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(c) Pester Lloyd / 10 - 2012     POLITIK   09.03.2012

 

Mutter aller Probleme

Orbáns Ungarn verweigert die Realität und eine Lösung mit der EU

Nach dem Brüsseler "Ungenügend" für die ungarische Antwort auf die Vertragsverletzungsverfahren schrieb Premier Orbán erneut ein paar erklärende Briefe an die Kommissions- und Ratspräsidenten Barroso und Van Rompuy. Doch die aktuellen, weltfremd-provokanten Äußerungen des Regierungschefs stärken die Zweifel an dessen Sachverstand und seinem Willen zur Problemlösung. Er will die EU belehren, obwohl seine eigene Baustelle kurz vor dem Zusammenbruch steht. - LEITARTIKEL

Spiegelfechter im Spiegelkabinett. Orbán am Donnerstag vor der Ungarischen Industrie- und Handelskammer. Fotos: kormany.hu

Der ungarische Ministerpräsident und sein unmittelbares Umfeld sind in ihrer nationalökonomischen Befreiungstheologie offenbar derart gefangen, dass der Blick fürs große Ganze, das Machbare sowie hin zu einem Ausweg versperrt scheint und man kommt immer mehr zu dem Schluss, dass Orbán überhaupt keine Lösung anstrebt, um die schon tüchtig angeheizte Anti-EU-Stimmung und den wirtschaftlichen Notstand auf eine Quantität zu heben, die ihm die Ermächtigung für ungeahnte politische Neuerungen geben könnte.

Wir sind die Guten

Die Bemerkungen auf einer Konferenz der Ungarischen Industrie- und Handelskammer, MKIK, am Donnerstag lassen kaum eine andere Deutung zu. Wieder einmal fuhr er die Geschütze seiner Lehrmeisterei auf und befand allein die Idee, Ungarn von 500 Mio. EUR des EU-Kohäsionsfonds abzuschneiden, "eine extrem dumme Politik" und ein "schlechtes Management". "Wie will die EU ihre Probleme lösen, wenn sie die Schlechten belohnt und die Guten bestraft?".

Er wiederholte die Behauptung, Ungarn sei unter den EU-27 defizitmäßig unter den Top 8 und dass er "garantiere, keinen einzigen Eurocent zu verlieren". Orbán scheint unfähig, mehr noch unwillig zu erkennen, dass diese Fragen, so sie auch Wahres streifen, nichts mit der Problemlösung zu tun haben, für die er gewählt worden ist. Der Versuch, anstatt der eigenen Politik die der EU zu ändern, grenzt dabei allmählich an Wahn.

Die EU reicht Ungarn immer wieder die Hand, Orbán beißt immer wieder hinein

Orbán säße, so referierte er vor Wirtschaftsvertretern weiter, nun schon seit Monaten am Verhandlungstisch, allein "die andere Seite", hier gemeint der IWF, sei nicht erschienen, was er ganz und gar nicht verstehen könne. Dabei hatten EU und IWF mehrmals deutlich gemacht, dass eine Einigung bei den Verfahren die Grundbedingung für offizielle Gespräche sind. Dabei hat sogar Orbáns Lieblingsfeind, EU-Parlamentschef Martin Schulz gesagt, dass er die Aufbürdung weiterer finanzieller Lasten für Ungarn (durch Sperrung von Geldern) für kontraproduktiv hält. Die EU reicht Ungarn immer wieder die Hand, Orbán beißt immer wieder hinein.

“Wirtschaftlicher Jahresauftakt 2012” steht an der Leinwand. Am 8. März.
Vielleicht denken wir einmal darüber nach...

Sein IWF-Chefverhandler im Ministerrang Fellegi fügte hinzu, dass es "keinen Plan B" für eine beschleunigte Problemlösung bei den IWF-Forderungen gibt, dabei wäre die Welt schon mit Plan A zufrieden. Und zu allem Überfluss sonderte Vizepremier Semjén gestern noch den Spruch ab, dass die Beziehungen des Landes zu seinen Nachbarn "so gut wie nie" seien, was zu dem Sager Orbáns in der Frankfurter Allgemeinen passte, die beiden Weltkriege seien eine Art "Bürgerkrieg zwischen Christen" gewesen. Durchgängige Realitätsleugnung als Regierungsprogramm, Orwellscher Neusprech als Kommunikationsstrategie.

Die Mutter aller Haushaltsprobleme und die Schwiegermutter der Problemlösung

Die vorgetäuschte Naivität Orbáns mag vielleicht bei seinem ländlichen Anhang noch immer gut ankommen, die Rahmenbedingungen für ein Fortkommen des Landes aus seinen Krisen verbessert sie indes keineswegs. Dazu ein Beispiel: Orbán hatte von Anfang an erkannt, dass die niedrige Beschäftigungsquote von 53% bei Amtsantritt eines der größten Strukturprobleme, ja die Mutter aller Haushaltsprobleme darstellt.

Auf der Kammer-Konferenz schlüsselte er, sozusagen als Schwiegermutter der Problemlösung, nochmals auf, dass von den 3,8 Mio. versicherungspflichtig Beschäftigten lediglich 2,6 Mio. Steuern zahlen. Sein Ziel sei es, diese Zahl auf 5,5 Millionen mehr als zu verdoppeln, andernfalls würde "die Tragödie weitergehen" und die Wirtschaft "keine Zukunft" haben (obwohl hier eher "der Staat" eingesetzt gehört hätte).

 

Soweit alles richtig. Auf diesen Seiten zeigten wir uns auch begeistert von der nur für Systemkinder radikal klingenden Einsicht, dass das uns antrainierte System von Zins- und Zinsenszins schon rein rechnerisch immer in die Pleite und die Abhängigkeit von der Finanzwirtschaft führen muss und auch die Totalaufgabe der eigenen Produktiv- und Innovationskraft nicht gut enden kann.

Der Plan, alles eine Nummer kleiner, dafür regionaler und nachhaltiger zu kochen, ist nicht nur vernünftig, sondern auch zutiefst europäisch. Allein, was hat seine Regierung in bald 2 Jahren angerichtet? Ein halbes Dutzend "nationale Strategien", endlose Parolen und falsche Prognosen, aber nichts, wirklich überhaupt nichts messbar Positives.

Bleiben wir nur beim Mittelstand und den Steuerzahlern: Eine Flat tax von 16% auf alle Einkommen und eine stark abgesenkte Körperschaftssteuer (10% statt 19% auf Gewinne bis ca. 1,6 Mio. EUR) belohnt die Besserverdiener ohne eine Kopplung an Leistung oder Schaffung von Arbeitsplätzen. Diese schaffen das Mehr bisher grußlos beiseite.

Frührentner wurden steuerpflichtig und die untersten Einkommensschichten - die in Ungarn die Mehrheit stellen - sinken ohne Lohnkompensationen (die längst nicht alle bekommen) unter die Armutsgrenze. 45% der 750.000 Beschäftigten im öffentlichen Dienst müssen mit Lohnkompenstationen entschädigt werden, damit sie wenigstens nicht nominal weniger verdienen.

In der Akademie der Wissenschaften, ausgerechnet...

Gegängelte Unternehmer - verarmte Mehrheit
Das Land wird ständisch auseinanderdividiert

Die Unternehmer, vor allem kleine und mittlere werden mit einer wahnwitzig ausgeuferten Bürokratie gegängelt, obwohl man sich dort kaum noch Steigerungen vorstellen konnte. Die Lohnnebenkosten sind - relativ zur Lohnhöhe - immer noch die höchsten in Europa. Ein Heer von kommunalen "Zwangsbeschäftigten" wird geschaffen, bar jeder Perspektive auf qualifiziertere Tätigkeiten. Genau diese ständische Auseinanderdividierung des Landes, vollzogen durch die Flat tax, die Bildungsreform mit Studienplatzreduzierung und -steuerung, die Forex-Ablöse, die kommunalen Beschäftigungsprogramme usw. stehen einer Gesundung Ungarns im Wege.

Die Umverteilung von Unten nach Oben, in der Hoffnung, Oben könnte irgendwann gestopft genug sein, um endlich seine gesellschaftliche Verantwortung wahrzunehmen, hat noch nirgends und niemals funktioniert. Bildung und relative Chancengleichheit für alle sind der Schlüssel. Ein gutes Auskommen für Vollbeschäftigung und gleichzeitige steuerliche Förderung derselben, statt immer mehr Billig-, Teilzeit und Schummeljobs und gerechte Steuersätze, die eine gesellschaftliche Balance herstellen, was eine Flat tax niemals leisten kann.

Angeblich sollen ab 2013 die Sozialabgaben für Ungelernte von heute 27 auf 18% gesenkt werden, hörte man heute aus dem Wirtschaftsministerium. Das klingt erstmal vernünftig, wird aber unweigerlich zur Folge haben, dass immer mehr Gelernte als Ungelernte angestellt werden, mit der Folge, dass der Staat wieder gegensteuern muss, um die Ausfälle für die Sozialversicherungen zu begrenzen. Immerhin ist auch von einer Vereinfachung der Besteuerung für KMU die Rede, allerdings hatte man das im Zusammenhang mit der Flat tax schon einmal versprochen.

Die Altherrenrunde am Frauentag. Kammerboss und Landeschef in wichtiger Pose.

Präpotenz und Impotenz

Wo also sollen in dem heutigen Chaos die vielen neuen Steuerzahler herkommen? Orbáns Antwort klingt so, als wäre er die letzten 20 Monate abwesend gewesen: "Der Erfolg der nächsten 18 Monate hängt davon ab, ein Steuersystem zu erschaffen, das die Mittelklasse fördert." Im übrigen aber folgt nun, nach dem "radikalen politischen Umbau" eine Periode der "Ruhe und Konsolidierung". Reformen stoßen schließlich "immer auf Widerstand. Dieser muss gebrochen oder in einen Kompromiss gezähmt werden." Die Unternehmer werden begeistert gewesen sein.

Zur politischen Präpotenz der Regierung Orbán gesellt sich, das lässt sich nicht mehr verheimlichen, wirtschaftliche Impotenz. Das eine kostete dem Land den guten Ruf und womöglich die Demokratie, das andere kann den Bewohnern die Existenz kosten. Orbán ist somit auf dem Weg, auch noch auf dem letzten großen Feld seiner Betätigung zu versagen, wenn er nicht endlich vernünftig wird oder wenigstens ein paar vernunftbegabte Berater in sein Umfeld lässt. Der Chef der Industrie- und Handelskammer kann das jedenfalls nicht sein. Er meinte nicht nur pflichtschuldig "Ungarn ist auf dem richtigen Weg", sondern verstieg sich auch noch zu dem Witz, "... Wir sollten nicht zu weit hinter Deutschland zurückfallen...".

Marco Schicker

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