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(c) Pester Lloyd / 23 - 2012     GESELLSCHAFT 05.06.2012

 

Kein Platz für Menschenwürde

Obdachlose in Ungarn fordern Wohnraum und Konzepte

Aktivisten und Betroffene kämpfen gegen ein trauriges Paradoxon in der ungarischen Hauptstadt. Während in Budapest tausende Sozialwohnungen leerstehen, leben ebenfalls tausende Menschen auf der Straße. Gleichzeitig werden die Obdachlosen per Gesetz pauschal kriminalisiert, ohne dass Staat oder Stadt ihrer Fürsorgepflicht durch adäquate Maßnahmen nachkommen.

Tausende leerstehende Sozialwohnungen, tausende Obdachlose

Die Menschenrechtsorganisation A város mindenkié (Die Stadt gehört jedem) setzt sich für die Rechte Obdachloser ein. Am Sonntag hat sie bei einem Marsch durch den VIII. Bezirk Budapest auf die dramatische Verschlechterung der Lage seit Amtsantritt und Einführung der Law-and-order-Regelungen aufmerksam gemacht: allein im VIII. Bezirk gibt es ca. 500 leerstehende städtische Sozialwohnungen aber gleichzeitig macht die Bezirksverwaltung politische Stimmung gegen Obdachlose.

 

Die NGO hat nach eigenen Angaben gerade 30 Mitglieder, sowohl Obdachlose als auch nicht Obdachlose und wurde bereits 2009 gegründet. Denn auch damals, unter den "Sozialisten" war das Problem der Obdachlosigkeit bereits gravierend. Tamás – Gründungsmitglied der Organisation und Obdachloser seit 2009 – meint im Gespräch mit unserer Zeitung: „Schon unter der MSZP war es schlimm und die Situation hat sich nicht gebessert. Es stehen mehrere Tausend Wohnungen sowohl von Privateigentümern als auch von der Stadt in ganz Budapest leer. Diesen Missstand hat es 2009 bereits gegeben, aber die wirtschaftliche Lage hat alles nur schlimmer gemacht.“

Ein Protest für die Menschenwürde

Die Demonstranten trafen sich am János Pál pápa tér, dem nach dem polnischen Papst neubenannten ehemaligen Platz der Republik. Doch von christlicher Nächstenliebe ist im heutigen Ungarn nicht viel zu spüren, dafür viel von Ideologie.

Der "Leere Wohnungs-Marsch" führte durch den VIII. Bezirk. Es wurde an einigen leerstehenden Häusern angehalten und es wurden Reden gehalten. Die Demonstranten haben auch immer wieder die Slogans "Die Stadt gehört jedermann" und "Nutzt die Wohnflächen", "Auch wir sind Menschen!" skandiert. Agnès und Siham beispielsweise – zwei Studentinnen – hielten Schilder hoch auf denen sie die Bezirksregierung zum Handeln auffordern und sich eine sozialere Stadt wünschen. „Wir sind hier um auf die wirklichen Probleme Budapests aufmerksam zu machen. Es kann nicht sein, dass Obdachlose von den Behörden unmenschlich behandelt werden. Dabei gäbe es genug Platz zum Wohnen und für ein menschenwürdiges Dasein.“

Obdachlose gefährlicher als Neonazis?

150-200 Menschen im Alter zwischen 20 und 60 Jahren nahmen an der Demonstration teil und es war wahrlich eine bunte Truppe, die durchgehend skandierte sowie Musik machte. Ca. 20 Polizisten begleiteten den Marsch sowie Mannschaftswagen der Polizei, die den Marsch auch die komplette Zeit filmte und dafür sorgte, dass die Demonstranten ja nur die Bürgersteige benutzten. Die großen TV-Sender waren nur zu Anfang vertreten. Die Staatsmacht scheint in den Sozialprotestlern eine große Gefahr zu sehen, denn bei der gleichzeitigen Jobbik-Demo zum von der Orbán-Regierung verhängten "Trianon-Gedenktag" mit ca. 5000 Teilnehmern war ungefähr die gleiche Zahl Polizisten anwesend, die den Neofaschisten sogar den prominenten Andrássy-Boulevard als Bühne bereiteten.

Die Obdachlosen wurden von der Regierung der "nationalen Einheit" an den Rand gedrängt. Wer nicht ins Bild passt, soll verschwinden. Die Slogans von den Frührentnern als Sozialschmarotzer und dem Willen "alle, die arbeiten können, der Arbeit zuzuführen" finden ihre Wirkung in praktischer Politik. Wer zweimal bei "missbräuchlicher Nutzung öffentlicher Flächen", wie die Übernachtung im Freien umschrieben wird, ertappt wird, muss mit Verhaftung und für die Betroffenen unbezahlbaren Geldstrafen rechnen.

Kein Platz für Versager bei der "nationalen Erneuerung"

Knast als Obdach, Hauptsache man hat die Leute von der Straße. Vor zwei Jahren wurden die städtischen Verträge mit geübten und engagierten Hilfsorganisationen gekündigt, neue nur mit "genehmen", meist kirchlichen Organisationen geschlossen. Man nennt das in Ungarn "Überführung in ein neues System" und "verantwortliche und effektive Nutzung von Steuergeldern". Die Zahl der Notbetten verringerte sich, betreutes Wohnen oder Ausbildungsmodelle fielen weg, dann kam das Kriminalisierungsgesetz und erste Verhaftungen. Der Hinweis des parlamentarischen Ombudsmannes, dass Obdachlosigkeit meist kein selbstgewähltes Schicksal ist und am Ende einer langen Kette von sozialen Niederlagen steht, daher eines komplexeren Konzeptes bedarf, verhallte im Getöse der "nationalen Erneuerung". Mit Kleinigkeiten, so scheint es, will sich diese Regierung der großen Worte nicht aufhalten.

 

Wie zum Hohn besuchte Premier Orbán im Winter "ganz spontan" eine der Einrichtungen, in denen Obdachlose "aufbewahrt" werden. Frisch gestrichene Wände und ein Fotograf für Orbáns Facebook-Auftritt, das ist seine neue Sozialpolitik. Die Zahl der Erfrorenen in diesem Winter lag genauso hoch wie immer, die der Leidenden stieg. Die Aktivisten planen nun Hausbesetzungen und weitere Demos, sie kämpfen gegen Windmühlen, im neuen "Ständestaat", der die Unterschicht als Ansporn und Drohung für den Mittelstand zu funktionalisieren scheint.

Tim Allgaier, Philipp Karl, red.

 

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