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(c) Pester Lloyd / 49 - 2012   POLITIK 06.12.2012

 

Das Volk als Waffe - der Bürger als Statist

Verabsolutierung der Macht im neuen Ungarn: das Beispiel Obdachlosigkleit - UPDATE

Erst hat man sie pauschal kriminalisiert, nun werden Ungarns Obdachlose von ihrer Regierung auch noch zu Statisten im "Nationale Konsultation" genannten Schmierentheater gemacht. Wieder einmal will die Regierung Orbán eine Entscheidung des Verfassungsgerichtes durch die Verfassung selbst aushebeln. "Das Volk" wird dazu mit populistischen Fragestellungen als Legitimitation für den Rechtsstaatsabbau vorgeschoben. Dadurch wird es nicht einen Obdachlosen weniger geben, aber es wird klargestellt, wer das Sagen hat.

Seit die Verfassungsrichter der Regierung in einer ziemlich beschämenden Standpauke klar gemacht haben, dass sie Obdachlosigkeit nicht per se zum kriminellen Akt erklären darf, Menschen ohne Heim nicht einfach abgeführt werden dürfen, weil sie einen öffentlichen Platz belegen, man ihnen keine Geldstrafen oder Ersatzhaft für die reine Anwesenheit aufbrummen darf, sondern die Regierung lieber darüber nachdenken sollte, wie sie die sozialen Ursachen der Obdachlosigikeit zu beseitigen bzw. einzudämmen gedenkt, tüfteln die als sehr nachtragend berüchtigten Orbán-Leute, an einem Plan, wie man es den Obersten Verfassungshütern heimzahlen könnte.

“Nationale Konsultation 2012”

Umdeutung und Diskreditierung

Orbán kommentierte letzte Woche in seinem "Freitagsgebet" ("180 Minuten" auf Kossuth Rádió) das Urteil des Verfassungserichtes damit, dass die "Beseitigung" des Gesetzes, das "es Behörden erlaubt hatte, Obdachlose von den Straßen zu entfernen" die "Realität auf den Straßen verkennt". Die Kommunen müssten schon entscheiden können, ob sie es zulassen wollen, dass Menschen permanent auf ihren Straßen wohnen, so der Premier weiter, der damit den Sinn des Urteils des Verfassungsgerichtes entweder immer noch nicht erfasst hat oder ihn einfach umgeht, um sich ins Recht zu setzen.

Orbán machte sehr deutlich, dass man das Gesetz durchdrücken will und sei es "über die Anpassung von gesetzlichen Regeln, sogar in der Verfassung." Man werde einen Weg finden, die Anforderungen des Gerichtes zu erfüllen, umschreibt er das, jeder weiß, was das bedeutet. Es geht nicht um eine Anpassung des Gesetzes, sondern um die Überwindung des Urteils. Ziel soll es sein, "es lokalen Autoritäten möglich zu machen, Entscheidungen über Obdachlose zu fällen..." so Mr. Law and Order im Radio. “Entfernen”, “Entscheidung über...”, das Vokabular der Macht. Derzeit, so verlautbart MTI, konsultiere der Premier die Bürgermeister "der am meisten betroffenen Orte" und "möglicherweise befrage ich darüber auch das Volk", sagte er in einer Mischung aus Gnade und Drohung.

Deckel drauf-Politik

Man darf sich die zugehörige Frage schon heute auf der Zunge zergehen lassen, als etwa in die Richtung gehend: "Möchten Sie, dass zukünftig Obdachlose dauerhaft auf Ihrer Straße leben?" Jeder sagt darauf natürlich entrüstet "Nein". “Das Volk” hat gesprochen, die Richter können sich brausen gehen, notfalls packt man das Gesetz in Watte, also in die Verfassung und gut ist es. Es gibt dann wieder nicht einen Obdachlosen weniger, nur sieht man sie nicht mehr und nur darum geht es bei den Law-and-Order-Maßnahmen der Regierung. Der Effekt bei den Beschäftigungsprogrammen für Roma und andere Verelendete ist ein ähnlicher: das Problem wird nicht gelöst, sondern nur zugedeckt. Dem Volk, zumindest dem Teil, der Fidesz die Fremdschuld- und Fremdmacht-Thesen noch abnimmt, ist für abstrakte Gesten der Stärke immer zu haben und dankt der Regierung ihren Einsatz "gegen EU und Finanzlobby" bei den sog. Friedensmärschen durch rege Teilnahme. Das Volk als Waffe, doch der Bürger als Statist.

Verfassungsgericht teilenmachtet

Wie schon bei der Annulierung der Zwangspensionierung der Richter, wie bei den Einsprüchen gegen das Mediengesetz wie bei der Abfindungsbesteuerung umgeht die Regierung systematisch die Rechtsprechung des Verfassungsgerichtes durch Verfassungsänderungen oder beschneidet gleich dessen Kompetenzen (zum Beispiel um alle Fragen, die das Budget betreffen). Ist beides ungünstig, folgt dem Urteil ein “Kompromissgesetz”, das im Wesen dem kassierten gleich kommt, nur ein bisschen aufgehübscht wurde. Besonders eindrücklich geschah das mit den Richtern. Sie werden nun nicht mehr vor die Tür gesetzt, sondern einfach degradiert. Dass die Richter überhaupt noch Widerworte geben, wird sich mit der Zeit und der Ernennungspolitik der Regierung ohnehin bald erledigen lassen.

Ein ähnliches Schicksal wird auch die verfassungsgerlichtliche Prüfung erleiden, die Staatspräsident Áder heute bezüglich des neuen Wahlgesetzes (einschließlich Wählerregistrierung und Einschränkungen bei der Wahlwerbung) veranlasst hat. Er verstärkt damit den sonst nur noch blassen Anschein demokratischer Abläufe und Ambitionen, in dem dann einige Punkte gestrichen, andere umgestellt werden, am Wesen des Gesetzes aber nichts geändert wird.

Fidesz formuliert bei solchen Gelegenheiten gern ein "Gerechtigkeitsempfinden des Volkes", das man als Regierungspartei vertrete und das über die Rechtsprechung zu stellen sei. Ein besonderes Kunststück der Orbán-Regierung besteht darin, sogar schon gegen die selbst geschaffene Verfassung zu verstoßen, was zeigt, dass einige Paragrafen darin, wie das Bekenntnis zur Unantastbarkeit der Würde oder der in der Präambel mit allerlei frömmelndem Beiwerk formulierten “Pflicht” zur Unterstützung der Schwächeren nur formal zur Erfüllung internationaler Erwartungen aufgenommen wurden.

“Friedensmarsch” pro Orbán: Wir werden keine Kolonie, steht auf dem Plakat und “Vorwärts Orbán!” dazu ein “Ölbild”. Keine Kolonie. Aber vielleicht doch die Sklaven ihrerselbst?

Volk teilentmachtet

Denn, sobald sie der Tagespolitik im Wege stehen, überwindet man derartige Versprechen spielend durch fast alltäglich gewordene Verfassungsänderungen, womit das wichtigste Papier zu einer Art Blankoformular für die Ansprüche der Regierenden verkommen ist, genau das wovor namhafte Verfassungsrechtler gewarnt hatten und was von der Orbán-Fanriege, mit "abwarten" und "Panikmache" kommentiert wurde.

An dieser Verfassung wird das Land noch lange zu kauen haben, denn durch die stetig wachsende Unzahl von Kardinalsgesetzen in ihr, ist faktisch jeder Politikbereich, vom Bildungsgesetz bis hin zum Steuersatz der Einkommenssteuer von einer Verfassungsmehrheit wie von einer Burg geschützt, womit der Souverän, das Volk, ebenfalls teilentmachtet wurde. Der Wille einer womöglich wechselnden Mehrheit wird so unterbunden. Das Volk vom Souverän zum nützlichen Idioten umgedeutet. Die Macht verabsolutiert sich. Das ist antidemokratisch und anmaßend zugleich.

Die Waffe wird stumpfer

Die informelle "Volksbefragung" ist bei diesem strukturellen Rechtsstaatsabbau nur noch ein Propagandinstrument mehr: das Spektakel "Nationale Konsultation" hatte in der ersten Runde noch beachtlichen Rücklauf der hoffnungsfrohen Bürgerschar, was auch medial weitlich ausgebreitet wurde, doch immer mehr beschlich die Menschen der Gedanke, dass die meisten Fragen längst durch neue Gesetze oder Gesetzesinitiativen beantwortet sein könnten, noch bevor der Souverän etwas dazu zu sagen hatte, zumal die wirklich drängenden Fragen das Leben auf seine eigene unbarmherzige Weise beantwortete.

 

Denn, trotzdem man sie nach ihrer Meinung fragte, wurde das Leben für die meisten teurer und schwieriger. Als dann noch ein eigenartiger Barcode auf den Schreiben mit Orbáns Unterschrift auftauchte, für den sich auch der oberste Datenschützer des Landes und in der Folge sogar ein Gericht interessierten, reduzierte sich die Beteiligungsbereitschaft spürbar, das Volk als Waffe stumpft spürbar ab. Ja, der eine oder andere stößt sich mittlerweile sogar daran, dass diese Rundschreiben einiges an Steuergeld kosten, das gewonnene politische Kleingeld aber nur eine bestimmte Partei einstreicht. Zuletzt sammelte eine Gewerkschaft stoßweise unbenutzte Fragebögen ein und führte sie via Altpapiersammlung noch einer national nützlichen Funktion zu, in dem man den Erlös spendete. Vielleicht wäre das auch eine angemessene Reaktion auf die nächste Fragerunde, wovon die Obdachlosen dann doch noch etwas hätten.

Mehr dazu in: Quaero populo - Wünschen Sie mehr Rente?
sowie in
Konstitutionelle Selbstgespräche: Fortsetzung der Scheindebatte zur neuen Verfassung

red.

 

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