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(c) Pester Lloyd / 07 - 2013   FEUILLETON 11.02.2013

 

Horthy, die Juden, der Minister und sein Onkel

Eine Geschichtsstunde mit dem Wirtschaftsminister von Ungarn

Diesmal ist es keine zweifelhafte ökonomische Weisheit oder eine Frage aus dem weiten Feld der magyarischen Abstammungslehre, die für Aufsehen rund um Nationalwirtschaftsminister György Matolcsy sorgt, sondern eine Äußerung aus dem Bereich der Geschichte. Eine der führenden und - was man in Ungarn dazu sagen sollte - über die Lager weitgehend anerkannte Historiker, Krisztián Ungváry, bezichtigte den Minister der "Geschichtsfälschung". Der Minister weist dies entrüstet zurück. Kein Wunder, seine Haltung ist längst Staatsdoktrin.

Matolcsy schrieb in seiner wöchentlichen Kolumne in der regierungsnahen Zeitung "Heti Válasz", mit der er sonst eher die Finanzmärkte und den Forintkurs atemlos hält, diesmal über ein historisches Thema. Seine zentrale These ist die Tragik, dass "wir (Ungarn) zwischen 1944 und 1956 darin versagt haben, eine Million Juden und Deutsche zu beschützen." Matolcsy hätte sich mit dieser Äußerung dem rechtsnationalen Chor angeschlossen, der versucht, die Verantwortung für den Holocaust allein den deutschen Besatzern zuzuschieben, antwortete ihm darauf der anerkannte Historiker für die neuere ungarische Geschichte, Ungváry, der durch seine so engagierten wie ausgewogenen Beertungen von Trianon bis zu den Stasiakten - nicht nur in Ungarn - bekannt ist.

Der Minister impliziert mit dieser Äußerung, "dass es vor 1944, also vor der Besetzung Ungarns durch die deutschen Nazis, keine Verbrechen an Juden oder anderen Minderheiten gegeben hätte", so Ungváry. "Matolcsy musste klar sein, dass das eine Lüge ist." Das musste ihm umso klarer sein, da sein eigener Onkel, Mátyás Matolcsy, in den 40er Jahren ein Abgeordneter der nazistischen Pfeilkreuzlerpartei war und eine "wichtige Rolle bei der wirtschaftlichen Vernichtung" von Minderheiten spielte, so der Historiker.

Novi Sad 1942. Deutsche Truppen und ungarische Polizeikräfte (siehe der Mann mit der Feder am Hut) nach “getaner Arbeit” im besetzten Gebiet. Die Opfer: Juden und Serben, Staatschef in Ungarn: Horthy.

Was wirklich geschah...

Neben den seit 1920/21 erstmals angewandten, zwischendurch abgeschwächten, aber ab 1936 und dann massiv ab 1937/38 forcierten Quotierungen, Berufsverboten und immer neuen Judengesetzen (siehe die Links zu Originalartikeln aus dieser Zeit aus unserem Archiv), gab es unter Horthy Massaker an Juden (z.B. im besetzen Novi Sad 1942, dort auch an nichtjüdischen Einwohnern), die Errichtung von Ghettos, u.a. in Kassa (ab 1941), aber auch in ländlichen Gegenden im Kernland und es entfaltete sich bereits eine von den Pfeilkreuzlern betriebene Terrorherrschaft gegen Andersdenkende, Minderheiten, sowohl ethnischer wie politischer Natur. Nicht erst seit 1944 trieben ermordete Juden in der Donau.

Dass auch ein hochgeachteter Künstler wie Béla Bartók, weder Jude noch Kommunist, unter der Horthy-Regierung aus politischen Gründen ins Exil ging, weil er dieser nicht zutraute, dem Nazismus zu widerstehen, spricht Bände. Juden und Kommunisten, auch andere Andersdenkende und -glaubende wurden ab 1940 willkürlich in Straf- und Arbeitslager gesteckt, u.a. auch am Don in der Sowjetunion, wo die ungarische Armee seit 1941 (da hatte Horthy der UdSSR im Namen Ungarns den Krieg erklärt) an der Seite der deutschen Wehrmacht kämpfte. Tausende ungarische Zwangsarbeiter starben bereits unter ungarischer Aufsicht beim Aufschütten von Gräben und anderen “Pionierarbeiten”, noch bevor auch die 2. ungarische Armee 1942 - vom Verbündeten und allen guten Geistern im Stich gelassen - dort aufgerieben wurde, was diese Soldaten in den Augen dieser, aber auch der vorhergehenden Regierung zu "Helden" macht. Dass sie nur den Preis für Horthys Kuhhandel mit Hitler zahlten, wird bis heute einfach ignoriert. Einfache, wenn auch logische Erklärungen, die brutale Wahrheit, sind schwerer erträglich als historisierende Verbrämungen am Rande der Verschwörungstheorie.


Die Juden, die Zigeuner, die Linksliberalen.
Der Mechanismus des "nation building" im Ausschlussverfahren,
also durch die Benennung von "Fremdkörpern",
ist in Ungarn gelebte Politik.

Horthy im Weichzeichner

Trotz dieser Bilanz mahnen haupt- wie nebenamtliche Ungarnversteher, man möge Horthy "differenzierter" betrachten. Dass er nicht genauso schlimm war wie Hitler kommt dann dabei heraus. Dass er ein besessener, größenwahnsinniger und vollko,men rücksichtsloser Pokerspieler der Macht war, dessen Einsatz nicht weniger als sein Land und dessen Menschen waren, ist linke Propaganda, ausgewogen ist es hingegen: seinen feinen Stil, seine Anglophilität, seine auch jüdische Bekanntschaft (vornehmlich Banker und Industrielle) zu erwähnen und ja nicht zu vergessen, in welcher schröcklichen Zwangslage sich der arme Mann befunden habe, der zeitlebens nichts anderes wollte, als Ungar aus dem Nazismus herauszuhalten und zu "alter Größe" zurückzuführen.

Doch zurück von alter Größe zu Matolcsy und seinem halbamtlichen Geschichtsbild: Unabhängig von der Frage, ob man die Behandlung der Ungarn-Deutschen mit jener der Ungarn-Juden in einem Atemzug nennen sollte, machen "systematische Vertreibung" (einschl. Enteignung, Straflager etc.) und "totale Vernichtung" doch einen entscheidenden Unterschied aus, den man darstellen sollte, unabhängig also von dieser Vereinfachung, unterstellt die Wahl des Zeitrahmens 1944-1956, dass es überhaupt keine ungarische Schuld an dem Geschehenen gibt: 1944 waren es die Deutschen, danach die Russen und ihre inländischen Vasallen. So einfach ist das.

Eines der berührendsten Holocaust-Mahnmale in Europa: in Eisen nachgebildete Schuhe direkt am Donauufer, in Erinnerung an tausende Juden aus Ungarn, die auch von ihren Landsleuten hier erschossen und in den Fluss getrieben wurden.

Der Minister und seine Partei reagierten erbost auf das Urteil des Historikers Ungváry und bezichtigten ihn, Sippenhaft anzuwenden, man könne doch den Minister nicht für Vergehen in seiner Verwandschaft verantwortlich machen. Das hatte der Historiker zwar auch nicht, sondern anhand des Beispiels nur die geschichtliche “Unwissenheit” Matolcsys illustriert, aber die Erwiderung ist sehr typisch für den Diskurs in Ungarn.

Auch die Geschichtsrealtivierung ist kein neues Phänomen im Lande, mit dieser Regierung jedoch staatstragend geworden, einschließlich Schuldleugnung bzw. verlagerung, Opfermythos, Horthy-Kult und völkischer Übertreibungen (siehe dazu auch die Orbán-Rede in Ópusztaszer sowie die neue “Rassentheologie” der Rechten). Ein Pro-Regierungskommentator der einschlägig bekannten Zeitung "Magyar Hírlap" adelte den Nazi-Onkel gar noch als Opfer, denn er starb 1953 in einem stalinistischen Straflager und im übrigen sei Ungvárys Anmerkung Teil einer "orchestrierten Kampagne" der Linksliberalen, die versuchten, die heutige Regierung mit jener der Horthy-Zeit auf eine Stufe zu stellen.

Die Positionierung zur eigenen Geschichte wird in Ungarn häufig als eine quasi persönliche Angelegenheit genommen, die historische Schuld des Staates als Beleidigung der Nation uminterpretiert und sich davon mit dem Verweis auf selbst erlebte Ungerechtigkeiten reingewaschen. Die Juden, die Zigeuner, die Linksliberalen. Der Mechanismus des "nation building" im Ausschlussverfahren, also durch die Benennung von "Fremdkörpern" ist in Ungarn gelebte Politik und soll als Teil der “nationalen Revolution” eine neue Identität erschaffen. Gleichzeitig erfolgt aus wahltaktischen Überlegungen eine thematische Annäherung an die Themen der neofaschistischen Jobbik.

Budapest, Normafa, dieser Tage. Nazis marschieren im Gedenken an die beim Ausbruch aus der Budaer Burg in den letzten Kriegstagen gefallenen ungarischen Soldaten und ihre deutschen SS-”Kameraden”. Laut Regierung können angeblich Nazis in Ungarn nicht mehr marschieren, sie tun es trotzdem, ebenso die verschiedenen Jobbik-Garden. Mehr zum 9. Februar 2013 in Budapest bei Pusztaranger.

Geschichtsrevisionismus und kontrolliertes Gedenken

Diese also nicht fachlich, sondern sehr politisch geführte und instrumentalisierte Debatte um die ungarische Rolle beim Holocaust wird 2014 aufleben, anlässlich des 70. Jahrestages des Beginns der deutschen Besatzung und der Vernichtung von ca. 600.000 ungarischen Juden, hat die Regierung schon einmal vorsorglich eine offizielle Kommission zur Vorbereitung und entsprechenden Lenkung der Gedenkfeierlichkeiten eingerichtet und auch die Zahlungen an die jüdischen Gemeinden angehoben.

Auf der anderen Seite erhebt der Geschichtsrevisionismus` im Lande immer neue Höhepunkte, neben der Rehabilitierung von antisemtisch bis völkischen Schriftstellern wie Nyirö und Wass durch den Parlamentspräsidenten, die ihn in Israel zur persona non grata machte und die Aufnahme in den Rahmenlehrplan durch das Bildungsministerium, war das die bereits 2011 erfolgte Auswechslung der administrativen und wissenschaftlichen Leitung der Holocaust-Gedenkstätte in Budapest, weil die, nach Ansicht eines Staatssekretärs "unzulässige" Parallelen zwischen Horthys Einmarsch in die Vor-Trianon-Gebiete und den Verbrechen des Nazismus herstellte. Dieser revisionistische Urknall blieb im Westen, Gott weiß warum, weitgehend unbeachtet, womöglich, weil es sich bei den Betroffenen nicht um Jorunalistenkollegen handelte...


Einfache, wenn auch logische Erklärungen, die brutale Wahrheit, sind schwerer erträglich als historisierende Verbrämungen am Rande der Verschwörungstheorie.

 

Federführend bei der Neuinterpretation der jüngeren Geschichte ist nun das "Haus des Terrors" mit einer sogenannten Historikerin Schmidt an der Spitze, die sich sehr viel Mühe damit gibt, den braunen und roten Terror auf die gleiche Ebene zu heben, damit Verantwortlichkeiten im durchgemixten Farbeimer der Geschichte unkenntlich werden. So erkennt auch keiner mehr die neuen-alten Anstriche an den Wänden. Bei Vorträgen und in Aufsätzen wird von Schmidt in subtilen Andeutungen für ein Verständnis für antijüdische Maßnahmen im Horthy-Ungarn geworben (Stichwort: Doppelidentität, kommunistische Gefahr, etliche “Arbeiterführer” waren Juden etc.). Ihre Thesen (an anderer Stelle bediente sie den rechten Lieblingsfetisch, in dem sie die 68er zu den Hauptfeinden des christlichen Abendlandese erklärte) konnte Schmidt übrigens bei einer internationalen Wallenberg-Konferenz an der Diplomatischen Akademie in Wien verbreiten (die ganze Rede gibt es hier in deutscher Sprache).

Angesichts solcher "Experten" verwundert es nicht, dass sich auch ein Nationalwirtschaftsminister bemüßigt fühlt, sich mit ein paar Umdeutungen zu Wort zu melden. Es wäre kein Wunder, wenn die “Historikerin” aus dem Haus des Terrors bald Karriere im Bildungsministerium machte. In den Kinderzimmern ist die “neue Lehre” ohnehin schon angekommen.

red. / m.s.

 

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Recht und Kultur - Über den Numerus Clausus für jüdische Studenten und Lehrkräfte in Ungarn

Leitartikel, Autor unbekannt, 1921

... Ein Magistratsrat unternimmt es, die Schulen der Hauptstadt von destruktiven das heißt jüdischen Elementen zu „säubern“. Erst wurden hundertsechzig Fachlehrer entlassen, dann die Direktoren jüdischer Konfession zu Lehrern degradiert, zuletzt die Professoren der Handelsschulen in die Bürgerschulen versetzt. Die Tendenz ist klar: alle jüdischen Lehrkräfte sollen aus dem Dienst der Hauptstadt vertrieben werden.

ZUM BEITRAG

 

Vom anderen Ufer - Über christliche Jugend und die Juden

Leitartikel, Autor unbekannt, 1936

Wenn aber eine bestimmte Bevölkerungskategorie – trotz der in den Gesetzen verankerten bürgerlichen Rechtsgleicheit – aus der Beamtenschaft des Staates, der Munizipien und der Gemeinden, aus dem Lehrberuf in den Mittelschulen, aus dem richterlichen Dienst praktisch ausgeschlossen ist, so geschieht denen, die jetzt auch noch aus der Privatwirtschaft verdrängt werden sollen, in der sie bloß einen bis dahin leeren Raum eingenommen haben, ein blutiges Unrecht, für das sich keine Rechtfertigung findet.

ZUM BEITRAG

 

Ein Judengesetz in Ungarn

Georg v. Ottlik, 1938

...Das ungarische Judentum geht gewiß den bittersten Zeiten entgegen, die es auf diesem Boden je erlebt hat, seitdem es sich der ungarischen Gastfreundschaft anvertraut hat. Ich zweifle nicht daran, daß es diese harte Probe bestehen wird: es wird nun in der Not und in der Bedrängnis seine Solidarität mit dem gesamten Magyarentum unter Beweis stellen können...

ZUM BEITRAG