit" angepasst, die Leiharbeit zum Normalfall gemacht und mit schwammigen Urlaubs- und Überstundenregelungen für "höchstmögliche Flexibilität" gesorgt. (Bitte nutzen Sie die Links am Ende des Beitrags für vertiefende Informationen.)

Orbán und LIGA-Chef Gaskó, hier bei der Unterzeichnung des “Kaufvertrages”. Seit der Beteiligung am Privatisierungserlös der MÁV Cargo an die Österreicher fällt die LIGA der Gewerkschaftsbewegung in den Rücken.

Fast wie beim Kaiser: Informeller Feudalismus im ungarischen Mittelstand

Die ungarische, mittelständische Wirtschaft hingegen ist in informellen Kreisen organisiert, die, je nach persönlicher Nähe zum Regierungsapparat von der Vernaderung mit dem geldverteilenden Verwaltungsapparat profitiert. In provinziellen Regionen hat die Gemengelage aus neuen Landbaronen, "Nationalen Trafiken", Einzelhandelsoligopolen etc. durchaus feudalen Charakter angenommen, über die Wirtschaftskammern verfügt man zudem über ein landesweit bestens beaufsichtigtes Netzwerk der Kontrolle und Beeinflussung. Staatssekretäre und Abteilungschefs der Fachministerien sind im ganzen Land als Lobbyisten der bevorzugten Kreise unterwegs, verteilen Fördergelder und öffentliche Aufträge, führen über "Kontrollen" Marktbereinigungen durch, notfalls auch über im Nachhinein gesetzlich legalisierte Preiskartelle oder die "Rückübertragung" von Ländereien. Unter dem Kaiser ging es nicht anders zu.

Dankbare Auslandsinvestoren wollen nur Ruhe

Mit der gleichzeitigen Einführung von Flat tax, Absenkung von Unternehmenssteuern und der massiven Ausweitung der Verbrauchsbesteuerung wurde die promotete "Arbeitsgesellschaft" so in Wirklichkeit zu einer "Arbeitgebergesellschaft", einem Untertanenstaat gemacht, der sich zumindest für die großen ausländischen Investoren und die ungarischen Unternehmen, die auf der "richtigen" Seite stehen, bestens rechnet. Dafür bedanken sich die Multis der Reihe nach mit dem Abschluss medienwirksam inszenierter "strategischer Kooperationsvereinbarungen" und schmieren - von AmCham bis DUIHK oder DWC - dem Regierungschef und seinen Ministern bei jeder passenden und unpassenden Gelegenheit Honig ums  Maul. Der Chef der Deutschen Industrie- und Handelskammer sagte neulich wörtlich, dass "in Ungarn alle Bedignungen für Investitionen" vorhanden sind. Man hat es sich wieder gerichtet.

Der im Westen umkämpfte Minimalkonsens wurde in Ungarn aufgehoben

 

Die Bedingungen für die Arbeiter sind hingegen prekärer denn je: lohnseitig und arbeitsrechtlich finden sie sich am Ende der sozial-ökonomischen Nahrungskette. Nicht dass dies in einem kapitalistischen System überraschen würde, doch die Arbeitsbedingungen, das Niveau ihrer Grundrechte und die rechtliche Absicherung bei Kündigung, Urlaub, Krankheit sowie die Möglichkeiten, sich für ihre Interessen zu organisieren und gegenüber Staat wie Arbeitgeber vertreten zu lassen, fallen weit hinter das mühsam erkämpfte und noch mühsamer bewahrte Minimum zurück, dass sich in Europa weitgehend etabliert hat und ohnehin klein genug ist. In Westeuropa gibt es heute auch keinen Konsens mehr über das Minimum der Menschenwürde in der Arbeitsbeziehung, es gibt aber einen Konsens, dass zumindest darüber zu verhandeln ist, selbst dieser wurde in Ungarn aufgehoben.

Dabei sprechen wir hier nur von der Vertretungssituation der Menschen, die in Lohn und Brot stehen, Niemand - auch nicht die Gewerkschaften - spricht von, mit und für die Hundertausenden in den Kommunalen Beschäftigungsprogrammen, den anderen Arbeitslosen sowie Zigtausenden die ganz aus dem System gefallen sind und den in prekärer Lage lebenden Roma, die praktisch überhaupt keine Stimme haben, die sie wirksam vertreten könnte.

Man kennt sich, man hilft sich, man lebt die Nähe zur Macht, man schweigt über Missstände, die einen selbst nicht betreffen... DUIHK-Vorstände mit Nationalwirtschaftsminister Varga auf einem Bankett.

Opfer und Profiteure schweigen

Mit der Einstellung, es ist zwar mies, aber was will man machen, müssen die ungarischen Arbeiter, mehr denn je heute leben, die Arbeitgeber hingegen können ihre Profite maximieren und nehmen dafür sonstige Erschwernisse der Orbánschen Bürokratie und unorthodoxen Steuerpolitik, erst Recht Demokratie- und Rechtsstaatsabbau in Kauf. Im öffentlichen Dienst kommt noch Denunziation, eine Atmosphäre der Angst und Selbstzensur hinzu, schnell ist die Kündigung aus "Vertrauensverlust" ohne weitere Begründung heute unterschrieben. Angepasste Duckmäuser, linientreue Karrieristen schwimmen nach oben, die fachliche und soziale Qualifikation ist nebenrangig.

Unternehmen aber, das wissen wir aus der Geschichte, interessiert meist nur ein möglichst stabiles Umfeld und die Möglichkeiten, darin profitabel tätig zu werden. Die demokratische Qualität ist nur insoweit von Interesse, als diese Ruhe gewahrt bleibt. Notfalls kann es auch die Ruhe einer Diktatur sein.

Wenn es in den letzten Jahren Streiks gab, dann waren es meist Belegschaftsaktionen, denen sich eine Gewerkschaft anschloss, sei es in einem Stahlwerk, einer Wurstfabrik oder bei Taxifahrern. Sie waren praktisch alle erfolglos. Es ging dabei immer nur um Anlassproteste und Partikularinteressen, nie aber um Grundsätzliches wie die sang- und klanglose Einstampfung von Tarifverträgen, sektorale Lohnerhöhungen auf ein lebensnotwendiges Minimum etc.

Eine kritische Masse gegen die Gesprächsverweigerung und die eigene Ohnmacht

Gegen diese systematische Entrechtung, die ständische Zementierung der Verhältnisse, aber auch die selbst geschaffene Ohnmacht soll die neue Gewerkschaftskonföderation nun ein Bollwerk errichten, vor allem aber auch eine Kraft darstellen, die von Orbán nicht mehr einfach ignoriert werden kann und sei es nur aus Angst um Image- und Wählerstimmenverlusten. Eine kritische Masse muss her, die man ernst nehmen muss, auf dass wenigstens wieder Kompromisse möglich werden.

Bestehen wird die am 1. Mai ausgerufene Initiative für eine "Supergewerkschaft", die sich am 6. Dezember in Budapest konstituiert, zunächst aus dem MSZSOSZ, der mit 125.000 Mitgliedern größten Einzelkonföderation und Nachfolger der einstigen Staatsgewerkschaft, sowie der Konföderation der Unabhängigen Gewerkschaften, ASZSZ mit 50.000, und der Nationalen Gewerkschaftsvereinigung bzw. dem Koperationsforum der Gewerkschaften SZEF mit rund 65.000 Mitgliedern. MSZOSZ-Chef Péter Pataky wird erster Präsident, die Chefs der beiden anderen Konföderationen seine Stellvertreter, alle senden je 6 Mitglieder in einen Vorstand.

Rangeleien um Kompetenzen und Ziele

Zusammen vertritt die neue Supergewerkschaft dann knapp zwei Drittel der gewerkschaftliche organisierten Arbeitnehmer in Ungarn, stellen sozusagen die "anderen" zwei Drittel gegenüber der gleich großen Mandatsmehrheit der Regierungspartei dar. Allerdings sind ingesamt nur rund 6-7% aller überhaupt gewerkschaftlich organisiert. - Man will offen bleiben für weitere Beitritte und zuerst eine Art Manifest mit Grundforderungen aufstellen, die vor allem zwei Bedingungen erfüllen müssen: sie müssen in absehbarer Zeit erreichbar erscheinen und von allen jetzigen und potentiellen Mitgliedsorganisationen mitgetragen werden.

Das dürfte fürs Erste schwer genug werden, die Führer bremsen auch schon und sprechen von einem langen Prozess, der "Jahre dauern könnte". Auch von Streitereien um Finanzen, Posten und Inhalte ist im Vorfeld der Gründungskonferenz zu hören gewesen. So wird es zunächst auch noch keine echte, organisatorische Vereinigung geben, sondern zunächst erst die Gründung einer gemeinsamen Konföderation, HAS, ein kleiner Unterschied. Die Frage ist auch, ob die Regierung mitspielt und die neue Struktur als gemeinsamen Vertreter der bisherigen Einzelkonföderationen in den noch bestehenden Gremien anerkennt.

Eine "linke" Regierung bedeutet nicht automatisch eine Verbesserung.

Dabei sollte sich die neue Organisation vor allem auch davor schützen, zu große Nähe zur politischen Opposition zu zeigen, auch wenn bei Lichte betrachtet, nur ein Machtwechsel überhaupt die Chance für die Rückerlangung minimaler Arbeitnehmerrechte eröffnen kann. Immerhin sollte nicht vergessen werden, dass die Regierungen Medgyessy, Gyurcsány, Bajnai, zwar von einer sich "sozialistisch" nennenden Regierung getragen wurden, ihr Wesen aber neoliberal, ungebremst globalisierend und letztlich arbeitnehmerfeindlich war, auch wenn man hoffte, durch zunehmende Wirtschaftsleistung mehr Substanz für soziale Verbesserungen ins Land zu bringen, trotz der hohen Streuverluste für die persönliche Bereicherung.

Elend als Basis der Ständepyramide

Orbán polte dieses Transformationsschlachtfeld lediglich auf die Interessen seiner Klientel um und brachte den Staat, also seine Partei, als Player zurück ins Rennen. Für die Gruppe, die ausschließlich von ihrer eigenen Hände Arbeit lebt, tat er ebenso wenig wie seine Vorgänger, ja das unterste Drittel, das in Ungarn eher die Hälfte der Bevölkerung ausmacht, ist sogar die Basis und Stütze der Ständepyramide, die sich aus den drei Schichten: Arbeit und Elend, Dienstbarkeit und Verlustangst sowie Nutznießer und Herrschende zusammensetzt. Die Arbeiterführer sollten sich also ihre neuen Partner genau anschauen, bevor sie die Massen mobilisieren, denn ein Zurück in die Vor-Orbán-Zeit wäre nichts weiter als die Fortzeichnung des Teufelskreises. Den Druck, den man auf die Regierung aufbauen will, muss man ebenso auf die Opposition ausüben, wenn man seine Forderungen irgendwann durchsetzen und den Elan der neuen Bewegung nicht im parteipolitischen Klein-Klein verheizen will.

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