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(c) Pester Lloyd / 46 - 2014   BILDUNG   09.11.2014

 

Proletarisierung für die “Arbeitsgesellschaft”: Hälfte der Gymnasien in Ungarn sollen geschlossen werden

Weil den internationalen "Werkbänken" in Ungarn immer mehr Arbeitskräfte abhanden kommen, sollen Schüler massiv von Abitur und Studium abgehalten und in technische bzw. "nationalwirtschaftlich nützliche" Berufe geführt werden. Dazu wird man die Zahl der Abiturienten halbieren, rund die Hälfte der Gymnasien schließen und ab September 2015 rund 500 Mittel- bzw. Oberschulen dem Wirtschaftsministerium unterstellen. Orbán verkauft das als "duale Ausbildung" nach deutschem Muster.

Anstatt zur ausgelassenen Bandweihe / ballagás gehts bald im Gleichschritt in die Produktion...

Der Vorstoß, der in den kommenden Monaten gesetzlich untermauert werden wird, ist im Kontext mit der von Orbán postulierten "Arbeitsgesellschaft" zu sehen und dem Ziel, Ungarn zum "Produktionszentrum Europas" zu machen. In einer seiner Radioansprachen ließ er dahingehend wieder seine Ansichten zur mangelnden Zweckdienlichkeit des Bildungssystems anklingen. Nach Orbáns Auffassung sind für die Erreichung der "Vollbeschäftigung" auch tiefgehende Einschnitte in die Entfaltungsrechte der Menschen statthaft, ein Beispiel dafür, dass die "illiberale Gesellschaft" kein abstrakter Begriff ist.

Die konkreten Gesetzespläne liegen noch unter Verschluss, denn seit dem Aufstand um die
Internetsteuer und in Erinnerung an die Studentendemos vor drei Jahren ist man vorsichtiger geworden, doch der zuständige Wirtschaftsstaatssekretär (Czomba) ließ bei einer Konferenz in der Provinz bereits Details erkennen. Auch sind die entsprechenden Lehrerentlassungen bereits im Budgetentwurf 2015 eingepreist.

 

Die Attacke auf die Gymnasien ist Teil 3 der "großen Bildungsreformen" seit 2010: Bereits vor vier Jahren wurde das gesamte Hochschulsystem in Frage gestellt, es mit massiven finanziellen Einschränkungen konfrontiert, der Zugang zu vielen Studiengängen dadurch beschränkt, ergänzt um eine sogar in der Verfassung verankerte Bleibepflicht für Studierende auf staatlich subventionierten Studienplätzen bzw. ihrer Verschuldung durch Studienkredite, ohne die ein Studium sonst nicht möglich wäre. Hinzu kommt die zentrale finanzielle, personelle und strukturelle Lenkung durch staatlich eingesetzte Kanzler, die in diesem Herbst vollendet wurde und deren Vollmachten und Auftreten an das von Politkommissaren erinnert. Mehr zur Hochschulreform.

Gleichzeitig wurden die Pflichtschulen in der Zentralverwaltung KLIK, die sich zu einem teuren Desaster entwickelt hat, zusammengefasst, also verstaatlicht, ein zentraler "Nationaler Lehrplan" eingeführt und die Lehrerschaft über sogenannte "Karrieremodelle" zum unbedingten Gehorsam verpflichtet. Die Schulen werden zunehmend als Ganztagsmodelle geführt, - ohne Wahlmöglichkeit, verpflichtende Kindergartenjahre sollen die Kontrolle über die ganz Kleinen schon von früh an festigen und die Mamas und Papas "der Arbeit zuführen" und sei es auch nur die unterbezahlte "Kommunalbeschäftigung".

Für jede dieser Maßnahmen rechtfertigt sich die Regierung mit Entsprechungen in westlichen Staaten. So auch für den neuesten Streich. Hier soll die "duale Ausbildung" in Deutschland Pate gestanden haben, was aber nur mit viel Phantaise vorstellbar ist.

Dabei werden die zwei Hauptarten von Mittel- und Oberstufen, solche mit und solche ohne die Möglichkeit Abitur zu machen, aus KLIK wieder ausgekoppelt und einem Staatssekretär im Wirtschaftsministerium unterstellt, wobei fachorientierte Spezialisierungen, je nach regionalem Bedarf eingeführt werden soll, die die Schüler den entsprechend gebrauchten Berufen und Jobs zusteuert. Rund 500 Schulen werden davon betroffen sein.

Die Berufsorientierung gibt es - wie in anderen Ländern - schon heute, ließ aber bisher die Chance auf eine weiterführende Bildung oder einen anderen Weg, einschließlich einer freien Berufswahl noch gänzlich offen. Dieser wird nun verhindert, u.a. durch die enge Zuschneidung der Angebote, aber auch durch die Verknappung der Abitur-Plätze und eine Anhebung der Schwelle für eine Aufnahme in die Gymnasiumsoberstufe auf mindestens 4,25 Notenschnitt (1,75 nach deutschem System). Die Zahl von ca. 128.000 Gymnasisaten soll auf rund 60.000 mehr als halbiert werden, so auch der Ausstoß von jungen Menschen mit Hochschulreife. Fast die Hälfte der Gymnasien wird dann geschlossen bzw. umgewandelt. Derzeit fahren Kommissionen übers Land für die "Evaluierung".

Premier Orbán als Ehrendoktor einer japanischen Uni. Er selbst studierte auf Staatskosten in Budapest und nahm ein Stipendium der Soros-Stiftung in Oxford an. Von der dortigen Ehrentafel wurde er kürzlich gelöscht und Soros ist heute ein Staatsfeind.

Vordergründig versucht Orbán mit dieser neuesten Offensive den demographischen Entwicklungen Rechnung zu tragen, die durchaus nicht bedarfsgerechte Struktur der Hochschullandschaft anzupassen, vor allem aber die massive Abwanderung gerade der gut ausgebildeten Facharbeiter der vergangenen Jahre in den Westen auszugleichen. Schließlich war die hohe Zahl gut ausgebildeter Facharbeiter einmal das  wesentlichste Argumente des Investitionsstandortes Ungarn für solche Kaliber wie Nokia, General Electric, Audi, Samsung, Mercedes, Opel, Bosch und Co. sowie die vielen unbekannten Spezialunternehmen und Zulieferer, ohne die es in Ungarn praktisch keine nennenswerte Indsutrieproduktion, keinen Exportüberschuss und die Hälfte des BIP weniger gäbe. Diese Position verschafft ihnen - als eine der wenigen Kräfte im Lande - Macht über Orbán.

Allderings rennen die großen Arbeitgeber damit offene Türen bei den Aposteln des neuen Ungarn ein. Denn die jetzige Initiative ist ganz im Sinne der Erfinder, die wohl die bildungsfeindlichsten  Bildungspolitiker des ganzen Kontinents aufweisen. Die relative Chancengleichheit, resp. -vielfalt wird für einen "höheren Zweck" eingeengt, das Individuum als Nutztier behandelt, Fremdsprachen sind "Luxus", Sozial- und Gesellschaftswissenschaften überhaupt eine "universelle" Bildung das zu Unrecht subventionierte Privilieg der linksliberalen "Lobby" gewesen. Natürlich: Eine arbeitsame, lohnabhängige Masse lässt sich besser steuern, als hochgebildete junge Menschen mit indivieuellen Ansprüchen und dem Wissen um Möglichkeiten und Kontakten ins liberale Ausland. Schüler ohne Abitur, so die Milchmädchenrechnung, können auch nicht im Ausland studieren. Problem gelöst?!

Anstatt attraktive Angebote in dieser Richtung auszubauen und den Lebensunterhalt sichernde Mindeststandards mit den Anforderungen der Industrie auszubalancieren, wird mit Restritkion von Bildungschancen eine Kanalisierung angegangen.

 

Orbán, der sich selbst einmal stolz als "Plebejer", natürlich "im besten Sinne", bezeichnete, proletarisiert nun auch sein Land, genauso, wie er es - unter Einführung feudaler Methoden - verbauert. Ein Aspekt mehr, bei dem er sich von Europa wegbewegt, dass zum Großteil erkannt hat, dass es nur im Bereich Wissen, Erfindergeist, Ingenieurswesen, also als Forschungs- und Entwicklungsgesellschaft einen Vorteil gegenüber den Anbietern von natürlichen Ressourcen, billigen Produktionsbedingungen oder Finanzkapital haben kann. Die Wege dahin sind sicherlich streitbar und voller Irrungen und Fehler, aber Fakt ist, dass sich, auch wenn es um Lehrstellen und Jobs geht, letztlich nur die Schlauesten durchsetzen und viele Berufe heute ohne Abiturwissen gar nicht mehr erlernbar sind.

Pläne, auch die Privatschulen mit Öffentlichkeitsrecht (Schulstiftungen) finanziell einzuschränken und so formbar zu machen, wurden auf Druck der eigenen Klientel und der Kirchen zunächst auf Eis gelegt. Wie groß werden erst die Proteste sein, wenn wirklich Hunderte Standorte geschlossen oder umgewandelt werden?

Mehr zu diesem Themenkreis im Ressort BILDUNG / FORSCHUNG

red. / cs.sz.

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