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(c) Pester Lloyd / 09 - 2017    WIRTSCHAFT      28.02.2017

Landplagen zu Leistungsträgern: Wie Ungarn öffentlich Bedienstete in die Privatwirtschaft "channeln" will

1,2 Millionen Menschen arbeiten in Ungarn heute im öffentlichen Dienst bzw. staatlichen Sektor, das sind 20% aller Arbeitsfähigen, doppelt so viele wie im Westen. Diese sollen nun in Massen in den privaten Sektor transferiert werden, koste es, was es wolle. Doch den Fachkräftemangel hat die Regierung Orbán selbst verursacht und wird ihn - ohne Aufgabe ihres Selbstverständnisses von einem postindustriellen, neofeudalen Ständestaat - auch nicht beseitigen.

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Es ist eine jener "alternativen Realitäten", mit denen die Regierungspartei seit Beginn an bei den Wählern hausieren geht. Auf der einen Seite verspricht man dem Bürger mit Pauken und Trompeten weniger Bürokratie, eine radikale Reduzierung des öffentlichen Dienstes, eine Verschlankung und Effizienzsteigerung der - natürlich von den Sozis im Eigeninteresse aufgeblasenen - öffentlichen Verwaltung.

 

Dann macht man das Gegenteil. Man verstaatlichte Betriebe und Banken, stockt Polizei und Armee auf, zentralisiert das Schul- und Gesundheitswesen als Staatssektoren, schafft tausende neue Parteikommissare in "lokalen Regierungsbüros", als Kanzler in Universitäten oder Supervisors in Krankenhäusern und obendrauf beschäftigt man eine Viertelmillion Langzeitarbeitslose in Kommunalen Beschäftigungsprogrammen" (Foto), der sog. "Közmunka".

1,2 Millionen Menschen arbeiten in Ungarn heute im öffentlichen Dienst bzw. staatlichen Sektor, das sind 20% aller Arbeitsfähigen und rund 26% aller als "beschäftigt" Registrierten. Die Quote beträgt in Deutschland 8% (und dort denkt man, man hat zu viele Beamte!) und 13% in den anderen Visegrád-Staaten Slowakei, Polen und Tschechien. Angesichts des massiven Mangels an Fachkräften, vor allem im produzierenden Gewerbe, voran der Auto- und Elektroindustrie, verortet Orbáns Kanzler Lázár "im Staat die größte Arbeitskraftreserve". Eine Feststellung, die er alle Jahre wieder trifft, die seine Regierung aber nicht davon abhielt, seit 2010 allein in den Behörden (also ohne Közmunkás, Gesundheits- und Bildungssektor oder Staatsbetriebe) 70.000 Menschen mehr zu beschäftigen als die Vorgängerregierung.

Bei einer Konferenz der Debrecener Vertretung der Ungarischen Industrie- und Handelskammer kündigte er wiederum an, dass "die Anzahl öffentlich Beschäftigter in den nächsten fünf Jahren drastisch gekürzt werde". Von diesen Ankündigungen dürfte allein unsere Zeitung schon ein gutes Dutzend im Archiv haben. Mal hieß es, man setzt 200.000 Leute frei, dann sollten es eine halbe Millionen werden. Am Ende stellte man mehr ein als man entließ, - selbst die ideologischen Säuberungswellen, denen Tausende zum Opfer fielen, hatten am Ende keinen Einfluss auf den Gesamtpersonalstand.

Man wolle zunächst die 1-Forint-Jobber in den ersten Arbeitsmarkt "channeln", so Lázár, der logischerweise nicht erklären wollte, wie es ihm gelingen will, aus meist völlig unqualifizierten Hilfsarbeitern, die oft schon die Mitte ihrer Lebensarbeitszeit überschritten haben, in kurzer Zeit Mitarbeiter von auf High-Tech-Produkte spezialisierte Weltkonzerne zu zaubern. Zumal die Kommunalen Beschäftigungsprogramme meist über Gräben ausheben und Wald fegen nicht hinauskommen. In den wenigen Fortbildungskursen bringt man den Erwachsenden teilweise die Grundrechenarten bei - unabhängig davon, ob sie sie beherrschen oder nicht...

Eine feine Ausrede hatte Lázár für den Sinn der "Közmunka" parat, auch die ist nicht neu: Seit der Einführung der zwangsweisen Massenbeschäftigung zur Hälfte des gesetzlichen Mindestlohns (wer sich Mühe gibt, geht mit 180.- EUR im Monat nach Hause), seien die "in Ungarn begangenen Straftaten von 450.000 auf 200.000 pro Jahr" zurückgegangen. "Statistik is a bitch", kann man da nur antworten. Zum Einen handelt es sich bei den Zahlen um die aufgenommenen Anzeigen - was nichts weiter bedeuten könnte, als dass die Polizei Bürger, die ein gestohlenes Huhn anzeigen wollen, einfach wieder nach Hause schickt - oder noch einfacher: Innenminister Pintér lässt die Statistiken einfach fälschen oder "anders zählen".

Zum Anderen stellt sich die Frage: Wenn die "Arbeitsfaulen" so eine öffentliche Gefahr darstellen, was glaubt er, mit welcher Freude werden die "Human Ressources"-Manager von Audi & Co. diese Leute einstellen? Abgesehen davon ist Lázárs Anmerkung nichts weiter als schäbiger, amtlicher Rassismus und Armuts-Chauvinismus, unterstellt sie doch, dass es sich bei den zigtausenden Roma und sozial Abgehängten in den Programmen samt und sonders um potentielle Straftäter, quasi Landplagen handelt, die man beaufsichtigen müsse.

Lázár merkt ganz richtig an, dass Ungarns "Wettbewerbsfähigkeit" seit der Wende vor allem auf dem, sozusagen guten Preis-Leistungs-Verhältnis des ungarischen "Humankapitals" beruhte. Die vergleichsweise gute Ausbildung traf auf traumhaft niedrige Löhne und eine akzeptable Infrastruktur. Das hat sich gewandelt, sowohl der "Lohndruck", wie man das Begehren der Arbeitnehmer auf eine vernünftige Entlohnung angesichts ihres gestiegenen Marktwertes in Arbeitgeberkreisen zynischerweise nennt, als auch die Konkurrenz des Auslandes, der rund 650.000 junge, qualifizierte Ungarn bereits anheim gefallen sind, aber auch die gestiegenen Anforderungen an die Fertigkeiten, haben den Arbeitsmarkt Ungarn in etlichen Branchen bereits nahezu leer gefegt. So leer, dass man bereits in der Ukraine, der Slowakei, ja bis nach Mazedonien auf Werbetour gehen muss und dafür auch
Streit mit der EU über Visaregelungen riskiert.

Auch hier werkelt ein quais unauflösbares Paradoxon: Man lockt mit
Lohnsubventionen von bis zu vier Jahren ausländische Produzenten an, verjagte aber gleichzeitig Hunderttausende Qualifizierte in den Westen, weil man von den Gehältern in Ungarn kaum bis gar nicht leben kann - übrigens auch im Staatssektor größtenteils nicht. Ende des vergangenen Jahres dann kam man auf den Trichter, die Gehälter müssten viel höher sein - zu spät, zu wenig - und wieder einmal für die Falschen. Was dabei herauskommt, ist nur eine eine weitere staatliche Intervention, eine ruckartige Veränderung der Kostenstrukturen, die neue Investoren eher abschreckt und Klein- und Mittelbetriebe die Existenz kostet.

Ein aufgeblasener Staatssektor ist dabei nur noch ein Sargnagel mehr, den man einfach nicht herausziehen kann, solange man praktisch jedes gesellschaftliche Betätigungsfeld und jede Wertschöpfungskette möglichst total kontrollieren will. Man könnte sagen, die Katze beißt sich in den Schwanz, wenn es nicht eher eine Ratte wäre.

 

Was Lázár verschweigt: Die belegbare Verelendung eines Drittels bis zur Hälfte der Gesellschaft und damit die Verwehrung resp. Erschwerung des Zuganges zu qualifizerender Bildung, die für den ersten Arbeitsmarkt taugt, hat die Fidesz-Regierung selbst zu verantworten. Wirklich alles, von der Steuerpolitik, über die exklusiv für Besserverdiener gerichteten Förder-Schemen, die erzreaktionäre-ideologisierte Bildungspolitik, die Verstaatlichungswellen im Energie- und Bankensektor, bis hin zur Günstlingswirtschaft, war und ist auf die Schaffung eines postindustriellen, neofeudalen Ständestaates ausgerichtet, der eines beachtlichen unqualifizierten Bodensatzes bedarf - als dumme Konsumenten, Billiglöhner, Abschreckung einer zu disziplinierenden Mittelschicht, notfalls als frei manipulierbare Wutbürger.

Und dann wundert sich Herr Minister Lázár, dass er nicht genügend State-of-the-art-Motorenbauer unter ihnen findet?

red.


46pllogo (Andere)
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