(c) Pester Lloyd / 24 - 2011
POLITIK 17.06.2011
Die Wut der Clowns
Katerstimmung im Zirkus Ungarn: Zehntausende protestieren gegen die Regierung -
MIT KOMMENTAR “Sargnägel der Demokratie” - Fotos
Es waren wieder Feuerwehrleute, Polizisten, Jutsizvollzugsangestellte, Zollmitarbeiter, die mit den Protesten gegen notwendige, aber ohne jede ernsthafte
Konsultation mit den Betroffenen durchgeprügelte Reformen begannen. Am Donnerstag schlossen sich ihnen Kollegen von fünf der sechs
Gewerkschaftskonföderationen an, geschätzte 35.000 Menschen waren auf den Straßen von Budapest unterwegs und erklärten der Regierung, wo sie zu weit gegangen ist.
Budapest am Donnerstagabend, Abertausende ziehen vom Parlament zum Präsidentensitz, wo sie
symbolisch eine “Volksabstimmung” abhalten. Fotos: MTI Imre Földi, MTI Zsolt Szigetvary
Nicht nur in Budapest fanden Proteste statt, auch in Debrecen, Kecskemét, Zalaegerszég
gab es Auto-Korsos, Clownsaufmärsche (in Anspielung an eine abfällige Bemerkung des Premiers gegenüber den Protestierern) und Kundgebungen. Nach einem Korso von
mehreren hundert Autos durch die Hauptstadt, über Heldenplatz, City, Donaubrücken und zurück, gab es Kundgebungen vor dem Parlament und versammelten sich am späteren
Abend nimmermüde Demonstranten in der Budaer Burg vor dem Amtssitz des Staatspräsidenten. Symbolisch haben 20.000 Menschen, so die Organisatoren, ihre Stimme
für die Regierungsparteien Fidesz-KDNP zurückgezogen, insgesamt sollen landesweit rund 50.000 Menschen unterwegs gewesen sein.
Wer ist hier der Clown? Premier Orbán ließ vor seinem Privathaus protestierenden
Polizeigewerkschaftern, die um ein Gespräch nachsuchten, ausrichten, sie könnten in seinem Schlafzimmer protestieren, er würde ihnen höchstens den Staatssekretär für Clownsangelegenheiten
schicken. Der Schuss ging nach hinten los, nun hat sich eine “Clownsrevolution” aufgemacht, dem Premier den Ernst der Lage zu erklären...
Die Aussagen der Gewerkschaftsführer gingen alle in eine klare Richtung. Sie wollten den Machthabern erklären, dass
die ihr Mandat und eine Zeidrittelmehrheit nicht erhalten haben, "um rückwirkende Gesetze zu verabschieden, verfassungsmäßige Rechte zu beschneiden, Privatvermögen
einzuziehen, demokratische Institutionen abzuwickeln und die Lebensbedingungen von Millionen Menschen zu verschlechtern." Im Fidesz-schen Duktus erklärten die Demonstranten ihren
"Volkswillen" und entzogen der Regierung symbolisch ihr Vertrauen.
Dieser Vertrauensverlust war das Leitmotiv der Aufmärsche, ein Redner beschrieb die
Stimmung so: "Wir haben Fidesz gewählt, weil wir darauf vertrauten, dass die Zukunft mit ihnen besser wird und voraussagbarer, doch sie haben uns wieder belogen. Was wir
sehen sind Chaos, Unfähigkeit und rechtliche Ungewissheit." Laut lärmende Demonstranten forderten offen den Rücktritt von Orbán und seinem Präsidenten-Pudel
Schmitt, dem sie es besonders verübelten, dass er umstandslos, nur begleitet von einem heuchlerischen Brief, die umstrittenen Gesetze zur Umwandlung der Frührente in Sozialhilfe unterschrieb.
Vor dem Sándor Palota, dem Amtssitz des Ungarischen Präsidenten
Auffalllend war der Schulterschluss zwischen sonst konkurrierenden
Gewerkschaftskonföderationen, diesmal schlossen sich die Föderation der Unabhängigen Gewerkschaften, ASZSZ, die Föderation der Berufstätigen, ESZT, die Nationale Föderation
der Ungarischen Gewerkschaften, MSZOSZ sowie das Kooperationsfoum der Gewerkschaften SZEF sowie die LIGA zusammen, dabei waren etliche
Einzelgewerkschaften, der Polizei, der Lehrer etc., darunter ebenso politisch neutrale, linke wie ultrarechte. - Ab 29. Juni sind erste konzertierte Streiks geplant.
red.
Sargnägel der Demokratie - KOMMENTAR
Die Regierungsseite bewertete die Proteste schon desöfteren abfällig als das Aufheulen
von priviligierten Schichten, die um ihre Besitzstände fürchten. Mit dieser Haltung, die bis hoch zum Ministerpräsidenten auch so nach außen getragen wurde und der gleichzeitigen
Verweigerung ernsthafter Verhandlungen, - also ergebnisoffenen Gesprächen vor der Verabschiedung von Gesetzen, hat sich die Regierung, die sich gern so besonders volksnah
gibt, viel Sympathie verspielt. Protestierende Feuerwehrleute in Uniform in ihren Mittfünfzigern, gegen solche Bilder kommt nicht einmal ein Orbán in Höchstform mehr
an. Erst recht nicht gegen die tragik-komische Absurdität, dass erwachsene Menschen in Clownskostüme schlüpfen, weil sie sonst nicht mehr wissen, wie sie ihre Befindlichkeiten,
ihre Wut, ihre Trauer ausdrücken sollen als dass sie die Verachtung, die ihnen die Regierung entgegenbringt umkehren, wie Schwarze, die sich selbst stolz Nigger nennen...
Budapest, am 16. Juni 2011
Dabei stellt kaum jemand in Abrede, dass das System überbordender Frühberentung
reformiert gehört, - weil es schlicht zu teuer ist. Doch Frührentner dirigistisch von einem Tag auf den anderen zu Sozialhilfeempfängern zu erklären, ihnen die Bezüge zu kürzen,
wenn sie keine Arbeit annehmen, wobei es überhaupt nicht genug auch nur annähernd adäquate Arbeitsplätze gibt, hat etwas von planwirtschaftlichem Größenwahn. Auch sind
keine würdigen Karrieremodelle für alternde Exekutivbeamte und Rettungskräfte vorhanden, die ihre riskanten Jobs aus guten Gründen nicht bis Mitte Sechzig ausüben
können oder wollen. Ungerechtfertigte Privilegien abzubauen ist das eine, den kompletten öffentlichen Dienst wie verwöhnte Kleinkinder zu maßregeln, ist ein gefährliches Spiel mit
dem Feuer, immerhin wird der Staat nicht zuletzt von der Loyalität seiner “Diener” getragen.
Wer aber am Ende seiner Laufbahn nicht den Wald fegen will, wird als Volksfeind
gebrandmarkt. Ebenso Arbeitslose: es nützt eben nichts, einfach nur das Arbeitslosengeld zu kürzen, die Angebote “öffentlicher Arbeit” aber nicht mitzuplanen. Das schießt übers
Ziel hinaus, wo schon sooft bei dieser Regierung, die immer nur waghalsige wenn auch erstrebenswerte Zielgrößen benennt, den Weg dahin aber mit demokratiepolitischen
Leichenteilen pflastert und auf die Würde der Betroffenen pfeift - im nationalen Interesse...
Gleichzeitig wurden mit dem verabschiedeten Reformpaket nämlich einige grundlegende
rechtliche Gebote missachtet und nicht zuletzt der gesellschaftliche Konsens der Sozialpartnerschaft aufgekündigt. Die Regierung Orbán schreitet auf dem Weg der
Autokratisierung fort, die Katerstimmung bei den Wählern fällt entsprechend aus, bei aller früheren Euphorie ist der Blick für den eigentlich bekannten Machthunger und die
Demokratieverachtung des Herrn Orbán wohl sehr getrübt gewesen. Zyniker könnten daher kommentieren, dass die Menschen selbst Schuld an der Misere sind, denn eines kann
man Orbán nicht unterstellen, dass er seine Abneigung für konsensuale Politk und demokratische Gepflogenheiten irgendwann einmal verheimlicht hätte.
Wie weiter? - Die Regierung muss einen Kurswechsel vollziehen, die (echte) Konsultation
mit dem Volk und den Interessensvertretern der Arbeitnehmer ist keine lästige Formsache, sondern essentieller Teil von Politik, erst recht in einer Demokratie. Der
Kompromiss zwischen dem gedachten Idealweg und dem Machbaren, weil Vertretbaren muss das Ziel sein, Sturheit, machtgeile Eitelkeiten sind abzulegen. Leider ist dieser
Regierung und der dahinterstehenden Ideologie aber die Deutungshoheit wichtiger als das Wohl der Menschen, das hat sie schon an vielen Beispielen gezeigt.
Dafür wird sie eher über kurz als über lang einen Preis bezahlen, der als politische
Niederlage seine Berechtigung hätte, wenn er nicht dauerhaft das ganze Land und dessen Zukunft beschädigen würde. Orbán hat den letzten Kredit für Politiker in Ungarn erhalten,
verspielt er ihn, folgt Chaos und Elend, ist das Feld für die ohnehin schon starken Radikalen endgültig bereitet. Denn die traditionelle Linke, die MSZP, ist keine Alternative, sondern heute nicht viel mehr als ein schlechter Witz, vernünftige Alternativen sind zwar hoffnungsfroh aber noch zu schwach und und bedürften viel von dem Vertrauen, das die
Grabenkämpfer der letzten 20 Jahre verspielt haben als sie emsig - jeder auf seine unverwechselbare Weise - am Grab der jungen ungarischen Demokratie schaufelten, in
das sich diese Regierung anschickt, die letzten Sargnägel einzsuchlagen.
ms.
Fotos von den Demonstrationen in Budapest, 16. Juni Fotos: PESTER LLOYD (c) Stefano Solaro
Die Revolution der Clowns...
Auch rechtsextremistische Gruppen und rechte Gewerkschaften nahmen wieder an der Demo teil. Ein
gewerkschaftlicher Mitorganisator verweigerte sich von einer Distanzierung. Er sagte, dass diese Kollegen ebenso willkommen seien wie z.B. die Kommunisten...
Die zu “Clowns” Gestempelten errichte sich ihre Bühne vor dem Parlament und drehen den Spieß um...
Die Facebook-Gruppe “Eine Million für die Demokratie” (hier mehr dazu) organisierte eine symbolische Abstimmung, bei der der Fidesz-Regierung die Zweidrittelmehrheit aberkannt wurde
Feuerwehrleute versammeln sich vor dem Parlament
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