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(c) Pester Lloyd / 15 - 2011  POLITIK 15.04.2011

KOMMENTARE

Weiße Westen, schwarze Schafe

Staatlicher Geschichtsrevisionismus in Ungarn

Ein Staatssekretär nimmt direkten Einfluss auf die Dauerausstellung der Budapester Holocaust-Gedenkstätte. Ihm passt es nicht, dass die Macher den Einmarsch Horthys in Siebenbürgen 1940 und die späteren Deportationen von dortigen ungarischen Juden in einen historischen Zusammenhang stellen. Nun wird wohl bald die ganze Leitung der Gedenkstätte ausgewechselt. Angesichts aktueller Ereignisse in Ungarn ein fatales Signal.

Der Staatssekretär im Justizministerium, András Levente Gál, bezichtigte die Ausstellungsmacher der Holocaust-Gedenkstätte in der Páva Straße (HDKE), einer "verzerrten Geschichtsdarstellung" und forderte eine "Umwertung". In einem Interview, das jedoch nicht in einer Zeitung, sondern, praktisch selbstgebastelt, auf der Regierungswebseite veröffentlicht worden ist, äußert sich der Fidesz-Politiker über eine bevorstehende Umbesetzung des kompletten Vorstands der Einrichtung um die "Kooperation mit jüdischen Organisationen im In- und Ausland" zu stärken. Man werde einen neuen Chefhistoriker einsetzen, der auf dem Gebiet besonders bewandert ist, ließ er wissen.

Der Staatssekretär erklärt, wer Gut und wer Böse ist

Weiter erläuterte er, dass er bei seinem ersten Besuch der ständigen Ausstellung den Leiter der HDKE auf eine “historische Fehldarstellung” aufmerksam gemacht habe, die es zu revidieren gilt. Es ginge nicht an, dass ein Zusammenhang zwischen dem Einmarsch ungarischer Einheiten unter Reichsveweser Horthy in durch die Verträge von Trianon abgetrennte ungarische Gebiete in einen Zusammenhang mit den späteren Deportationen und Todesmärschen der dortigen Juden gebracht werde. Diese haben schließlich erst unter der deutschen Besatzung stattgefunden und hätten daher keinen kausalen Zusammenhang mit der "Rückgabe" von Teilen Siebenbürgens und des Szeklerlandes sowie Oberungarns ("Wiener Schiedssprüche" von 1940). Eine solche Darstellung sei dazu geeignet, unnötige Spannungen zwischen den Völkern entstehen zu lassen.

Es kann auch Zusammenhänge geben, die nicht kausal sind

Die Kuratorin der Ausstellung, gleichzeitig leitende Historikerin der Einrichtung, Judit Molnár, erklärt hingegen, dass ein unmittelbarer Zusammenhang zwischen beiden Ereignissen gar nicht hergestellt ist, sondern dass man die verschiedenen "Märsche" angefangen von der Revolution 1918, über den Einmarsch Horthys in ungarische Städte, die Märsche von ungarischer Gendarmerie, Arbeiteraufmärsche, den Einmarsch der Deutschen, Aufmärsche der Pfeilkreuzler und letztlich die Todesmärsche jüdischer Ungarn als wichtige Ereignisse der damaligen Zeit sieht und darstellt. Es sei aber historisch falsch, die Deportation der Juden Ungarns als allein von den deutschen Besatzern vorgenommene Handlung darzustellen, im Gegenteil, die wenigen deutschen "Beamten" in Ungarn wären ohne die Hilfe von zigtausenden Ungarn des öffentlichen Dienstes, der Sicherheitsorgane und "freiwilliger" Helfer in so kurzer Zeit gar nicht in der Lage gewesen, 400.000 Juden zu deportieren. Zudem kam es in den nicht von Ungarn wiederbesetzten Gebieten, z.B. im Süden Siebenbürgens nicht zu solchen Exzessen.

Diese Gründlichkeit wäre andernorts angebracht

Was den Staatssekretär stört, ist die Herstellung eines Zusammenhangs zwischen den Deportationen und der Rolle der ungarischen Armee. In Deutschland kennt man diese Debatte über die anständigen Landser der Wehrmacht, der sich recht bald in Luft aufgelöst hat. Wenn man schon Holocaust und Faschismus in Ungarn nicht allein den Deutschen in die Schuhe schieben kann, bemüht sich der aktuelle Geschichtsrevisionismus die Schuldfrage vor allem auf die Pfeilkreuzler als einige schwarze Schafe zu beschränken, um in der Trianonfrage möglichst weiter das reine Opfer bleiben zu können und die Legende von einer friedlichen Kontinuität ungarischer Regenten weiterzustricken.

Levente Gáls Anmerkungen und sein rigides Vorgehen gegen die Ausstellungsmacher sind nicht nur gegen die Freiheit der Wissenschaft gerichtet (ein Gut, das in Ungarn unter keiner Regierung besonderen Stellenwert genoss), sondern auch hinsichtlich des latenten Antisemitismus in Ungarn zumindest fahrlässig. Diese Vehemenz wünschte man sich z.B. im Vorgehen gegen die Nachfolger der Pfeilkreuzler im Geiste, die seit Wochen wieder durch ungarische Ortschaften marschieren, um ihre eigene "Minderheitenpolitik" zu betreiben und so eine Pogromstimmung unseligster Erinnerung herbeischwören. Gerade laufen die Prozesse gegen eine Mörderbande an sechs Menschen, darunter ein Kleinkind, Opfer “praktischer” ungarischer “Geschichtsrevisionisten”.

Anfang Mai beginnt der letzte große Kriegsverbrecherprozess:
gegen einen ungarischen Gendarmen

Die offiziöse nationalistisch, frömmelnde Geschichtsinterpretation, die nicht davor zurückschreckt, die Kontinuität der kommenden neuen Verfassung mit dem Ende der Horthy-Zeit wiederaufzunehmen, ist auch im Vorfeld des wohl letzten großen Kriegsverbrecherprozesses interessant, der Anfang Mai in Budapest gegen Sándor Képíró beginnt. Dieser war Offizier der ungarischen Gendarmerie in der (von Hitler 1940 zurückerstatteten) Vojvodina und ist wegen maßgeblicher Mitwirkung an einem Massaker in Novi Sad angeklagt, bei dem über eintausend Serben, aber auch Juden (aus Serbien wie Ungarn) 1942 umgebracht wurden, also noch unter Horthy und vor der deutschen Besatzung ab 1944. Ungarn verurteilte Képíro bereits ein Jahr nach der Tat in einem “Schauprozess” der anderen Art. Die sich anschließene Naziregierung ließ ihn dann laufen. Er versteckte sich später in Argentinien und kam Ende der Neunziger heimlich nach Ungarn zurück. Als man ihn entdeckte, gab es zunächst rechtliche Probleme damit, ein Verfahren anzustrengen gegen jemanden, der bereits für seine Taten verurteilt war. In der Berichterstattung über den Fall fehlt in den regierungsnahen und anderen rechten ungarischen Medien nie der Verweis auf Kriegsgräuel jugoslawischer Partisanen an Ungarn, die es zweifellos auch gegeben hat.

Warum streuen die Nationalen dem Volk Sand in die Augen?

Über die einseitige und völlig abstruse Sicht des offiziellen Ungarn auf die Ursachen des für das Land tatsächlich tragischen Friedensdiktats von Trianon, haben wir hier bereits ausführlich berichtet. Doch auch die Rolle der ungarischen Armee im Zweiten Weltkrieg war bereits unter sozialistischer Regierung in einem ahistorischen Heldenlicht dargestellt worden, die eine weiße Weste hat, nur von ihren Verbündeten im Stich gelassen worden ist. (Dazu hier unser Beitrag: http://www.pesterlloyd.net/2010_03/0367jahredon/0367jahredon.html ) Was die 2. Armee 1943 2.000 Kilometer von zu Hause am Don überhaupt zu suchen hatte, fragt man heute nicht mehr so laut.

 

Letztlich geht es bei dem allgegenwärtigen Geschichtsrevisionismus - für den das Gebahren des Staatssekretärs leider nur eines von vielen Beispielen liefert, einen Blick in die Geschichtsschulbücher unterlassen wir hier geflissentlich - darum, den ungarischen Opfermythos zu pflegen als historische Basis für die neu beschworene nationale Einheit, die von der Regierung heute - auch wieder über die Landesgrenzen hinaus - eingefordert wird und eine wesentliche Stütze ihres ideologischen Gerüstes darstellt, das sich bis in die Präambel der neuen Verfassung zieht und in einer sinnlosen Einbürgerungskampagne der “Landsleute” von außerhalb spiegelt. Die Regierung Orbán wird wissen, warum sie ihrem Volk derartig viel Sand in die Augen streut. Hoffentlich weiß es bald auch das Volk.

red. / ms.
 

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