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(c) Pester Lloyd / 25 - 2012     GESELLSCHAFT 22.06.2012

 

Brigade zur "Schöneren Zukunft"

Stiefvater Staat: Beschäftigungsprogramme in Ungarn degradieren Bürger zu Untertanen

Die Beschäftigungspolitik der Orbán-Regierung spiegelt besonders eindrücklich ihr ständisches Gesellschaftsverständnis, ihr inhumanes Menschenbild sowie ihre fehlende Wirtschaftskompetenz. In keinem anderen Bereich hat diese Regierung bisher so gründlich versagt wie in diesem. Die Mittel für das Pseudowirtschaftsprogramm werden nun nochmals deutlich erhöht, die Zahl der "Beschäftigten" wird auf eine Viertelmillion erhöht, die Umsetzung bleibt Sache der Kommunen, was alles noch viel schlimmer macht.

Hauptsache, sie sind aus der Arbeitslosenstatistik raus...

 

Im Entwurf für den ungarischen Haushalt 2013 sind 153,8 Mrd. HUF (536 Mio. EUR) für das öffentliche Arbeitsprogramm „Start“ vorgesehen. Das sind 16 Prozent mehr als im diesjährigen Haushaltsplan, wo 132 Mrd. (460 Mio.) für derartige Maßnahmen eingeplant sind. 2011 war der Posten mit 64 Mrd. HUF (223 Mio. EUR) nochmals weitaus geringer. In der Erläuterung zu dem Gesetzentwurf heißt es, etwa 250.000 Personen könnten 2013 in dem Arbeitsprogramm beschäftigt werden.

Der Entwurf sieht außerdem 59 Mrd. HUF (206 Mio. EUR) für verschiedene Unterstützungsleistungen für Arbeitssuchende vor. Dies sind 2 Mrd. (7 Mio.) mehr als im Vorjahr, wo das Geld schon im April zur Hälfte aufgebraucht war. Damals wurde von etwa 60.000 Menschen ausgegangen, an die die (volle) Arbeitslosenunterstützung von monatlich 77.000 HUF (268 EUR) ausgezahlt wird. Die detaillierte Verteilung schlüsselt sich innerhalb des Budgets für den Nationalen Beschäftigungsfonds auf, der ein Haushaltsvolumen von 346,2 Mrd. HUF (1,2 Mrd. EUR) in sich vereint, 38,6 Mrd. (135 Mio.) mehr als in diesem Jahr.

Immerhin stimmt hier die Arbeitskleidung. Die Unterschicht entsorgt den Müll ihrer Herren und soll noch stolz sein, zur arbeitenden Bevölkerung gezählt zu werden...

Mindestlohn außer Kraft gesetzt

Außer einem leichten Anstieg bei nicht-gewerbsmäßigen Institutionen ist das Segment der öffentlichen Arbeitsprogramme das einzige, wo die Zahl der Beschäftigten im ersten Quartal 2012 gestiegen ist. Im April waren 102.000 Menschen in diesem Bereich beschäftigt, 60,8 Prozent mehr als noch 2011. 83.400 davon arbeiten in Vollzeit und verdienen durchschnittlich 73.667 HUF (257 EUR) brutto pro Monat, was nach sämtlichen Abzügen die legendären 47.000 Forint netto ausmacht (170 EUR), von denen man laut Wirtschaftsminister Matolcsy (siehe Fotocollage) “im heutigen Ungarn ganz gut leben kann...”.

Die Umstrukturierung der alten Maßnahme zum neuen „Start“-Programm in diesem Jahr hat dazu geführt, dass mehr Menschen innerhalb des Programms Vollzeit tätig sind. Jedoch sank der Durchschnittslohn der Vollzeitarbeiter in der Arbeitsmaßnahme im Vergleich zum Vorjahr um 9,8 Prozent. Ein Regierungsbeschluss hatte den Mindestlohn für unqualifizierte Arbeiter in staatlichen Programmen Ende 2011 auf 71.800 HUF (250 EUR) festgesetzt. Der übliche Mindestlohn liegt hingegen bei 93.000 HUF (325 EUR) pro Monat.

Diese zwar staatlich geförderten und gewollten, aber überwiegend kommunal exekutierten Beschäftigungsprogramme sollen den Effekt haben: "alle, die arbeiten können, der Arbeit zuzuführen" und "aus Leistungsbeziehern, Leistungserbringer und Steuerzahler" zu machen. In der Praxis sieht das so aus, dass - unter Berufung auf das vom Innenministerium getragene Gesetz - die Dorfbürgermeister nach Gutdünken Arbeitskolonnen für jede noch so abwegige Tätigkeit zusammenstellen können.

Schneeschaufeln für weniger als den Mindestlohn. Vater Staat sorgt für uns...

Mechanismen der Zwangsarbeit

Wer die Közmunka, die "gemeinnützige" Arbeit verweigert oder das Programm unentschuldigt abbricht, verliert 3 Jahre den Anspruch auf jegliche staatliche Zahlung (Sozialhilfe im Monat um die 90 EUR). Oft ist der Betroffene jedoch vom Gutdünken seines Aufsehers und des Dorfnotars abhängig, was als "entschuldigt" gewertet wird und was nicht. Wer bis zu 40 Stunden in der Woche den Anordnungen folgt, darf mit einer Aufstockung seiner Sozialhilfe um rund 70 EUR pro Monat rechnen. Auch die Arbeit fern des Wohnortes, samt Übernachtung im Wohncontainer, muss der Delinquent gegebenenfalls in Kauf nehmen, Familie hin oder her. Dafür gibt es außer dem Fahrgeld keine zusätzlichen Entschädigungen.

Staatliche Billigarbeiterarmee forciert Arbeitslosigkeit

Volkswirtschaftlich dient das Programm lediglich der Ruhigstellung der Unterschicht und der Schönung der Arbeitsmarktstatistik, deren leichte Verbesserung fast ausschließlich auf diesen sozio-ökonomischen Selbstbetrug zurückführbar ist. Die Közmunka hat zudem noch den erfreulichen Effekt, dass das Wahlvolk nickend am Straßenrand steht und sieht, dass die Regierung bei den "cigányok" endlich durchgreift. Nicht, dass es da nicht wirklich viel zu tun gäbe, aber diese Regierung macht nur einen neuen Deckel auf einen alten Topf, der Druck darunter steigt aber weiter.

Die Programme bieten nämlich keine Perspektive, tragen keinen Ausbildungs- oder Motivationscharakter und sind zu 100% aus Steuermitteln finanziert. Die Mittel dafür machen rund 0,5% des BIP aus, genug, wie Experten meinen, um dem Mittelstand nachhaltige Impulse zu geben, die zu einem natürlichen Wachstum von Arbeitsplätzen führen könnten. Doch anstatt ortsnahe Berufsausbildung mit Eingliederungsförderungen für die lokale Wirtschaft zu verknüpfen, was aufwendig ist und viel Enthusiasmus` bedarf, schafft man lieber eine Armee von Billigkonkurrenten für einfache, aber schwere Arbeiten, die wiederum neue Arbeitslosigkeit im besonders heiklen Segment der schlecht Ausgebildeten forcieren muss und den Frust auf allen Seiten auf "Stiefvater Staat" nur erhöen kann.

“Arbeitsidylle” aus Gyöngyöspata

Amtlicher Rassismus ist belegt

Vorzugsweise werden zum Wald- oder Schneefegen, Gräben buddeln, Beete anlegen, Geländer streichen oder Holz sammeln die örtlichen Roma und andere “asoziale Elemente” herangezogen, während "weiße" Sozialhilfeempfänger als deren Aufsicht eingeteilt und mit entsprechender "Kompetenz" ausgestattet werden. Erfahrungsberichte und Augenzeugenprotokolle aus 2011 sowie dem Winter 2012 lehrten uns, dass es häufig an adäquatem Arbeitsgerät und Schutzkleidung fehlt, mitunter lange Arbeitswege zu Fuß zurückzulegen sind, auch die Versorgung mit Wasser und Nahrung war oft mangelhaft, von Pöbeleien und Sadismusanfällen des Aufsichtspersonals wurde mehr als nur einmal berichtet.

Auch wird das Beschäftigungsprogramm von national besonders motivierten Lokalpolitikern und ihren Schergen gerne für eine Art magyarisches Umerziehungsprogramm nach eigenen Vorstellungen genutzt, das bis in den gesetzlich geschützen Bereich der Privatsphäre der Betroffenen hineinwirkt. Zuletzt machten Jobbik-Politiker “Ortsbegehungen” bei denen sie sich als informelle Kommission Zutritt zu den Wohnungen von Roma verschafften, um “die Fortschritte bei hygienischen Maßnahmen” zu begutachten. Dieselben Leute übrigens, die “wirksame Maßnahmen zur Geburtenkontrolle bei Zigeunern” fordern.

Höhepunkt der Verhöhnung war die Vorführung von einigen Hundert "Beschäftigten" zum "Nationalen Reinigungstag" Anfang Juni, bei dem die Unglüklichen ein paar herangekarrte Volontäre bei der medienwirksamen Beseitigung der Abfälle ihrer Herren unterstützen durften und ihnen in einer Ansprache aus dem Innenministerium erläutert wurde, wie glücklich sie sich schätzen dürfen, Teil des neuen Ungarns zu sein. Die Szene erinnert nicht nur an "1984" - es war 1984! - In einem anderen, ebenfalls dokumentierten Falle ließ ein Jobbik-Bürgermeister die Arbeitskolonne bei ihrem Marsch durch die Landschaft ein Transparent mit der Aufschrift "Brigade Zur Schöneren Zukunft" tragen. "Schönere Zukunft!" war der Wahlspruch der faschistischen Pfeilkreuzler und ist der Slogan der heutigen Neonazis...

Genauere Berichte zu den rassistischen und strukturellen Schikanen der Beschäftigungsprogramme enthält der Kallai-Report, der als "Dokument der Schande" den amtlichen Rassismus anhand konkreter Beispiele offenbart.

Europa schaut weg

 

Die Beschäftigungspolitik der Orbán-Regierung, einschließlich dem neuen Arbeitsgesetz und unter Mitwirkung der asozialen Flat Tax (im Neusprech: familienfreundliches, proportionales Steuersystem), spiegelt besonders eindrücklich ihr ständisches Staatsverständnis, ihr inhumanes Menschenbild sowie ihre fehlende Wirtschaftskompetenz. In keinem anderen Bereich hat diese Regierung bisher so gründlich versagt wie in diesem, doch leider sind die "trockene Wirtschaft" und detailreiche Sozialfragen keine Themen, mit denen sich publikumsorientierte Medien - zumal internationale - gerne abgeben, auch wenn sie die größten Auswirkungen auf die Menschen in Ungarn haben, die systematisch zu Untertanen degradiert werden.

Europa schweigt zu diesem Skandal, denn die Aufarbeitung sozialer Ungerechtigkeiten ist nicht Teil der Agenda, - womöglich würde eine Beleuchtung der Vorgänge in Ungarn auch unnötigerweise ähnliche Strukturen in anderen Ländern aufdecken und verdeutlichen, dass Sklavenheere der Arbeit ein gewolltes Segment unseres Wirtschaftssystems darstellen.

ms.

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