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(c) Pester Lloyd / 04 - 2013   POLITIK 21.01.2013

 

Zwischen Notwehr und Putschversuch

Politisierte Aufarbeitung: Ungarn entschädigt Opfer von Polizeigewalt 2006

Eine sachgerechte Aufarbeitung der exzessiven Übergriffe von Polizisten auf friedliche Demonstranten unter der Gyurcsány-Regierung 2006 bleibt durch die Verweigerung der einen wie durch die politische Instrumentalisierung der anderen Seite auf der Strecke. Einzelne Polizisten wurden verurteilt, rund einhundert entlassen, doch die Prozesse gegen die übergeordneten Befehlsgeber stehen noch aus. Die Urteile werden kurz vor den Wahlen 2014  erwartet. Kein Zufall. Eine aufrichtige Debatte über die latente Gefahr des Missbrauchs des staatlichen Gewaltmonpols bleibt eine Illusion.

Die ungarische Regierung hat den Opfern der Polizeigewalt von 2006 bisher insgesamt 380 Millionen Forint, rund 1,3 Mio. EUR an Wiedergutmachung und Schmerzensgeld ausbezahlt. Die Zahlungen ergeben sich aus entsprechenden Gerichtsurteilen, eine Kommission ist zudem damit beauftragt, Einigung mit anderen Opfern anzustreben, bei denen noch kein gerichtliches Urteil vorliegt. Das teilte Innenminister Sándor Pintér auf eine Anfrage des Jobbik-Abgeordneten Zsolt Németh mit.

Bei Übergriffen der Polizei in Budapest waren damals Dutzende, überwiegend friedliche Anti-Regierungdemonstranten schwer verletzt worden. Während einzelne, direkt beteiligte Polizisten bereits abgeurteilt (ein erstes Urteil gab es im Oktober 2011, im Mai 2012 ingesamt rund 100 Polizisten wegen der damaligen Ereignisse aus dem Dientsverhältnis entlassen und früher ergangene Urteile gegen Demonstranten und Polizisten, die sich jedoch nur auf Aussagen von Kollegen stützten, im März 2011 vom Parlament aufgehoben wurden, damit die Gerichte mehr Zeit für eine gründliche Aufarbeitung bekommen, stehen die Hauptprozesse gegen die verantwortlichen Polizeiführer noch aus. Unter ihnen befinden sich auch der frühere Budapester Polizeichef Péter Gergényi, der nationale Polizeikommandant László Bene, sowie der Chef der Sicherheitsabteilung des Innenministeriums, József Dobozi sowie elf weitere hochrangige Polizeioffiziere. Bei diesen Prozessen sollen auch die Befehlsketten und die Links zu politischen Entscheidungsträgern offengelegt werden und es ist gewiss kein Zufall, dass die Urteile dafür zeitlich nah an den Wahltermin 2014 rücken werden.

Die Stimmung in Ungarn war damals, nach der Entrüstung über die "Lügenrede" des Premiers Gyurcsány - vom politischen Gegner entsprechend angestachelt - allgemein sehr aufgeheizt. Demonstrationen waren an der Tagesordnung. Mit dem Sturm auf die Fernsehzentrale und den Demos zum Nationalfeiertag des 23. Oktober, an dem auch ein gestohlenes Panzerfahrzeug durch die Stadt fuhr, erreichten die Unruhen ihren Höhepunkt.

Allerdings muss den Verantwortlichen damals klar gewesen sein, dass die meisten der Demoteilnehmer mit den gewalttätigen, überwiegend dem rechtsextremistischen Milieu entstammenden Randalierern vor dem TV-Gebäude nichts zu tun hatten, auch wenn es bei den Aufmärschen zum Teil Schnittmengen gab. Der Pester Lloyd berichtete ausführlich, der Rückblick ermöglicht einen Einblick in die damalige Gemengelage und zeigt, dass beide Seiten keine Waisenknaben waren:

Zunächst über den 18. September 2006, als die Dauerdemonstrationen gegen Gyurcsány am Parlament eskalierten:

Am vergangenen Montagabend zog eine Gruppe der Demonstranten vom Parlament zum nahegelegenen Szabadságtér, wo sich die Zentrale des öffentlich-rechtlichen Fernsehens befindet. Ihre zur radikalen Rechten zählenden Wortführer wollten ihre Forderungen im Fernsehen verlesen lassen. Nachdem diese nicht einmal angenommen worden waren, stürmte die aufgebrachte Menge das Gebäude. Sie zündeten Autos und einen Teil des Gebäudes an. Eine kleine, auf den Angriff völlig unvorbereitete Polizeieinheit versuchte sie aufzuhalten, wich dann aber vor der Übermacht zurück, nachdem viele Beamte durch Steinewerfer verletzt worden waren. Die Angreifer „besetzten“ für einige Stunden das Gebäude. Der Sendebetrieb war schon früher eingestellt worden. Der Pöbel wütete in den Büros und Studios und entwendete technische Geräte. Der Schaden geht in die Hundertmillionen. Die verbliebenen Polizisten leisteten keinen Widerstand mehr.

In den Morgenstunden konnten die Angreifer aus dem Gebäude gedrängt werden. Die Nacht forderte rund 130 Verletzte, in der Mehrheit Polizisten. Als einzige Fernsehanstalt übertrug der den Konservativen nahestehende Nachrichtensender Hír-TV die dramatischen Ereignisse – Bilder, die weltweit ausgestrahlt wurden. Der Reporter der Anstalt drückte dabei klar seine Sympathien für die Angreifer aus, die er verbal anfeuerte. Die Geschehnisse bezeichnete er als Revolution.

In den zwei folgenden Nächten ereigneten sich erneut dramatische Szenen in der Budapester Innenstadt. Wiederum sich aus der permanenten Demonstration lösende Personen zündeten Polizeiautos an, demolierten Auslagen und lieferten sich Straßenschlachten mit der Polizei, die die Rowdys mit Wasserwerfer und Tränengas bekämpfte.” (27.09.2006)

Die Polizei erobert am 23. Oktober 2006 einen Panzer zurück, der aus dem 1956er Museum gestohlen wurde und eine Weile durch die Straßen von Budapest gefahren war. Warum das Museums-Fahrzeug fahrtüchtig war, ist bis heute ein Rätsel...

Randalierer oder nicht, das machte für die Polizisten am 23. keinen Unterschied mehr...

Die Polizei treibt die nicht genehmigte Demo direkt zur genehmigten,
der entscheidende taktische Fehler oder befohlener Schachzug?

Der Mann kam noch relativ glimpflich davon, nicht wenigen wurde mit Gummigeschossen direkt in die Augen geballert, einige verloren ihr Augenlicht für immer.

Dann über die erste regierungsseitige Auswertung der Polizeieinsätze am 23. Oktober:

“Nach Ansicht der Regierungsseite wurden die Demonstrationen der Rechten auch mit Einschaltung von Fidesz-Politikern organisiert. Dazu soll es nun Beweise in Form abgehörter Telefongespräche geben. Der Fidesz stellt das brutale Auftreten der Polizei in den Fokus, spricht von einer Provokation seitens der Regierung und leugnet Kontakte zu den Radikalen.

Die Regierung berief sich auf einer weitgehend geschlossenen Sitzung des Ausschusses für Nationale Sicherheit auf Beweise, wonach die andauernden Krawalle allgemein und systematisch durch solche rechtsradikalen Gruppen organisiert werden, die auch Kontakte zu manchen Fidesz-Abgeordneten pflegten. Zum Beweis wurden von den Sicherheitsbehörden abgehörte Telefongespräche teils bekannter Führer der radikalen Szene vorgelegt. Die Aufnahmen scheinen die Behauptungen der Regierung eindeutig zu untermauern.

Am 23. Oktober hatten die Radikalen in der Innenstadt randaliert, während der Fidesz seine Gedenkveranstaltung zum Feiertag einen Kilometer weiter weg abhielt. Als die Polizei die nicht genehmigte Demo der Rechten brutal auflöste, zogen sich diese Menschen in Richtung der bereits beendeten Fidesz-Kundgebung zurück. So konnte es geschehen, dass auch friedliche Teilnehmer der Fidesz-Veranstaltung und unbeteiligte Passanten Opfer von Tränengas, Gummigeschossen und Polizeiknüppeln wurden.

Laut Fidesz hatte die Polizei von der Regierung die Weisung erhalten, die Radikalen und das Fidesz-Publikum zusammenzutreiben, um so die Oppositionspartei mit den Extremisten unter einen Hut zu bringen. Aus den vorgelegten Tonaufnahmen der Polizeiführung geht jedoch hervor, dass die Polizei den Auftrag hatte, die zwei Gruppen getrennt zu halten. Die abgehörten Gespräche der Randalierer lassen demgegenüber eindeutig erkennen, dass diese bemüht waren, ihre Leute mit den Fidesz-Sympathisanten zu vermengen. Beide betroffenen Fidesz-Politiker gaben zu, mit Personen der Rechten telefoniert zu haben, doch wie es hieß nicht im Zusammenhang mit der Demonstration.

Einer von ihnen war Ervin Demeter, Staatssekretär für Geheimdienste der Orbán-Regierung. Er verdächtigte die Regierung, nach der Polizei nun auch die Geheimdienste für ihre politischen Zwecke zu missbrauchen. - Die Anschuldigung wird indirekt durch den Beschluss der Regierung unterstützt, den Großteil der Aussagen auf der Sitzung des Ausschusses 80 Jahre lang als geheim einzustufen. Laut Regierungsargumentation berührten diese hingegen die nationale Sicherheit und auch noch andauernde Operationen. Während der Oberkommandant der Budapester Polizei früher jedwede gesetzwidrige Handlungen seiner Kräfte ausgeschlossen hatte, bieten die Videoaufnahmen ein anderes Bild. Über 40 Polizisten wurden anonym angezeigt. Wie sich zudem herausstellte, trugen die Bereitschaftspolizisten beim Einsatz entgegen den Vorschriften nicht ihre Identifikationsnummern.

Aufsehen erregte, dass die Polizei die Krankenhäuser aufgefordert hatte, persönlichen Daten von Verletzten der Auseinandersetzungen auszuhändigen. Die Krankenhäuser waren dazu nicht bereit und wurden in ihrer Haltung vom Parlamentsbeauftragten für Datenschutz unterstützt. Im übrigen wurde gegen 54 Randalierer vom 23. Oktober ein Strafverfahren eingeleitet, weitere 85 werden einem Ordnungsverfahren unterzogen.” (8.11.2006)

Die Bewertung der damaligen Ereignisse geht weit auseinander: während die damals verantwortlichen Regierungsparteien MSZP-SZDSZ darüber am liebsten schweigen oder von "verurteilungswürdigen Einzelfällen", maximal von taktischem Versagen sprechen, sehen die meisten sachlichen Beobachter in dem organisierten Polizei-Angriff auf eine friedliche Demonstration, bei dem wahllos Menschen krankenhaus geprügelt und zum Teil gezielt mit Gummigeschossen in die Augen geschossen worden ist, einen Racheexzess einer überforderten Polizeiführung, die ihren Truppen freie Hand gelassen hat, um sich für die Verletzten in den eigenen Reihen und die Demütigung bei der Belagerung der Fernsehzentrale zuvor zu revanchieren, bei der die Einsatzkräfte einen völlig hilflosen Eindruck machten und tatsächlich in realer Gefahr für Leib und Leben schwebten.

Aus der Geheimniskrämerei bei Aufarbeitung und der Einschaltung der Geheimdienste leiten die heutigen Regierungsparteien Fidesz-KDNP sowie die neofaschistische Jobbik einen übergeordneten Befehl aus höchsten MSZP-Partei- bzw. Regierungkreisen und somit einen Angriff auf das demokratische Grundrecht der Versammlungs- und Meinungsfreiheit ab. Die Vorkommnisse von 2006 wurden seitdem national wie international (auf EU-Ebene, die - liberal verseucht - angeblich zu wenig Empathie für das angegriffene ungarische Volk aufbrachte) dezidiert zur Darstellung des politischen Gegners als Demokratiefeind genutzt. Ja es gibt sogar Behauptungen, die von Vorbereitungen zu einem Militärputsch sprechen, was freilich als Übertreibung anzusehen ist, die allerdings von nicht wenigen Menschen als bare Münze genommen wurde und wird. Im Internet wimmelt es von den üblichen Übertreibungen und Verschwörungstheorien. Auf dem Rücken der wirklichen Opfer wurde von der Rechten und der extremen Rechten ein regelrechter Opfermythos, gemünzt auf das ganze freiheitsliebende Volk, installiert.

 

Fakt ist auch, dass es sich 2006 um die schwersten polizeilichen Übergriffe auf Bürger seit der Wende handelte und zumindest eine Entschuldigung der damals Verantwortlichen bei Polizei und Regierung gegenüber den Opfern bis heute nicht geschehen ist, einzelne Polizisten bereuten ihre Taten jedoch vor Gericht, verwiesen dabei aber auf Befehlsnotstand und Gruppenzwang. Andere rechtfertigen sich bis heute mit Argumenten der Selbstverteidigung, die jedoch in den meisten Fällen durch entsprechendes Material zu widerlegen waren.

Eine sachgerechte Aufarbeitung und Einordnung der Geschehnisse ist durch die Verweigerung der einen wie durch die politische Instrumentalisierung der anderen Seite kaum möglich, wiewohl die Gefahr des Missbrauchs des staatlichen Gewaltmonopols aus politischen Motiven sowie Kumpanei und Vertuschung bei der Aufarbeitung solchen Missbrauchs eine latente und reale ist, wie verschiedene aktuelle Beispiele auch in gefestigten Demokratien, wie z.b. in Spanien, demonstrieren und vor allem in solchen Ländern zur Gefahr wird, wo die Regierungen demokratische und rechtsstaatliche Kontrollinstanzen schwächt oder unter Regierungskontrolle bringt. Denn dort erfährt man nicht einmal mehr etwas vom Missbrauch.

red. / m.s.

 

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