(c) Pester Lloyd / 43 - 2011 GESELLSCHAFT 27.10.2011
Für die Republik
Der Widerstand gegen die Regierung in Ungarn wächst
Während die Offiziellen die üblichen Kränze zum Nationalfeiertag abwarfen, versammelten sich am Sonntag trotz schlechten Wetters in Budapest mehrere
zehntausend Bürger auf der Straße der Pressefreiheit. „Nem tetszik a rendszer!“ (Das System gefällt mir nicht) wurde der Schlachtruf gegen die antidemokratische
Politik der Orbán-Regierung wie gegen den Niedergang der politischen Kultur insgesamt. Von selbigem legten die Machthaber mit einer Mischung aus Arroganz,
Zensur und Fracksausen ein eindrückliches Zeugnis ab. Am Mittwoch wurde eine neue Partei ausgerufen und mit ihr viele neue Fragen.
Hauptorganisator der größten Oppositionsdemo seit der Machtübernahme der Orbánisten
im Frühjahr 2010 war wieder die Facebook-Bewegung „Eine Million für die ungarische Pressefreiheit“, die bereits beim Nationalfeiertag im März für einen beeindruckenden
Auflauf gegen das Mediengesetz sorgte. Diesmal, wieder an einem Nationalfeiertag, schlossen sich auch andere zivilgesellschaftliche Organisation, darunter die TASZ, 4K! und
die Anfang Oktober neu gegründete Arbeiterbewegung Szolidaritás an.
Menschenmassen in der Straßenschlucht. Die Teilnehmerzahlen schwanken von 10.000 bis über
100.000, die Wahrheit liegt, zumindest hier, wahrscheinlich in der Mitte. Fotos: Pester Lloyd
Selbstbestimmung als Hauptmotiv
Wieder war den Teilnehmern der friedliche Charakter des Protestes so wichtig wie die
Distanz zu den althergebrachten Parteien. Am Nationalfeiertag des 23. Oktober, der an den Volksaufstand gegen den Stalinismus 1956 erinnert, versammelten sich Menschen, die
sich ebenfalls nicht mehr fremdsteuern lassen wollen, von keiner Seite. Wieder traf man auf sämtliche Gesellschaftsschichten, eben "den normalen Bürger". Die Spaltung der MSZP
vor wenigen Tagen dürfte dieser über- wie außerparteilichen und außerparlamentarischen Bewegung zusätzlichen Schwung verleihen. Im Vorfeld entstandene Befürchtungen über
mögliche Zusammenstöße mit den unweit aufmarschierenden Neofaschisten von Jobbik (etwa 1500) beschränkten sich auf einige "Verirrte", die von der korrekt auftretenden
Polizei umstandslos in Schach gehalten wurden.
Kameras fallen zufällig aus - die Nachrichten schweigen
Die Angaben über die Teilnehmerzahlen schwanken gewaltig: unsere Schätzungen liegen
bei über 30.000, ansonsten hat man von unter 10.000 bis über 100.000 alles dabei. Doch sogar Orbánsprecher Péter Szijjártó räumte "wohl 10.000 bis 30.000" ein. Es war nicht
leicht, sich einen numerischen Überblick zu verschaffen, denn "ganz zufällig" fielen genau am Sonntag wieder jene sonst live im Internet zugänglichen Verkehrskameras eines
"privaten" Betreibers aus, die schon im März an gleicher Stelle ganz zufällig einen Defekt hatten. Das staatliche Fernsehen, also der ehemalige öffentlich-rechtliche Rundfunk in
Ungarn, erwähnte die Demo in seinen Nachmittags- und Vorabendsendungen nicht einmal mit einem Satz, die Hauptnachrichten verschwiegen sie bis zu einem verschämten Beitrag
im hinteren Teil, was umso absurder erschien als dann am Montag in den selben Medien der Regierungssprecher höchstpersönlich seine Sicht zu dieser so unwichtigen Demo kundtat.
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Orbán-Sprecher Péter Szijjártó profiliert sich gerade als Nachfolger von Comical Ali. So wie der
ehemalige irakische Regierungssprecher “massenhaften Selbstmord von verzweifelten US-Soldaten an
den Stadtmauern Bagdads” sah, als bereits hörbar die US-Panzer durch die Straßen rollten, meint jener
in ebenso bewundernswerter Dreistigkeit: “das, wogegen demonstriert wird, gibt es gar nicht...” Foto: fidesz.hu
Regierung: von Berufsangstmachern in die Irre geleitet...
Die Einschätzung von Orbáns amtlicher Sprechblase, Péter Szijjártó, machte dabei sogar
Despoten von Rang und Namen alle Ehre. Eindrücklich eröffnet sie den Blick darauf, welche "Achtung" auch diese Regierung ihrem Volk entgegenbringt und man erinnert sich
an eine ganze Reihe von solchen arroganten Auftritten im In- wie Ausland, die meist am Anfang des Endes dieser "Systeme" standen.
Szijjártó meinte, dass "da wohl einige Menschen und einige Gruppen von professionellen
Angstmachern aufs falsche Gleis geführt worden sind, weil es das, wogegen sie protestieren, nicht gibt. ... Das System gefällt ihnen nicht? - Klar, uns auch nicht,
deswegen ändern wir alles, deswegen organisieren wir Ungarn neu (...) Die, welche jetzt in die Irre geführt wurden, werden später klar erkennen können, dass das neue, im
Gegensatz zum alten, die Krise verursachenden System, viel besser für uns sein wird.“ Kurz gesagt: das Volk ist einfach zu dämlich und wenn nicht, dann irregeführt oder
bösartig, in jedem Falle aber viel zu unreif, sein Schicksal selbst in die Hand zu nehmen.
Anständige Ungarn demonstrieren nicht, sondern arbeiten
Diese Kommunikationsstrategie, die neben Hochmut, schon auch von der Angst getragen
ist, die Dinge könnten überhand nehmen, wirft auch ein Licht auf die Gründe der kurzfristigen Absage einer eigenen Fidesz-Demo. Diese sollte - ganz in der Nähe - ein
überwältigendes Gegengewicht zum Oppositionsaufmarsch schaffen, so der erste Plan. Nun erschien es den "Strategen" jedoch ratsamer, auf kleiner Flamme zu kochen, keine
Projektionsflächen für sich steigernde Proteste zu liefern, ganz nach dem Motto: es gibt nichts zu demonstrieren, es wird hart für das Land gearbeitet, anständige Ungarn
demonstrieren nicht. Nur Spinner wie Jobbik und diese anderen da ergehen sich in national-destruktiver Selbstdarstellung. Premier Orbán weilte am Nationalfeiertag in
Brüssel, "da, wo er gerade für Ungarn gebraucht wird", welch Vorbild.
Das Profil schärft sich, die politische Klasse insgesamt ist als Gegner ausgemacht
Dennoch ist davon auszugehen, dass die Regierung am Sonntag ganz genau hingesehen-
und gehört hat, was sich auf der Straße der Pressefreiheit abgespielte und kundgetan wurde. Es wird den Machthabern nicht verborgen geblieben sein, dass die einstige
Randbewegung inhaltliche Konturen bekommt, sich Leitfiguren bemerkbar machen, die Sache allmählich Hand und Fuß bekommt. Die Veranstalter vertraten am Sonntag einen
viel klareren, einheitlicheren und grundsätzlicheren Kritikansatz, der nicht nur an das Fidesz gerichtet war, sondern eine grundlegende Abrechnung mit der politischen Kultur
und Klasse der Nachwendezeit beinhaltete. Hier trifft sich Budapest übrigens mit Madrid, Tel Aviv, Tunis - auch wenn man das, gefangen im geistigen Karpatenbecken - selbst nicht
so recht wahrzunehmen scheint. Am nächsten Nationalfeiertag, dem 15. März 2012, will man über einen "alternativen Staatspräsidenten" abstimmen. Es gibt Aufrufe zu "zivilem
Ungehorsam" gegen ein "politisches System aus reiner Muskelkraft".
Die Demo der neofaschistischen Jobbik, ca. 1500 Teilnehmer, verlief nach dem üblichen Ritual.
Ausgemacht wurden die Volksfeinde, man selbst werde die Revolution von 1956 zu Ende bringen, dazu gab es das ganze martialische Brimborium. Auffallend war die relativ geringe Teilnehmerzahl.
Ruf nach der “Vierten Republik”
Hauptredner András Istvánffy, Mitbegründer und
spritus rector der Generationsbewegung 4K! (Vierte Republik), holte in seiner Rede zunächst zum Rundumschlag gegen Orbán und das neue Fidesz-System aus und stellte die Bürgerproteste in
eine Reihe mit 1956, denn auch damals forderten die Menschen die Demokratie ein. Orbán glaube nicht an ein solches Gemeinwesen, er wählte den
Weg "einer willkürlichen und selbstherrlichen Herrschaftsausübung", die auch bereit ist, Menschen die Rechts- und Existenzsicherheit zu nehmen, den Rechtsstaat abzubauen und
die ihre Klientel auf Kosten der Armen bedient. Das Fidesz, so Istvánffy, glaube "nicht an die Ungarn, nicht daran, dass die Ungarn ihr Schicksal gemeinsam in die Hand nehmen
könnten, wie 1956." Die Regierungspartei, so der Schluss, habe 1956 verraten.
Orbán hat 1956, 1989 und sich selbst verraten
Der Redner zeigte "dem Volk" auf, was dessen weitgehende politische Abwesenheit im
letzten Jahr bewirkt hatte: das Verfassungsgericht enthauptet, die Verfassung zu einem illegitimen Machtwerkzeug verändert, die Presse hat Angst, die Arbeitnehmerrechte
wurden massiv eingeschränkt. Es gab zwar Demos, aber es hat alles nichts genutzt. Heute sind die Ungarn ausgeliefert und müssten für die gleiche Arbeit weniger Geld in Kauf nehmen.
Istvánffy brachte auf den Punkt, was
viele Anwesende dachten, manche nur fühlten: "Was ist um uns herum passiert? Es geht nicht einfach nur darum, dass die Regierung schlechte Gesetzte
verabschiedet. Sie haben die 3. Republik, das Gemeinwesen, das 1989 genau an diesem Tag, dem 23. Oktober gegründet wurde, gestürzt. Sie haben sogar das
Wort „Republik“ aus dem Namen des Landes gestrichen. Die Regierung baut ein neues System auf, aber uns gefällt dieses System nicht! Aber warum konnte man die 3. Republik
abschaffen? Es fehlte ihr die Möglichkeit der wahren Partizipation, dass die Menschen nicht nur alle 4 Jahre die Entscheidungen beeinflussen. Die politische Elite hat sich von der
Gesellschaft distanziert. Die Menschen haben sich nicht zufällig von der Politik abgewandt, sie haben genau gespürt, dass diese nicht für sie arbeitet. (...) Nach 20 Jahren voller
Enttäuschungen war die Sehnsucht nach einem Neuanfang groß. Leider fiel die Möglichkeit dieser Erneuerung einem Menschen in die Hand, welcher sie missbrauchte. Das
Orban-System hat 1956 verraten und bedeutet einen Rückschritt auch zu 1989. Das ist kein Neuanfang, sondern der endgültige Verrat an den Versprechungen des
Systemwechsels. (...) Aber wir haben dazugelernt. Was der Mensch einfach nur so umsonst kriegt, dass schätz er nicht. (...) Jetzt müssen wir, die Bewegung der normalen
0815-Bürger uns sie erstreiten. Und das ist auch gut so, denn ein Gemeinwesen wird nur dann anhalten, wenn es von unten heraus erkämpft wurde. Für uns, die wir Mitglieder
oder Sympathisanten unterschiedlicher oppositioneller Bewegungen und Parteien sind, oder wir vielleicht gar nirgendwo hin gehören, unser gemeinsames Ziel muss der wahrhaftige
(echte) Neuanfang, die wahrhaftige (echte) Neugründung der Republik sein...."
Neue Partei will Lücke füllen, könnte aber auch neue Gräben aufreißen
Dieser - hier nur gekürzt wiedergegebenen - sehr emotionalen Rede folgte am 26.
Oktober ein logischer, wenn auch nicht risikofreier Schritt, die Bewegung 4K! hat die Gründung einer Partei angekündigt, der Gründungskongress soll im Mai 2012 stattfinden.
Über die Sinnhaftigkeit als Partei gegen den Parteienstaat zu kämpfen, über die Gefahren, sich selbst im Sog von Selbstdarstellung und Abgrenzung zu verzetteln, wurde
von den Machern der neuen Bürgerbewegungen lange debattiert, unterschiedliche Schlüsse gezogen. (In diesem Beitrag haben wir diese Debatte aufgegriffen: http://www.pesterlloyd.net/2011_23/23republik1/23republik1.html ) 4K! will eine
"links-patriotische" Partei gründen, da es einen "riesigen Bedarf nach einer glaubwürdigen und neuen Kraft gibt." Und schon findet man sich mitten in der Begriffs- und
Deutungsfalle.
Die Polizei bürgernah. Kein Wunder, denn ihre Vertreter sind auch in der “Szolidaritás” dabei.
Die “Explosion” des bisherigen "linken Blocks" und
die Abspaltung der DKP von der MSZP (siehe Beitrag), ist ein Anlass. Die Gründer wollen die Lücke füllen: „Die Partei wird einen
sozialdemokratischen Charakter haben, was bedeutet, dass sie in erster Linie die Arbeitnehmer vertreten wird und solche, die immer weniger Chancen haben zu dieser Gruppe
(Arbeitnehmer) zählen zu können: die erodierte Mittelschicht, die jungen Leute, die Armen und Ausgestoßenen." Gründer Istvánffy bleibt dabei
dem basisdemokratischen Prinzip treu, Programm und Struktur wird von den Neumitgliedern, nicht von ihm bestimmt. Um Anmeldung wird gebeten.
Ohne Mut geht es nicht
Möglich, dass dieser Gründungsaufruf ein Fehler
ist. Denn immerhin verlangt man nun von der heterogenen Protestbewegung eine Art Bekenntnis, die bürgerliche Komponente, die Protestbewegung wird kanalisiert, die
Gewerkschaften müssen sich fast zwanghaft distanzieren, bei vielen anderen wird die Institutionalisierung allergische Reaktionen auslösen. Einige traten schon aus, ihnen
kommt die Gründung zu früh, ist die Ausrichtung zu deutlich. Dem hält 4K! entgegen, dass die bisherigen Demos nichts brachten, der Protest muss Fahrt aufnehmen,
Konsequenzen ziehen aus der Spaltung und dem Scheitern der MSZP, dem Untergang der liberalen Bewegung in Ungarn und dem bauchpinselnden Herumwurschteln der LMP. Es
muss endlich eine Alternative her. Da mutet man sich einiges zu, - aber ohne Mut geht es natürlich sowieso nicht.
Vivienne Kiss, Christian-Zsolt Varga, M.S.
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