Hauptmenü

 

Das Pester Lloyd Archiv ab 1854

Ost-West-Drehscheibe
Pester Lloyd Stellenmarkt

 

andrassy2015neu2

 

(c) Pester Lloyd / 38 - 2015   POLITIK    17.09.2015

 

Polizeistaat Ungarn: Orbán hat den Rubikon überschritten

Am Tag nach den gewalttätigen Ausschreitungen an der serbisch-ungarischen Grenze wird Ungarns Isolation immer greifbarer. Vor allem das Verhalten von Serbien und Kroatien stellt Orbán als politischen Amokläufer und gewalttätigen Antieuropäer bloß. Während er an seiner irren Legende vom Schutz der Christenheit festhält und einen Polizeistaat installiert, erfüllen die einstigen Kriegsgegner "Christenpflichten" bzw. handeln schlicht: europäisch. Europa will ihm sogar das Grenzregime entziehen. Orbán aber treibt seine Show auf die Spitze, gewinnt mehrere Schlachten, hat aber den "Krieg" längst verloren.

39LA1 (Andere)
Das TÉK, Orbáns “Privatarmee”, im heldenhaften Einsatz gegen “aggressive Horden bewaffneter Eindringlinge”...

"Ach du großer Gott!"

Für die ungarische Regierung ist die Sache klar. Bewaffnete Horden hätten gestern versucht das Land und damit auch die EU zu stürmen, sagt Zoltán "Comical Zoli" mit krampfhaft besorgter Miene in die TV-Kamera. Tapfere Sicherheitskräfte haben sich ihnen entgegen geworfen und das Nötige getan Land und Christenheit zu schützen. Zwei Dutzend verletzte Beamte, Steine, Latten, Brandsätze, "Allahu akbar"-Rufe sprechen eine klare Sprache, unter den 29 Verhafteten befindet sich auch ein "gesuchter Terrorist". Noch Fragen?

 

Ja viele. Bilder, Augenzeugen und der Kontext der Entwicklung sprechen eine andere Sprache. Es stimmt, wir sahen Hunderte, die sich am Grenzübergang Horgos zusammenballten. Jener Stelle übrigens, die laut ungarischen Notstandsgesetzen Flüchtlingen als legaler Überganspunkt benannt wurde, wo sie "um Asyl anfragen" dürften. Allerdings wurde dieser - wie alle anderen - geschlossen. "Die Horden" wollte also nicht illegal über die Grenze, sondern so wie es ihnen Ungarn aufgetragen hatte.

Es stimmt auch, wir sahen aggressives Potential, einige Dutzend aufgeheizte Randalierer, die Straftaten begehen, Steine auf Polizisten werfen, Dinge anzünden, Parolen rufen. Auch ein Einheizer mit Megaphon ist da. Die Szenen, die wir sahen, erinnern an den 1. Mai in Berlin oder Hamburg, im Modellformat. An den kürzlichen Auftritt rumänischer und - vor allem - ungarischer Fußballhooligans vor ein paar Tagen in Budapest reichen sie nicht heran. Schon allein deshalb nicht, weil die Flüchtlinge nicht auf Kinder eintraten...
39LA3 (Andere)



Und die Hooligans oder jene "Kamerafrau" mussten nicht zuvor um ihr Leben fliehen und sich auf wochenlangen Märschen ausmergeln und von Schleppern und korrupten Polizisten ausnehmen und demütigen lassen, tagelang in Kälte und Regen ohne Essen und Ahnung wie es weitergeht ausharren. Doch das scheint für die "besorgten Bürger" (wir würden gerne mal deren Gesetzestreue nach solch einer Erfahrung sehen?!) und die Regierung in Budapest zur Folklore zu zählen, das sind ja "unsere Jungs". "Ach du großer Gott"-rufende Asylhooligans, - ein paar Dutzend von wieviel Hunderttausend? -  sind indes eine Bedrohung des Abendlandes.

Serbische Polizei beschützt Flüchtlinge vor den Ungarn?!

Wir sehen aber auch: Verängstigte, weinende Kinder, Mütter und Väter mit ihren von Tränengas getroffenen Kindern auf der panischen Flucht vor Polizei, Armee und Spezialeinheiten. TÉK-Rambos, die Menschen zu Boden werfen, eine Frau mit Kleinkind im Arm zu zweit (Bravo, Burschen, ganz großes Kino!) am Arm packen und abführen, einen blutüberströmten Mann mit seinem Kind im Arm. Von dem "Terroristen" fehlt jede Spur. Man weiß nicht einmal, wo sie ihn hingebracht haben. Irgendein Sprecher stammelte nur etwas von "er ist in unserer Datenbank verzeichnet." Na dann...

Wir hören von serbischen Hilfskräften, die mehrere Hundert Menschen behandelten, zwei Dutzend mit blutenden Wunden, zwei Schwerverletzte in Krankenhäuser bringen. Ein Kamerateam des serbischen Fernsehens und ein polnischer Journalist wurden von ungarischen Schlagstöcken traktiert, ihre Ausrüstung beschädigt.

Wir sahen dann eine serbische Polizei, die - ohne Kampfmontur auftrat und mit ein paar Worten und einem lockeren Kordon die Lage beruhigte. Sie handelte so wie sie überwiegend die gesamte Zeit mit den Flüchtlingsmassen umging: pragmatisch, mitfühlend, das Notwendige tuend. Wieso schafft die serbische Polizei mit friedlichen Mitteln, was die vereinigten ungarischen Streitkräfte selbst mit Panzerwagen und Helikoptern nicht schafften?

39LA2 (Andere)


Teil von Orbáns Drehbuch

Weil Orbán, ebenso wie das Flüchtlingselend zuvor, diese Bilder wollte. Er hat genau auf diese Eskalation hingearbeitet, sie nutzt ihm bei der Umsetzung seiner Vorstellung eines neuen Ungarn, es ist sein Plan zur Machtsicherung. Ängste schüren, Katastrophenszenarien kreieren, dann: sich als Retter - als starker Mann präsentieren. Der Plan geht bisher auf. Die wahlentscheidende Bevölkerungsgruppe - nicht die Mehrheit - folgt ihm.

In Ungarn stellen heute einige die naheliegende Frage, wie ausgerechnet die Partei, die die Polizeigewalt von 2006 http://www.pesterlloyd.net/html/1304polizeigewalt2006aufarbeit.html unter Gyurcsány zum Politikum, ja zum Wendemythos überhöhte, jetzt selbst zu völlig überzogenen und falschen polizeilichen Mitteln greifen kann? Die Antworten sind einfach: 1. Weil sie es kann. 2. Weil es nicht um ungarische Menschen geht.

Zaun wird verlängert

Die Flüchtlinge weichen jetzt über Kroatien, womöglich bald über Rumänien aus.
Der Zaun wird in beide Richtungen verlängert, die Arbeiten in den Dreiländerecken mit Rumänien und Kroatien haben bereits begonnen und werden beschleunigt. Neue Eskalationen schließt das nicht aus. Rumänien und Ungarn konsultieren sich nur noch über Vorladungen.

Kroatien und Serbien, beide als durchaus robust nationalistisch bekannt und mit nicht unproblematischen - über Jahre gezielt nationalistisch augeladenen -  Bevöllerungsnateilen - aber eben auch gezeichnet von Kriegen und Vertreibungen in jüngerer Vergangenheit, reagieren auf eine Weise, die Orbán bloß stellt:

Serbien droht Ungarn mit "angemessener Antwort"

Serbien forderte Ungarn auf, die Gewalt und "Aggression" gegen Flüchtlinge einzustellen und belegte durch das Auftreten der eigenen Einsatzkräfte die vollkommene Unverhältnismäßigkeit des ungarischen Polizeieinsatzes. Jetzt schützt serbische Polizei die Flüchtlinge vor den Ungarn und versorgt sie. In beiden Ländern warnen Politiker und Kommentatoren vor einer Eskalation. Serbien wird sich solche Szenen an seiner Grenze nicht noch einmal bieten lassen. Tränengas und Wasserwerfer "schlugen auf serbischem Gebiet ein", so Minister Vulin, der beim Schutz seines Hoheitsgebietes ebenso empfindlich reagieren darf wie Ungarn - die das allerdings auch in der Geschichte mit der Souveränität Serbiens nie so genau nahmen, um es emphatisch auszudrücken. Ministerpräisent Aleksandar Vučić wirft dem Nachbarland Ungarn "brutales" und "nicht-europäisches" Vorgehen gegen die Flüchtlinge vor.  "Sollte die EU keine Antwort geben, werden wir einen Weg finden, unsere Grenzen und auch die europäischen Werte zu beschützen", drohte Vučić. So fingen früher Kriege an... Innenminister Nebojša Stefanović kündigte die Entsendung zusätzlicher serbischer Polizisten an den Grenzübergang an.

Kroatien blamiert Orbán bis auf die Knochen, die "Visegrád"-Front zerbröselt.

Der kroatische Ministerpräsident, Regierungschef eines Landes nicht arm an Katholizismus und Nationalismus, blamierte seinen ungarischen Amtskollegen und Kreuzritter gestern bis auf die Knochen. Das Neu-EU-Mitglied werde seine Grenzen für alle Flüchtlinge offen halten, "egal welcher Rasse oder Religion" und ihnen die Weiterreise ermöglichen, erklärte Zoran Milanović im Parlament in Zagreb. Zusammen mit Slowenien plant man einen Fluchtkorridor gen Westen, 3.000 Menschen nimmt man selbst auf, über 6.000 kamen schon aus Serbien an. Selbst Tschechien will jetzt 15.000 Flüchtlinge aufnehmen, aus ganz pragmatischen Gründen. Die Slowakei versorgt - bei aller Gegenrhetorik - bereits Flüchtlinge für Österreich und man darf sicher sein, dass die polnische Regierung, sind die Wahlen (25. Oktober) erst einmal vorbei, auch eine konstruktive Lösung anbietet. Ungarn steht dann dort, wo es Orbán hingebracht hat: allein. Selbst seine "Visegrád Vier"-Front ist zerbröselt.

Herrenmenschenfantasien: Orbán will "christliche Dominanz" wiederherstellen

Und Orbán? Ist weiter gegen Quoten und faselte gestern bei einem "Politpicknick" eines erzreaktionären "Thin tanks" von einer Krise "des liberalen Weltenplans", dessen "Blabla" jetzt vorbei sei. Er sprach von einer Einwanderungsindustrie, die zu einer Krise geführt hätte, die aber auch die Chance beinhalte, dass "das Christentum seine Dominanz zurückgewinnen" könne. Das ist Herrenrassendenken in Reinkultur. Jedenfalls könne man nicht gleichzeitig "liberal und gut sein" und "gut leben". "Reich und schwach" sein, so wie es das "liberale Europa heute ist", sei die gefährlichste Mischung.

Er lobt sich, dass er 1.500 Familien "koptische Christen" schon 2012 aufgenommen habe, Ungarn "keine Moslems" wolle, weil die mehr Kinder kriegen als "wir" und im Glauben und im Familiensinn "stärker" seien als die Europäer. Daher müsse Europa - wie schon mehrmals in der Geschichte - vor dem Anstrum selbiger beschützt werden. Ungarn, er, nehme wieder dieses Opfer auf sich und müsse sich deswegen noch von der Gemeinschaft beschimpfen lassen. Sein Regierungssprecher drohte, dass Ungarn seine Grenze (und nie vergessen: auch die der EU) "mit allen Mitteln" schützen werde. Das ist ein schwebender Schießbefehl, ein Blankoscheck für die nächste Eskalationsstufe.

Eskalation befürchtet: EU will Ungarn das Grenzregime entziehen

Doch der Gegenwind wächst. Selbst der UN-Sicherheitsrat hat Ungarn mittlerweile auf dem Radar. UN-Generalsekretär Ban Ki Moon nannte den ungarischen Umgang mit Flüchtlingen "schockierend" und "nicht hinnehmbar". Er wird sich informiert haben über die Umstände.

Und die EU-Kommission, gemeinsam mit dem Parlament dem Rat der Regierungschefs in der Flüchtlingsproblematik weit voraus, will nun endlich dass "multinationale Grenzposten-Teams die Außengrenzen der EU überwachen". Kurzfristig soll die EU-Grenzschutzbehörde Frontex für einen besseren Schutz der Außengrenzen sorgen, sagte der EU-Innenkommissar und meint damit, Frontex muss die Flüchtlinge vor Ungarn beschützen. "Es besteht das Risiko, dass die Situation an der Grenze zwischen Serbien und Ungarn eskaliert. Wir müssen alles tun, um einen ernsthaften Konflikt zu vermeiden." Serbien verhalte sich vorschriftsmäßig. Er hoffe, dass sich auch Ungarn seiner Verantwortung bewusst sei, sagte Kommissar Avramopoulos und forderte Ungarn auf, die Grenzen wieder zu öffnen.

Die EU versucht also mit den begrenzten Mitteln, die es hat - oder die Orbáns Schutzmacht (das ist Frau Merkel und ihre EVP) bereit sind zuzulassen - , die ungarischen Hoheiten an der Grenze und gegenüber Flüchtlingen einzuschränken. Das dürfte noch spannend werden, wenn man bedenkt welches Gebrüll der "Freiheitskämpfer" Orbán schon anstimmt, wenn die "EU-Bürokraten" es allein wagen "ungarische Familien anzugreifen", in dem sie ihm eine Steuer auf Pálinka vorschreiben!

The Show Must Go On

 

Bis die EU tätig wird, zieht Orbán seinen Polizeistaat durch. Es ist eine Übung unter realen Bedingungen, irgendwann wird er die Truppen im Inneren brauchen. Solange muss die Show weitergehen.  Der oberste Seuchenschützer warnt vor "ausländischen Krankheitserregern", die Parteipresse und das Staatsferneshen hetzt und lügt im Studentalt. 367 illegale Grenzübertritte hat man in den letzten 24 Stunden festgestellt. Die Leute werden von Schnellgerichten abgeurteilt, eingesperrt, abgeschoben. Eingedenk der Dunkelziffer ist der Beleg, dass Orbáns Grenzzaun auch technisch gescheitert ist, damit also auch offiziell erbracht worden.

Auch wenn Orbán sich die sich anbahnende Umleitung der Balkanroute kurzfristig innenpolitisch als Erfolg anschreiben lassen kann und die mit Kurzsicht und Ressentiments geschlagenen "besorgten Bürger" ihm das mit einem "Siehste, klappt doch" applaudieren: Ungarn hat sich längst von Demokratie und aus Europa verabschiedet und wird das teuer bezahlen. Die Flüchtlinge werden weiter kommen, wenn sie es müssen. Dort, an den Ursachen ist Europas Kampfplatz, nicht an den Grenzen. Gestern hat Orbán den Rubikon überschritten, inzwischen mehrere Schlachten gewonnen, aber den "Krieg" längst verloren...

red. / m.s.
 


Unabhängiger Journalismus braucht
die Hilfe seiner Leserinnen und Leser!
18watchingYoupl (Andere)
Bitte unterstützen auch Sie den PESTER LLOYD!



 

 

 

Effizient werben im
Pester Lloyd!
Mehr.

Unterstützen Sie den Pester Lloyd!