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(c) Pester Lloyd / 22 - 2013   POLITIK / WIRTSCHAFT 31.05.2013

 

Von Löchern und Gräben

Ende des Defizitverfahrens für Ungarn: Jubel, Reaktionen, Realitäten und Warnungen

Es war abzusehen, dass Ministerpräsident Orbán auf die Empfehlung der EU-Kommission, sein Land aus dem seit 9 Jahre andauernden Defizitverfahren zu entlassen, in ein Triumphgeheul ausbrechen wird. Erfolgte sie doch just am 3. Jahrestag seines Regierungsantritts. Doch der Zustand der ungarischen Wirtschaft, vor allem aber des sie tragenden und ertragenden Volkes, bietet alles, nur keinen Anlass für Siegesfeiern. EU und OECD und natürlich die Opposition drängen auf mehr Realitätssinn. Ein aussichtsloses Unterfangen?

Premier Orbán am Donnerstag auf einer Konferenz in Budapest mit Ehrengast,
dem spanischen Ex-Premier Aznar, Foto: MTI

Aus dem Loch in den Sonnenschein...

Schon am Donnerstag bestieg Orbán eine passende Bühne, um sich in Zäsarenpose an dem großen Sieg, den er über die EU, denn genauso wird dies dargestellt, errungen hat, zu laben: Ungarn ist "aus dem Loch geklettert, in das es von den Sozialisten gestoßen wurde". Viele erfolgreiche Ideen haben in den letzten drei Jahren letztlich "in den Sonnenschein" geführt, sagte er bei einer von regierungsnahen Instituten organisierten Jubel-Konferenz zum Thema "Nationale Werte - das ungarische Modell". Diese Art Konferenzen mehren sich in letzter Zeit, sie sind Teil der von den Briten ausgehenden Anti-EU-Kampagne von Morgenluft witternden Nationalisten, die letztlich nichts weiter im Schilde führen als die institutionelle Krise der EU zu nutzen, um in ihren Ländern hinfort treiben zu können, was sie wollen. Special guest: José María Aznar, der uneheliche Vater der Desesperados von Spanien und leistungsmäßig ungefähr das iberische Gegenstück zu Ferenc Gyurcsány. Wie passend.

Wir wagten und gewannen...

Wie immer bei solchen Anlässen musste, ja musste, Orbán zu einem Rundumschlag ausholen: seine Regierung habe die "öffentliche Ordnung wiederhergestellt", "niemand kann heute mehr über dem Gesetz stehen" (!), man wende im Rechtsbereich das Prinzip der "Null Toleranz" an. "Klare und transparente verfassungmäßige Werte regieren das Land." Dem entgegen steht die "kommunistische Vergangenheit", die offenbar bis 2010 gereicht hatte, denn "die radikale Zerstörung der Gemeinschaft (...), die Kultur des Neids, die Politik nationler Kleingeistigkeit" war genauso der Grund für den Fall des Kádár-Regimes wie der für den "Untergang der sozialistischen Regierung 2010". "Sie haben das Land bankrott gemacht, sie betrieben ein System, das durch heimische Ressourcen nicht aufrecht zu erhalten war, während man sich von externen Ressourcen abhängig machte. So wurden Kredite aufgenommen und Schulden angehäuft, bis zum finalen Kollaps." "Wir hingegen, begannen 2010 mit dem Aufbau einer Gemeinschaft. (...) Wir wagten und wir gewannen...".

System der gleichen Verteilung der öffentlichen Lasten vollendet...

Ungarn lehne eine Europäische Föderation ab, die "ihre Mitglieder zur Verschmelzung zwingen" wolle. Nichtsdestotrotz wolle man "nicht austreten, sondern an den Debatten teilnehmen." Deshalb steht Ungarn für die Idee des "Europas der Nationen", andernfalls würde "der Kontinent ein Imperium werden", das das gleiche Schicksal erwarte, wie alle Imperien der Historie. Er wiederholte seine These von der Umwandlung der Wohlfarts- in eine Arbeitsgesellschaft, wobei Ungarn hier "europaweit ein Beispiel abgibt", auch, weil man ein "System der gleichen Verteilung der öffentlichen Lasten vollendet" habe, das die Leistung des Einzelnen würdigt.

Viel_versprechend: 9% oder am besten gar keine Einkommenssteuer mehr

An das eigene Volk gerichtet und wohl auch, um seine aus der Verfahrensentlassung interpretierte neue Stärke zu demonstrieren, kündigte Orbán an, die ohnehin schon rekordverdächtig niedrige Flat tax von 16% auf alle Einkommen irgendwann auf 9% senken zu wollen. "Das ist nicht unmöglich", man werde die Staatseinnahmen durch Verbrauchssteuern sicherstellen. Seine "ökonomische Philosophie" strebt letztlich sogar auf gar keine Einkommenssteuern hin, damit nicht Arbeit und Leistung, sondern Verbrauch und Konsum besteuert werden. Das ergibt eine einfache Rechnung: in Summe heißt das, dass die Besserverdiener noch besserverdienender sein werden, während jene, die den größten Teil ihres monatlichen Einkommens für die Existenzgrundlagen aufwenden müssen, weiter darben dürfen, weil sie das, was sie durch niedrige Steuern gewinnen, durch höhere Besteuerung von Waren und Dienstleistungen wieder verlieren.

Ungarn profitiert von einem kleinen Paradigmenwechsel in der EU

Doch, diese Regierung werde auf diesem Weg weitergehen, damit Ungarn auf den eigenen Füßen steht und von eigenen Ressourcen lebt, anstatt vom Geld anderer, weswegen man auch die Kooperation mit dem IWF beendete, da man sich jetzt "selbst finanzieren kann" (gemeint: am freien Markt, aber das ist wohl kein fremdes Geld). Schon jetzt sei sein Land "eine der vielversprechendsten Ökonomien Europas". Das stimmt, versprochen wurde hier sehr viel.

Die Entlassung aus dem EDP, dem Defizitverfahren der EU, bedeutet für Ungarn zunächst einmal den Wegfall der Drohung von Sperrung von EU-Geldern in Milliardenhöhe sowie etwas mehr Manövrierraum. Sie bedeutet keinen Forint mehr für die Bürger und geschah vor allem aus politischen Überlegungen seitens der EU, ein kleiner, aber nicht unwesentlicher Paradigmenwechsel auf Druck der Südländer hat die Fokussierung von einer rein bankenfreundlich gestalteten Sparpolitik, zur Aufrechterhaltung der Zins- und Schuldenzahlungsfähigkeit der Staaten, zu Gunsten einer mehr dem Wirtschaftswachstum zugeneigten Haushaltspolitik ermöglicht. Der soziale Druck im Kessel der EU war zu groß geworden, Ungarn profitiert davon, zumindest vordergründig.
 

 

20 neue Steuern für ein Hallelulja!

Dass Orbáns-Befreiungsfeldzug nicht ganz so ablief und längst nicht die Ergebnisse zeitigte, die behauptet werden, ist an einigen Aspekten schnell erläutert, die sich - teilweise - auch in den Empfehlungen und Warnungen von EU und OECD wiederfinden.

- Ungarn ist, wie jedes andere Land Europas, nicht in der Lage, sich allein zu finanzieren oder von eigenen Ressourcen zu leben, es ist - auch im Vergleich mit seinen Nachbarn - sogar besonders abhängig von der Exportwirtschaft, die wiederum von internationalen Konzernen dominiert wird und damit direkt an der Konjunktur von Euroraum und Weltwirtschaft hängt
- die Abkehr vom IWF kostet das Land ein paar stattliche Milliarden im Jahr, die man sich durch niedrigere Zinsen hätte ersparen können, die Forderungen des IWF beinhalten im wesentlichen ohnehin ausstehende Reformen, die weitergehenden Behauptungen (Streichung Familienbeihilfe etc.) sind - zumindest diesmal - Politlügen gewesen,
- Ungarns Konjunktur hängt in erster Linie vom Export, dem Wetter, EU-Milliarden und dem Forintkurs ab, drei von vier Größen sind dabei völlig unvorhersagbar
- das so gefeierte "Rückggrat", der heimische Mittelstand sowie die Kleinstbetriebe leidet unter einer - wegen übertriebender Sonderbelastungen für Banken zum Teil hausgemachten - Kreditklemme, und scheuen daher Investitionen und Einstellungen oder sind einem korrupten Netzwerk von Klientelpolitik und vervetterter Förderpolitik ausgeliefert
- Industrieproduktion, Binneninvestitionen, BIP-Wachstum schrumpften 2012 in Ausmaßen, die eine Berechnungsgrundlage schufen, die 2013 nur zu einem Wachstum führen kann, es ist nicht real, aber es steht ein Plus vor den Zahlen
- Orbán hat zur Sanierung des Haushalts 20 neue Steuern eingeführt, doch die Staatsschuldenquote ist (wegen des Forintkurses) heute die gleiche wie bei Amtsantritt
- Hunderttausende Mindestlohnempfänger und all jene, die unter dem Durchschnittslohn (Medianeinkommen) ausbezahlt werden, haben real weniger Geld als vor 3 Jahren
- Hunderttausende Forex-Schuldner sehen sich einer kommenden Pleite, inkl. Zwangsversteigerungen und -räumungen ausgesetzt, die Kreditausfallquote liegt mit 19% 6 Punkte höher als 2010, bei Hypothekenkrediten erreicht sie bereits über 26%. Diese Entwicklungen hängen in erster Linie mit fehlenden Arbeitsplätzen zusammen.
- während Armutszahlen steigen, die Abwanderung aus wirtschaftlicher Not oder Perspektivlosigkeit (Studenten) in die Hunderttausende geht, betreibt die Regierung, statt proaktiver Wachstums- und Arbeitsmarktpolitik, ein Kommunales Beschäftigungsprogramm, das an feudale Zeiten erinnert, die Ärmsten werden mit Kartoffel- und Feuerholzspenden bedacht, das
soziale Element wurde abgeschafft.
- Ungarn liegt im Vergleich mit der Slowakei, Tschechien, Polen bei fast allen ökonomischen Kennzahlen zurück, auch der Armutsbericht der EU (wenn auch ein vages Produkt statistischer Einfalt) reiht Ungarn deutlich hinter die regionalen Partner

Und dabei haben wir hier noch kein Wort über die Verfassung, den Rechtsstaat und die demokratischen Kontrollinstanzen verloren...

Orbáns Befreiungskampf ist eine Chimäre

Grob gesagt, rund ein Drittel seiner Ungarn hat Orbán in dem Loch vergessen, dem er entstiegen sein will und bekommt die deutsche Wirtschaft einen Schnupfen oder die Spekulanten Lust ein bisschen mit dem Forint oder gar den Zinsaufschlägen auf Staatspapiere zu spielen und hagelt es etwas länger als sonst auf die Felder, steht Ungarn wieder dort, wo es 2009 lag. Ungarn ist also - ökonomisch - kein Sonderfall, es wurde nur noch schlechter gemanagt, noch mehr missbraucht als die anderen, ganz normalen Länder Mittelosteuropas.

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Orbáns ökonomischer Befreiungsschlag und die behauptete gesellschaftliche Erneuerung ist eine Chimäre, eine wilde Mischung, die zwischen Attac-Träumen, Ulbrichtscher Planwirtschaft, neoliberalem Kahlschlag und Cosa nostra mäandert. Der rhetorische Lärm von der Unabhängigkeit, der Arbeitsgesllschaft, soll den asozialen Ständestaat mit eingebauter Machtzementierung kaschieren, den er nicht nur ökonomisch, sondern auch konstitutionell wie gesamtgesellschaftlich durchgesetzt hat. Im Sinne seiner eigenen Zielsetzung allerdings sehr erfolgreich.

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Reaktionen der Opposition: der Preis ist zu hoch...

Einige Reaktionen der ungarischen Oppositionsparteien weisen ebenfalls auf die strukturellen Ungleichgewichte hin. Grundsätzlich halten die oppositionellen "Sozialisten", die MSZP, die Verfahrensaufhebung (vorbehaltlich der Zustimmung des Rates der Finanzminister im Juni, wegen der EVP-Mehrheit dort reine Formsache), für "eine gute Nachricht", doch sind es "die Armen, die dafür zahlen" müssten. Orbán könne sich nun nicht mehr darauf berufen, dass in "Brüssel die Regeln der Mathematik nicht angewendet werden" oder man "Vorurteilen" und "Doppelstandards" ausgesetzt sei. Allerdings fürchtet die Partei, die nicht unwesentlich für die Anti-EU und Anti-Demokratie-Grundstimmung in Ungarn mitverantwortlich ist, dass das "nahende Wahljahr" die "Ausgabemaschine" der Regierung wieder anwerfen könnte, dann wäre man aber fix wieder in einem Defizitverfahren.

"Millionen in die Armut geschickt..."

Die grün-liberale LMP hofft, dass die EDP-Aufhebung nun die "Sparpolitik der letzten 25 Jahre" beende. Man hätte dieses Ziel jedoch auch erreichen können, ohne "die Bildung, das Gesundheitswesen und die Sozialmaßnahmen ausbluten zu müssen". Orbán hat "für die Aufhebung des Verfahrens Millionen Menschen in Armut geschickt", ein zu hoher Preis, wie LMP-Chef András Schiffer findet.

Die Demokratische Koalition, eine Absplitterung der MSZP um Ex-Premier Gyurcsány, praktisch dem politischen Ziehvater von Orbáns 2/3-Mehrheit, mahnt Orbán, er solle mal nicht so am Rad drehen, die EU-Kommission habe sich nur an einem "simplen Indikator", der Einhaltung der 3%-Defizitgrenze orientiert, Ungarns vorgeblich ökonomische Balance stehe unter wachsender Spannung, es fehle das wichtigste: nachhaltiges Wachstum, außerdem seien fast alle Ressourcen für Entwicklungsprojekte und das soziale Minimum so weit reduziert worden, dass Bedürftige in immer größere materielle Schwierigkeiten kommen.

Ex-Premier Bajnai: Autoritärer Staatskapitalismus mit Korruption als Hauptinstrument

Auch die Mitte-Links-Wahlallianz "Gemeinsam 2014", die wohl hoffnungsvollste Oppositionskraft rund um Ex-Premier Gordon Bajnai, der 2009 Ungarn vor dem Bankrott rettete, jedoch nur kurz Gelegenheit erhielt, die Wirtschaft herum- ohne die Republik einzureißen, kennzeichnet die Wirtschaftspolitik "grausam und inhuman", daher könne von einem Sieg keine Rede sein. "Die Realeinkommen sanken, die Sozialausgaben wurden gekürzt, ganze Schichten wurden verarmt", beklagt Gábor Scheiring von der Allianz und stellt damit in den Raum, dass sich Orbáns "Sanierungskonzept" doch letztlich kaum von den so kritisierten Ansätzen der Neoliberalen abhebt. "Der Preis war zu hoch." konstatiert Scheiring.

Noch deutlicher wurde Orbáns Herausforderer Bajnai. Er sagte bei einer Konferenz seiner Allianz am Donnerstag, Orbán habe einen "autoritären Staatskapitalismus" kreiert, bei der "Korruption" Teil des Systems ist und nicht nur ein Nebenschaden der Marktwirtschaft, sondern "das Hauptwerkzeug" des Systems. Er beruft sich dabei auf aktuelle Skandale, von der "Landnahme" bis zu den "Tabakhandelslizenzen" und verschiedenen öffentlichen Beschaffungsvorgängen rund um Off-Shor-Konstrukte. In Anlehnung an einen prominenten Bestechungsfall unter den Sozialisten, wo ein Vizebürgermeister Kick-back-Zahlungen in einem Nokia-Handy-Karton angenommen haben soll, sagte er: früher nahmen sie dafür Nokia-Kartons, heute benutzen sie schon halbe Traktorenanhänger...

OECD passt Prognose an, aber warnt

Unmittelbar nach der Empfehlung der EU-Kommission an den Rat der Finanzminister, das Defizitverfahren gegen Ungarn aufzuheben, haben die Volkswirtschaftler der OECD die Wachstumsprognose für das Land angehoben. Gegenüber der letzten Prognose im November 2012, bei der man ein BIP von -0,1% für 2013 vorhersagte, geht man nun von einem Plus von 0,5% aus, die Regierung erwartet sich 0,7 bis 1%. Allerdings sieht man in Ungarn latente Gefahren, die zu schlagartigen Einbrüchen führen könnten: die Abhängigkeit von der Exportwirtschaft ist sehr hoch und in den letzten Jahren weiter gewachsen, da praktisch nur ausländische Konzerne der Fertigungsindustrie Investitionen tätigten, zumal "die hohen Unsicherheiten, die Sparvorgaben und das erschütterte Vertrauen schwer auf die Binnennachfrage und die Investitionen" drücken werden. Im Gegensatz zur EU sieht man bei der OECD keine "substantiellen Verbesserungen", der Forint wird als "Hauptrisiko" ausgemacht, vor allem hinsichtlich der Schuldenfalle für Bürger und Kleinunternehmen.

EU hat Zweifel an der Nachhaltigkeit und viele unverbindliche Tipps

Die EU-Kommission hat in einem Atemzug mit der EDP-Aufhebungsempfehlung länderspezifische, aber doch sehr allgemeine Empfehlungen für Ungarn abgegeben. Dabei wird vor allem kritisiert, dass "Korrekturmaßnahmen" am Budget praktisch nur auf der Einnahmenseite erfolgten (es gab zwar auch Sparpakete, meist pauschale Ausgabendeckelungen über die Ressorts, doch die fallen angesichts der Steuererhöungen fast nicht ins Gewicht), daher hege man "Zweifel an der Nachhaltigkeit" der Konsolidierung. Früher, also noch vorige Woche, waren diese Art von Zweifeln noch Grund, das EDP aufrecht zu erhalten...

Ungarns Regierung müsse endlich vom kurzfristigen Denken und dem reinen Reagieren weg, meint die EU, dazu gehöre die Wiederherstllung eines "normalen Kreditumfeldes" (was die Ungarn schon kennen und deshalb nicht mehr wollen...), die "Verbesserung des Geschäftsumfeldes" sei eine "Schlüsselherausforderung". Dazu gehöre auch eine geringere Besteuerung des "Finanzsektors", damit die Banken ihre angefressenen Kreditportfolios sanieren könnten. Ständige Änderungen im Steuersystem und diverse Zusatzsteuern verschrecken Investoren und verhindern Wachstum. Das Steuersystem ist - entgegen den "vielversprechenden" Ankündigungen - weiter zu kompliziert, die Steuerlast für Geringverdiener zu hoch, das "Arbeitsplatzschutzprogramm" müsse "verfeinert" werden, lies: es ist nutzlos. Reformen im Energie- und Transportwesen sind "seit langem verspätet" und daher ein schwerer Hemmschuh für Entwicklung, genauso wie Überregulierungen bei Energiepreisen.

Aufruf an die Vernunft in Zeiten der "Revolution"

Nach wie vor ist auch die niedrige Beschäftigungsrate ein großes Problem in Ungarn, stellt die EU fest. Sie liegt heute offiziell bei rund 57%, drei Punkte höher als vor drei Jahren, allerdings hauptsächlich wegen öffentlicher Beschäftigungsprogramme unter dem gesetzlichen Mindestlohn und der Umdeklarierung von Frührentnern zu Einkommensempfängern, netto verlor das Land binnen eines Jahres rund 50.000 echte Arbeitsplätze, die Regierung feiert aber quasi schon Vollbeschäftigung. Hier legt die EU den Finger in die Wunde: nur höhere Qualifikation, Erwachsenenbildung, der Drang zu einer Wissensgesellschaft und dadurch eine bildungsfreundliche Politik können hier mittel- und langfristig heraushelfen.

Wer die Bildungs- und Arbeitsmarktpolitik der letzten drei Jahre beobachtet hat, erkennt, dass hier nicht weniger als eine komplette Kehrtwende gefordert wird. In Nebensätzen wird die weiter wachsende Armut erwähnt und, dass sie in ohnehin schon benachteiligten Regionen und Gruppen stärker grassiert. Man wundert sich, wie es sein kann, dass es Ungarn rund ein Jahrzehnt lang geschafft hat, die Zahl der vorzeitigen Schulabbrüche zu reduzieren und dieser Trend sich just 2011 umgedreht hat, auch die Hochschulreform benachteilige Kinder weniger begüteteter Eltern deutlich.

"Meine Philosophie ist militärischer Natur"

Die EU-Kommission fordert, freilich ziemlich unverbindlich, die Einbeziehung der Realität in politische Entscheidungsprozesse und eine Aktivierung (zumindest eines minimalen) sozialen Gewissens, bei der Konsolidierung der ungarischen Wirtschaft. Ein echtes Rezept hat sie nicht, sie ist selbst mehr Partient als Arzt, zur Zeit. Stellt man diese Aspekte dem aufbrausenden Jubel Orbáns oben und seinem Konzept der "nationalen Revolution" gegenüber und kalkuliert seinen rachsüchtigen, rechthaberischen Charakter mit ein, wird erkennbar, wie aussichtslos das Unterfangen ist, die ungarische Regierung mit Argumenten der Vernunft und Ausgewogenheit beizukommen. Erst recht, da sie von einem Regierungschef getragen wird, der manisch an seine Vorsehung glaubt, der "beten und arbeiten" als Leitmotiv für sein Land und "ganz Europa" reklamiert und - wie er heute in einer Radiosendung nachschob - dessen "Philosophie militärischer Natur" ist. Wohin er seine "Armee" führen will, ist ungefähr umrissen,
wie lange sie ihm folgt ungewiss. Es wird vielleicht kein Loch, aber ein tiefer Graben sein.

red. / cs.sz. / a.l. / m.s.

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